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D: In­ter­textua­li­tät: Dö­blins Roman und Cha­mis­sos Er­zäh­lung

Li­te­ra­tur bil­det für Nell­ja Ve­r­emej den „Humus“, ohne den sie nicht schrei­ben könne6. Das „zer­le­se­ne“ Ex­em­plar von Dö­blins „Ber­lin Alex­an­der­platz“, wel­ches Ulf Seitz m Roman be­sitzt, ist in­ter­pre­tier­bar. Die Au­to­rin be­nutzt im In­ter­view das an­schau­li­che Bild eines Bu­ches, aus dem ein neues Buch wach­sen könne. Nie­mand, so Ve­r­emej im per­sön­li­chen In­ter­view, schrei­be in der Leere; zen­tral für sie als Au­to­rin sei das „Ge­spräch“ mit an­de­ren Tex­ten. Sinn­bild die­ser schrift­stel­le­ri­schen Her­an­ge­hens­wei­se mag fol­gen­de Kom­po­si­ti­on aus ei­ge­nen Ma­nu­skript­sei­ten und Re­fe­renz­ro­man sein, wel­che Nell­ja Ve­r­emej der ZPG Li­te­ra­tur freund­li­cher­wei­se zur Ver­fü­gung ge­stellt hat:

 

Bild von Buch

Nell­ja Ve­r­eme­js Ma­nu­skrip­te zu „Ber­lin liegt im Osten“, zu­sam­men mit einem per­sön­li­chen Ex­em­plar von Dö­blins be­rühm­ten Roman der Au­to­rin – Foto: Nell­ja Ve­r­emej

 

Tat­säch­lich ver­knüpft Nell­ja Ve­r­emej Dö­blins be­rühm­ten Ber­lin-Roman auf der Fi­gu­renebe­ne mit der Hand­lung von „Ber­lin liegt im Osten“: Kon­rad Seitz, der Vater von Ulf Seitz, sei von Dö­blin bei sei­nem Sprung von der Stra­ßen­bahn li­te­ra­risch ver­ewigt wor­den. Die Text­stel­le im Ori­gi­nal:

„Als Kon­rad Seitz das Buch [Ber­lin Alex­an­der­platz] las, er­kann­te er sich in der Figur wegen der zwei gel­ben Pa­ke­te wie­der, mit denen er tat­säch­lich ein­mal von der 41 ab­ge­sprun­gen war. Der Vor­fall hatte sich sie­ben Jahre vor Ulfs Ge­burt er­eig­net. Als Klein­kind wurde ihm die Ge­schich­te oft er­zählt, ihm wurde sogar die Stel­le an der grau­en Jacke des Va­ters ge­zeigt, wo die Drosch­ken­rä­der die zwei Knöp­fe ab­ge­ris­sen haben. An den bei­den ge­flick­ten Stel­len wuch­sen spä­ter cham­pi­gno­n­ähn­li­che neue Me­tall­knöp­fe.“

Nell­ja Ve­r­emej, Ber­lin liegt im Osten. Ber­lin: Auf­bau-Ver­lag, 2015. S. 47.

Die in­ter­tex­tu­el­le Ver­flech­tung von Dö­blins Roman mit „Ber­lin liegt im Osten“ ist auf der Mo­tive­be­ne eng, und geht über den ge­mein­sa­men Schau­platz „Alex“ weit hin­aus. PD Dr. Hans- Joa­chim Hahn er­ar­bei­tet zahl­rei­che vor­han­de­ne Par­al­le­len in sei­nem Modul. An die­ser Stel­le nur so viel: Ve­r­emej nimmt in Ulf Seitz die Per­spek­ti­ve des klei­nen Man­nes ein, weder gut noch schlecht. Dö­blins Au­ßen­sei­ter-The­ma­tik wird in „Ber­lin liegt im Osten“ fa­cet­ten­reich auf­ge­grif­fen, ei­ner­seits über Ulf Seitz und des­sen Rolle als Au­ßen­sei­ter ab und mit der Wende, an­de­rer­seits über Lena und ihre Ge­schich­te der Mi­gra­ti­on. Zen­tral bleibt das Bild Ber­lins, wel­ches in Ve­r­eme­js Roman weit­aus po­si­ti­ver er­scheint als bei Dö­blin.

Auf die Be­zü­ge von Ve­r­eme­js Roman zur Epo­che der Ro­man­tik wurde schon hin­ge­wie­sen. Das Motiv der „Sie­ben­mei­len­stie­fel“ schlägt einen Bogen zu Cha­mis­so, auch zu Tiecks „Der ge­stie­fel­te Kater“. In der Fik­ti­on des Ro­mans be­geg­net Lena Cha­mis­sos Er­zäh­lung „Peter Schle­mihls wun­der­sa­me Ge­schich­te“ als ju­gend­li­che Le­se­rin im Kau­ka­sus. Lena ver­steht als Kind das Motiv des Schat­tens nicht; erst als Er­wach­se­ne glaubt sie sich reif genug, dem Ge­heim­nis des Schat­tens auf der Spur zu sein.

„Für einen Au­gen­blick sehe ich mich und meine Ber­li­ner Woh­nung aus der Per­spek­ti­ve der da­ma­li­gen Zeit, und ich spüre einen zar­ten Glücks­stich im Her­zen. Der ‚Schle­mihl‘, den ich jetzt in Hän­den halte, ist nicht der Glei­che, dem ich als Kind be­geg­ne­te. Er wuchs und reif­te mit mir, jetzt spre­chen wir auf einer Au­gen­hö­he. Ich lese schnell, ich glau­be, dem Ge­heim­nis des Schat­tens auf der Spur zu sein. Warum hat Cha­mis­so den Hel­den sei­ner Ruhe be­raubt? Was war es, was er mit den Ein­hei­mi­schen nicht tei­len konn­te? Die Kin­der­lie­der? Die Spra­che der Mut­ter? Die Feste der Väter?“

Nell­ja Ve­r­emej, Ber­lin liegt im Osten. Ber­lin: Auf­bau-Ver­lag, 2015. S. 79-80.

Tat­säch­lich wird die Al­ten­pfle­ge­rin Lena als Hü­te­rin der Schat­ten ihrer „Kun­den“ dar­ge­stellt; sie ist es, wel­che die schwin­den­den Schat­ten der alten Men­schen auf­zu­fan­gen, damit zu be­wah­ren ver­sucht7. Diese exis­ten­ti­el­le Be­deu­tung des Schat­ten­mo­tivs bil­det eine Brü­cke zur Re­kon­struk­ti­on von Her­kunft und fa­mi­liä­rer Iden­ti­tät. Dar­über wird das große In­ter­es­se kon­kre­ti­sier­bar, das Lena so­wohl ihrer ei­ge­nen Fa­mi­li­en­ge­schich­te als auch der Fa­mi­li­en­ge­schich­te von Ulf Seitz ent­ge­gen bringt: Wel­chen per­sön­li­chen Schat­ten tra­gen wir mit uns? Aber auch die öko­no­mi­sche Di­men­si­on von Cha­mis­sos Er­zäh­lung ist als Deu­tungs­ebe­ne vor­han­den. Wer sei­nen Schat­ten für Geld ver­kauft, op­fert seine Seele dem Ka­pi­tal. Wie­der­holt stellt sich Lena die ka­pi­ta­lis­mus­kri­ti­sche Frage, wie sehr sie sich für die pe­ku­niä­ren Ver­hei­ßun­gen des Wes­tens hat kor­rum­pie­ren las­sen.

 

6 Per­sön­li­ches Te­le­fon­in­ter­view mit der Au­to­rin, 02.07.2020. Hans-Mar­tin Blitz.

7

 

Roman: Nell­ja Ve­r­emej: Her­un­ter­la­den [pdf][1022 KB]

 

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