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Jean Giraudoux: Electre (1937)

Jean Giraudouxs Electre8 entstand 1937 und wird von manchen Kritikern als Kommentar zur Situation Frankreichs nach dem Wahlsieg der Volksfront 1936 verstanden, indem eine kompromisslos der Wahrheit verhaftete Elektra die Durchsetzung ihrer Prinzipien über das Überleben des von äußeren Feinden (den Korinthern) bedrohten Staates stellt.

Käte Hamburger sieht diesen Text geradezu als Entgegnung auf Sartre. „Denn hier wird Elektra aus dem genau entgegengesetzten Grunde verurteilt als wie bei Sartre.“ (Hamburger, S.71)

Dieses äußerst vielschichtige Werk kombiniert Elemente der Tragödie mit denen der Burlesque, Realistisches und Phantastisches, Symbolisches (z.B. im Bühnenbild9 ) und krude direkt Gesagtes, bezieht sich auf die Orestie, aber auch Euripides (z.B. mit dem Motiv der geplanten Verheiratung Elektras mit einem Gärtner). Der Haupthandlung werden mehrere Nebenhandlungen hinzugefügt, so die um den Gerichtspräsidenten Theokathokles und seine Frau, die die Beziehung Aegisth und Klytämnestra komisch spiegelt, oder die drei Eumeniden, zu Beginn des Dramas kleine, freche Mädchen, die im Verlauf der Handlung altern, bis sie am Ende so alt sind wie Elektra, die das Geschehen kommentieren. Um einen Bettler, der für einen Gotte gehalten wird, entwickelt sich ein weiterer Strang, dieser erläutert, stellt größere Zusammenhänge her und schildert u.a. in einer Art vorausschauender Erzählung oder divinatorischer Mauerschau die Ermordung Klytämnestras und Aegisths, deren Empfindungen und Gedanken er kennt.

Anders als in anderen Fassungen weiß Giraudouxs Elektra nicht, dass ihr Vater ermordet wurde, misstraut aber der Behauptung, Agamemnon sei im Bad ausgerutscht, der Tod also eine Unfallfolge, und vermutet in ihrer Mutter und Aegisth, die ihre Beziehung geheim halten, die Täter. Eine Vermutung, die durch einen seherischen Traum zur Gewissheit wird. Aegisth hat in den hier zehn Jahren seit dem Tod Agamemnons einen Staat etabliert, der auf Vergessen und Verschweigen basiert, in dem leben und leben lassen die grundlegen Prinzipien sind. Den Göttern gelingt es seither nicht mehr, sich in das Dasein der Argiver zu mischen, weil Aegisth dafür gesorgt hat, dass „die einsamen Felsen [auf die sich Dichter und Philosophen zu stellen pflegten, um die Götter um Rat und Eingreifen zu bitten] leer und die Jahrmärkte voll sind“ (318)10 . Er lässt die töten, die gegen diese Prinzipien sind und höhere Mächte anerkennen wollen. Seine Praxis ist so erfolgreich, dass es nur noch „ein Wesen gibt, das den Göttern Zeichen sendet, nämlich Elektra“ (318). Elektra steht für alle hohen moralischen Werte, „Aber durch Gerechtigkeit, Edelmut, Pflichtgefühlt – und nicht etwa durch Egoismus und Bequemlichkeit – zerstört man den Staat, das Einzelwesen und die besten Familien“, wie der Präsident sagt, um die Ehe des Gärtners mit Elektra zu verhindern (S.311), und der schließlich selbst erleben muss, dass die Wahrheit seine Ehe zerstört.

Dieses Argos wird von Feinden bedroht, auch dies ein neues Handlungselement, und um den Staat handlungsfähig zu machen, genügt es nicht, dass Aegisth, der kommissarisch die Staatsgeschäfte führt, die Entscheidungen trifft, sondern es bedarf eines legitimen Königs. Durch die Heirat Aegisths mit Klytämnestra soll dieses Machtvakuum beseitigt werden. An dieser Stelle entsteht der für diese Fassung des Stoffes zentrale Konflikt: Aegisth ersucht Elektra um ihre Zustimmung zur Eheschließung, Elektra will die Wahrheit wissen. Der Anspruch auf Wahrheit und absolute Moral steht so dem pragmatisch notwendigen politischen Handeln gegenüber.

Aegisth: Du erkennst, dass […] Familie, dein Land?

[…]

Elektra: Es gibt nur […] Volk töten können, Elektra. (II,8, S.374-376)

Aegisth scheint nach einem Erweckungserlebnis, das ihm unmittelbar vor dieser Begegnung widerfahren ist, zu einem verantwortungsvollen Staatsmann geläutert, der sogar bereit ist, an der Wahrheitsfindung mitzuwirken. Innerhalb weniger Sätze ringt er sich von einem vagen Schuldeingeständnis („Elektra, ich verspreche dir, dass morgen, sobald Argos gerettet ist, die Schuldigen, falls es Schuldige gibt, für immer verschwinden.“, S. 378) zu einem offenen Bekenntnis durch: „Elektra, am Fuß des Altars, wo wir den Sieg feiern wollen, wird morgen der Schuldige stehen, den (sic!) es gibt nur einen Schuldigen. Öffentlich wird er sein Verbrechen bekennen. Sich selbst wird er die Strafe zumessen. Aber lass mich die Stadt retten!“ (S.379). Aber Elektra bleibt hart. Klytämnestra gibt schließlich zu, Agamemnon gehasst zu haben, und schildert detailreich ihren seit jeher bestehenden Hass gegen ihn, den sie schließlich mit seinem Tick, den kleinen Finger von der Hand abzuspreizen, begründet. Eine „gewöhnliche erotische Aversion“ (Hamburger, S.73) ist Auslöser der Tragödie, womit, wie schon durch die Mischung hoher und niederer Stilelemente die Tragödie relativiert wird. Banalität statt Schicksal und Wahrheit?

Orest, der zwischenzeitlich gefangen genommen und wieder freigelassen worden ist, schreitet schließlich zur Tat. Diese Vorgänge erzählt der Bettler. Aegisth stirbt festgehalten von Klytämnestra, auch wenn er sich von ihr zu lösen versucht, „verzweifelt, daß er als Verbrecher sterben sollte, nachdem alles an ihm rein und heilig geworden war; daß er für ein Verbrechen eintreten sollte, mit dem er nichts mehr zu tun hatte.“ (S.385). Die Stadt geht unter, aber Elektra beharrt auf der Richtigkeit ihrer Position.

Man wird sicher nicht das ganze Drama lesen lassen, aber eine Analyse der letzten Szene, die dann mit dem Schluss von Sartres Die Fliegen verglichen werden kann, lohnt sich allemal.

Un Serviteur: Fuyez, vous autres, […] Cela s’appelle l’aurore.

https://freeditorial.com/en/books/electre

Zweiter Akt, Zehnte Szene

EIN DIENER: Flieht alle, flieht! […] man die Morgenröte.

 

Arbeitsauftrag:

Analysieren Sie die letzte Szene von Jean Giraudouxs Elektra und vergleichen Sie sie anschließend mit dem Schluss von Sartres Die Fliegen.

 

8 Es liegen zahlreiche französische Ausgaben vor und der Text ist auch online verfügbar, allerdings gibt es z.Zt. keine lieferbare deutsche Ausgabe. Die Ausgaben des List Verlags 1959 und des Fischer Verlags 1971 sind nur noch antiquarisch zu erhalten.

9 Der Gärtner: „Der rechte Flügel des Palastes ist aus Findlingen, die zu gewissen Zeiten des Jahres schwitzen. Die Leute in der Stadt sagen dann: der Palast weint. Und der linke Flügel ist aus Marmor von unserem Argos, und ohne daß man weiß warum, füllt er sich plötzlich mit Sonne, selbst in der Nacht. Dann sagen die Leute: der Palast lacht. Augenblicklich geschieht nichts anderes, als daß der Palast zu gleicher Zeit weint und lacht.“ (I,1, S.305). So trägt der Palast, wie Gerhard Goebel sagt: „Eine in Architektur übersetzte tragi-komische Maske also, die noch dazu mit dem tragischen Auge – dem argivischen Marmor – lacht und mit dem komischen Auge – den pierres gauloises – weint.“ (Gerhard Goebel: Jean Giraudoux: Electre. In: Pabst, Walter: Das moderne französische Drama. Berlin 1971, S.131-153, hier S. 142), und versinnbildlicht das Spiel mit Uneindeutigkeiten, die für diesen Text konstitutiv sind.

10 Jean Griraudoux: Elektra. Stück in zwei Akten. Aus dem Französischen von Hans Rothe. In: Theater der Jahrhunderte. Elektra. Hg. von Joachim Schondorff. München, Wien 1965, S. 304-386.

 

Drama: Elektra: Herunterladen [docx][8 MB]

 

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