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E: Per­spek­ti­ve und Optik: Er­zähl­ana­ly­se

Aus­gangs­punkt von Ve­r­eme­js Schreib­pro­zess war – so die Au­to­rin im In­ter­view – ein Fern­rohr, über­haupt das In­ter­es­se für die Me­cha­nik op­ti­scher Ge­rä­te. Die Au­to­rin ver­an­schau­licht die Be­deu­tung die­ser Schrei­b­im­pul­se fol­gen­der­ma­ßen:

Bild von Fernglas

Kom­po­si­ti­on und Foto: Nell­ja Ve­r­emej

 

Die Me­ta­pho­rik des Fern­gla­ses lässt sich in­ter­pre­tie­ren. Es ist auf­fäl­lig, wie stark der Blick der Prot­ago­nis­tin Lena im Roman zu­rück in die Ver­gan­gen­heit reicht, je wei­ter sich Lena räum­lich von die­ser Ver­gan­gen­heit selbst ent­fernt hat. In Ber­lin und damit tau­sen­de Ki­lo­me­ter etwa von Kema ent­fernt, ima­gi­niert sie alle die­je­ni­gen Per­so­nen, wel­che sie in ihrem ju­gend­li­chen Über­schwang ver­las­sen hat. Diese Ebene der Rück­schau ist kon­sti­tu­tiv für den Roman. Sie bie­tet nicht nur jede Menge epi­scher Nar­ra­tio­nen, son­dern auch häu­fi­ge sur­rea­le Per­spek­ti­ven. Das Ent­fern­te wird groß im nar­ra­ti­ven Fern­glas der Prot­ago­nis­tin.

Es lohnt sich, die­sem In­ter­es­se der Au­to­rin an der „Optik“ auf der Ebene der Er­zähl­ana­ly­se nach­zu­spü­ren. Lenas Rück­bli­cke so­wohl be­züg­lich der ei­ge­nen Ver­gan­gen­heit als auch ge­gen­über der Fa­mi­li­en­ge­schich­te von Ulf Seitz lesen sich vor­der­grün­dig auk­to­ri­al. Die Prot­ago­nis­tin hat keine Schwie­rig­kei­ten, auf ein­deu­ti­ge Art und Weise Ver­gan­gen­heit sprach­lich zu ge­stal­ten. An zwei Stel­len des Ro­mans wird die­ser auk­to­ria­le Ges­tus der Prot­ago­nis­tin al­ler­dings hin­ter­fragt: Ein­mal hin­sicht­lich der ima­gi­nier­ten Hel­den­fi­gur des ei­ge­nen Va­ters, über die der Leser erst im fünf­ten Ka­pi­tel ein­schei­den­de ne­ga­ti­ve Sei­ten er­fährt (Schuld am töd­li­chen He­li­ko­pter­ab­sturz; Sei­ten­sprung und Af­fä­re zuvor). Dann über vor­han­de­ne Zwei­fel von Ulf Seitz an der von Lena be­rich­te­ten Klei­nig­keit eines um­ge­kipp­ten Stuhls nach der Ver­haf­tung von Kon­rad Seitz. Lena über­geht Ulf Seitz‘ mas­si­ve In­ter­ven­ti­on, der Stuhl sei­nes Va­ters sei nach des­sen Ver­haf­tung nicht um­ge­kippt. Die­ser Aus­le­gungs­streit lässt sich fol­gen­der­ma­ßen deu­ten: Un­se­re Er­in­ne­rung kann so do­mi­nant sein, dass sie einer Zen­sur der Wirk­lich­keit nahe kommt.

Was die Er­zähl­ge­gen­wart be­trifft, so tritt Lena durch­aus als per­so­na­le Er­zähl­fi­gur auf. Vor allem im Um­gang mit dem Arzt Roman wirkt Lena im hohen Maße un­si­cher, weit ent­fernt von ihrer „auk­to­ria­len Sou­ve­rä­ni­tät“ im ei­ge­nen his­to­ri­sie­ren­den Er­zäh­len. Das Ent­fern­te wird bei Lena groß, das Ge­gen­wär­ti­ge klein. Eine ab­schlie­ßen­de Deu­tung der Ge­gen­wart er­weist sich ja auch weit­aus schwie­ri­ger, als der Ver­gan­gen­heit. In bei­den Er­zähl­va­ri­an­ten – der rück­bli­cken­den wie der ge­gen­wär­ti­gen – bleibt das Motiv des Fern­gla­ses zen­tra­les heu­ris­ti­sches Deu­tungs­mit­tel, wel­ches den Schü­le­rin­nen und Schü­lern das schrift­stel­le­ri­sche „Hand­werks­zeug“ der Au­to­rin ver­mit­teln kann. Die Nähe zur Epo­che der Ro­man­tik, damit auch zur ak­tu­el­len Schwer­punkt­lek­tü­re von Hoff­manns „Der gold­ne Topf“, ist un­über­seh­bar: Dich­tung als Spie­gel der Wirk­lich­keit.

 

Roman: Nell­ja Ve­r­emej: Her­un­ter­la­den [pdf][1022 KB]

 

Wei­ter zu Epi­log: Lena als Figur her­me­neu­ti­schen Ver­ste­hens