B: Protagonistin Lena und Protagonist Ulf Seitz: Das Berlin der Gegenwart und Vergangenheit
Lena erreicht die Stadt Berlin 1990 als junge Mutter, zusammen mit ihrer noch in St. Petersburg geborenen Tochter Marina und ihrem damaligen Mann, Schura. Sie bringt als russische Aussiederlin keine eigenen Erinnerungen an Berlin mit. Die Stadt bedeutet für sie und ihre junge Familie den Inbegriff des paradiesischen Westens. Dementsprechend stolz ist Lena, weil sie sich diese Stadt ihrer Westträume als Lebensmittelpunkt quasi erobert hat.
Die Autorin Nellja Veremej gelingt das Kunststück, die Vergangenheit Berlins an den zweiten Protagonisten zu knüpfen und darüber zu konkretisieren. Ulf Seitz, Lenas „Pflegefall“, lebt in der Torstraße. Lena rekonstruiert dessen Lebensgeschichte im Roman auf narrative Weise, und das von Kindheit an. Das Berlin der 1920er-Jahre blitzt über eine Referenz an Döblins Roman kurz auf. Die Zeit des Nationalsozialismus ist eng verknüpft mit der Verhaftung des Vaters, Konrad Seitz, eines Widerstandskämpfers. Der Zusammenbruch der NS-Herrschaft in Berlin im Mai 1945 wird gekoppelt an das Leiden von Elsa Seitz, der Mutter von Ulf Seitz. Mit der Schilderung des Ehe- und Familienlebens von Ulf und Dora Seitz, zusammen mit Sohn Marius, nehmen die Alltags- und Lebensbedingungen in der DDR ab 1959 Konturen an.
Das Zusammenspiel der unterschiedlichen Berlin-Stationen in historischer und gegenwärtiger Perspektive ist durchaus kontrastreich. Es gibt das Berlin der „kleinen Leute“ und Migranten, aber auch das Berlin der Zugezogenen wie des Arztes Roman aus München, in den sich Lena kurzfristig verliebt. Ulf Seitz wiederum identifiziert sich stark mit dem Berlin des Klassizismus. Nellaj Veremej hat zwei Bilder ausgesucht, die exemplarisch für das Berlin der Protagonistin Lena sowie des Protagonisten Ulf Seitz stehen können:
Im Gespräch mit der Autorin wird deutlich, wie beeindruckt Nellaj Veremej von Berlin als interkultureller Begegnungsort mit und ab der Aufklärung ist. Die Begeisterung von Ulf Seitz für das Berlin des Klassizismus weist in diese Richtung. Sie ist nicht als Referenz an den Aufstieg Preußens zur europäischen Großmacht lesbar. Die gesamte Biografie von Ulf Seitz steht dem entgegen.
Insgesamt fügen sich die personifizierten Berlin-Bilder durchaus kontrastreich zusammen. Lena und Ulf Seitz stehen nicht nur für Vergangenheit sowie Gegenwart, sondern auch für Aktivität und Passivität. Während Ulf Seitz sein Kindheitsviertel nicht verlassen hat, wird über die Protagonistin Lena eine Lebensreise rekonstruiert, die weit über den Ural hinaus reicht: Vom äußersten Osten bis nach Berlin.
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