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In­ter­textua­li­tät

Die Lek­tü­re und der Ver­gleich der Elek­tra-Fas­sun­gen haben ge­zeigt, dass der Stoff sehr un­ter­schied­lich be­ar­bei­tet wor­den ist, dass die Texte un­ter­schied­li­che Schwer­punk­te set­zen und of­fen­sicht­lich ver­schie­de­ne In­ten­tio­nen ver­fol­gen. Dabei haben die Au­to­ren nicht nur auf den My­thos Bezug ge­nom­men, son­dern die jün­ge­ren Au­to­ren kann­ten si­cher den Text von Ais­chy­los.

Phä­no­me­ne der Ein­fluss­nah­me von Tex­ten auf an­de­re Texte, die Ab­hän­gig­keit eines Tex­tes von einem an­de­ren, wird mit dem Be­griff In­ter­textua­li­tät be­zeich­net.

In­ter­textua­li­tät im en­ge­ren Sinn:

Der Be­griff In­ter­textua­li­tät ist aber nicht so ein­deu­tig, wie er auf den ers­ten Blick er­scheint. Zum einen meint In­ter­textua­li­tät, dass ein Text sich in ir­gend­ei­ner Weise, be­wusst oder un­be­wusst auf einen oder meh­re­re Prä­tex­te oder auf Grup­pen von Prä­tex­ten (z.B. indem ein Text einer be­stimm­ten Gat­tung an­ge­hört) be­zieht und damit eine Ver­bin­dung zwi­schen Prä­text und Hy­per­text oder Ge­no­text und Phä­no­text, also dem Text, der Ein­fluss auf einen üb­li­cher­wei­se spä­te­ren nimmt, und den Text, der ei­gent­lich im Fokus steht, her­stellt. Da das Ver­hält­nis, in dem die bei­den (oder meh­re­re) Texte ste­hen, sehr ver­schie­den sein kann, gibt es viele Ver­su­che, diese Un­ter­schied­lich­keit be­griff­lich zu fas­sen. So spricht man von Quel­le und von Ein­fluss, Zitat und An­spie­lung, von Par­odie oder Tra­ves­tie, von Imi­ta­ti­on, von Ad­ap­ti­on oder von Über­set­zung.

Mit der Er­kennt­nis, dass Texte auf­ein­an­der Bezug neh­men bzw. dass die Le­seer­fah­rung von Au­to­rin­nen und Au­to­ren Ein­fluss hat auf deren ei­ge­ne Text­pro­duk­ti­on, lässt sich in einem zwei­ten Schritt schlie­ßen, dass Texte nicht aus dem Nichts ge­schaf­fe­ne Kunst­wer­ke sind, son­dern in einem Ge­fü­ge von vie­len Tex­ten ste­hen. So ist es nicht nur in­ter­es­sant, zu un­ter­su­chen, auf wel­che Texte sich eine Au­to­rin oder ein Autor be­zieht, ob die Struk­tur oder nur ein­zel­ne Mo­ti­ve über­nom­men wur­den, ob wört­lich zi­tiert oder auf einen an­de­ren Text nur an­ge­spielt wird, ob das über­nom­me­ne Ele­ment ernst ge­nom­men oder iro­ni­siert oder in an­de­rer Weise ver­frem­det wird, ob ein Be­zugs­text ex­pli­zit ge­nannt wird oder ob eine Au­to­rin oder ein Autor den Text nicht nennt und die Le­se­rin oder der Leser die Be­zug­nah­me nur dann be­merkt, wenn der ver­wen­de­te Text zur ei­ge­nen Le­ser­bio­gra­phie ge­hört und der Ein­fluss vom Le­sen­den er­kannt wird, son­dern neben dem rei­nen Be­nen­nen und Be­schrei­ben der ge­fun­de­nen Be­zü­ge ist vor allem in­ter­es­sant, zu be­trach­ten, wie mit dem Prä­text bzw. den Prä­tex­ten um­ge­gan­gen wor­den ist, wel­che Fol­gen die Be­zug­nah­me für Prä­text und Hy­per­text hat, und damit diese Phä­no­me­ne der In­ter­textua­li­tät zu in­ter­pre­tie­ren. Schließt sich ein Autor oder eine Au­to­rin der zi­tier­ten Po­si­ti­on an? Wird der an­de­re Text be­nutzt, um den ei­ge­nen auf­zu­wer­ten? Wird der Prä­text kri­tisch auf­ge­nom­men, par­odiert, in sein Ge­gen­teil ver­kehrt? Warum wird über­haupt auf einen an­de­ren Text, einen Stoff, eine Gat­tung Bezug ge­nom­men?

Ge­ra­de beim Rück­griff auf einen My­thos kann ein Autor oder eine Au­to­rin vor­aus­set­zen, dass er in den Grund­zü­gen be­kannt ist, und er­reicht damit bei den Re­zi­pi­en­ten, dass sie sehr genau wahr­neh­men, wel­che Ele­men­te auf­ge­nom­men, wel­che ver­än­dert und wel­che hin­zu­ge­fügt wur­den. Der Re­zep­ti­ons­pro­zess ist also ganz an­ders als bei Neu­schöp­fun­gen, also Tex­ten, die sich nicht auf tra­dier­te My­then be­zie­hen, son­dern ei­ge­ne Ge­schich­ten er­zäh­len und nicht auf die zwangs­läu­fig ent­ste­hen­de Span­nung zwi­schen Prä­text und Fol­ge­text bauen kön­nen.

Uni­ver­sa­ler In­ter­text:

Die zwei­te Be­deu­tung, die der Be­griff In­ter­textua­li­tät hat, ist ein sehr viel all­ge­mei­ne­rer. Er lei­tet sich her aus der schon oben er­wähn­ten Er­kennt­nis, dass kein Text ein aus dem Nichts ge­schaf­fe­nes Ori­gi­nal­werk ist, son­dern Texte sich immer aus der Le­seer­fah­rung ihrer Au­to­rin­nen und Au­to­ren spei­sen und immer, sei es be­wusst oder, was si­cher noch viel häu­fi­ger der Fall ist, un­be­wusst zu zahl­rei­chen an­de­ren Tex­ten und ihren je­wei­li­gen Sinn­sys­te­men in Be­zie­hung ste­hen. So sagt Julia Kris­t­e­va, die die­sen all­ge­mei­nen Be­griff von In­ter­textua­li­tät ge­prägt hat, „jeder Text baut sich als Mo­sa­ik von Zi­ta­ten auf, jeder Text ist Ab­sorp­ti­on und Trans­for­ma­ti­on eines an­de­ren Tex­tes. An die Stel­le des Be­griffs der In­ter­sub­jek­ti­vi­tät tritt der Be­griff der In­ter­textua­li­tät“ (Kris­t­e­va, S.348). Nicht mehr das schrei­ben­de Sub­jekt ist ent­schei­dend, son­dern der Zu­sam­men­hang der Texte un­ter­ein­an­der. So kommt Ro­land Barthes zu dem Schluss: „Der Text ist ein Ge­we­be von Zi­ta­ten aus un­zäh­li­gen Stät­ten der Kul­tur. […] der Schrei­ber [kann] nur eine immer schon ge­sche­he­ne, nie­mals ori­gi­nel­le Geste nach­ah­men. Seine ein­zi­ge Macht be­steht darin, die Schrif­ten zu ver­mi­schen und sie mit­ein­an­der zu kon­fron­tie­ren, ohne sich je­mals auf eine ein­zel­ne von ihnen zu stüt­zen.“ (Ro­land Barthes, S.190) Sei­ner Mei­nung nach kann der Text nicht mehr ent­zif­fert, son­dern nur noch ent­wirrt wer­den, d.h. er kann nicht in­ter­pre­tiert, ihm kann nicht ein von einem Autor in­ten­dier­ter Sinn zu­ge­wie­sen wer­den, weil die Ei­gen­dy­na­mik der Text­be­zü­ge sich den Ge­stal­tungs­mög­lich­kei­ten des Au­tors ent­zieht, sie immer wie­der kon­ter­ka­rie­ren muss, son­dern er kann nur als Kon­strukt wahr­ge­nom­men und seine Be­stand­tei­le nä­he­rungs­wei­se er­kannt wer­den. Damit be­kommt der Leser eine viel wich­ti­ge­re Funk­ti­on, denn der Text ent­steht im Le­se­pro­zess. So sagt Barthes: „Die Ein­heit eines Tex­tes liegt nicht in sei­nem Ur­sprung, son­dern in sei­nem Ziel­punkt – wobei die­ser Ziel­punkt nicht mehr län­ger als eine Per­son ver­stan­den wer­den kann. Der Leser ist ein Mensch ohne Ge­schich­te, ohne Bio­gra­phie ohne Psy­cho­lo­gie. Er ist nur der Je­mand, der in einem ein­zi­gen Feld alle Spu­ren ver­ei­nigt, aus denen sich das Ge­schrie­be­ne zu­sam­men­setzt.[…] Die Ge­burt des Le­sers ist zu be­zah­len mit dem Tod des Au­tors.“ (Barthes, S.192f.)

 

  1. De­fi­nie­ren Sie in ei­ge­nen Wor­ten die bei­den hier vor­ge­stell­ten Be­grif­fe von In­ter­textua­li­tät.
  2. Stel­len Sie die hier for­mu­lier­ten Be­zie­hun­gen von Tex­ten un­ter­ein­an­der und die Be­zie­hun­gen von Autor, Text und Leser*in gra­fisch dar.

 

Drama: Elek­tra: Her­un­ter­la­den [docx][8 MB]

 

Wei­ter zu Hugo von Hof­manns­thal: Elek­tra