Kapitel 9: Romanenden – Darstellungen des Sterbend und des Todes
9.1 Madame Bovary
Vorbemerkung
Im Genre des Romans ist das Ende durch den Tod der Protagonisten eine klare Sache. Der Roman findet einen Schluss – es bleibt kein offenes Ende, das den Leser gar vor unbeantwortbare Fragen stellt.
„Impersonalité“ gilt als neue Erzähltechnik und wichtigstes künstlerisches Prinzip des realistischen Schreibens bei Flaubert.
Flaubert schrieb dazu: „L’illusion [...] vient [...] de l’impersonnalité de l’oeuvre. C’est un de mes principes, qu’il ne faut pas s‘écrire.”
Die Modernität der Madame Bovary beruht auf dem „Verzicht auf eine klare Identifikation der Erzählerinstanz im Erzählen. Flaubert bringt „den Autor“ zum Verschwinden. [...] Flaubert [...] ersetzt den „auktorialen Stil“, in welchem der Erzähler so tut, als wäre er allwissend, als könne er ebenso gut in die „Seele“ seiner Figuren blicken wie Zukünftiges voraussehen und Vergangenes erinnern, durch eine plurale Perspektivik, welche die Romanhandlung aus der Sicht der an ihr beteiligten Figuren wahrnehmen lässt. Und dies wird bewertet als Zugewinn an Authentizität, als Nähe zur Objektwelt, als Voraussetzung einer „realistischen“ Sicht der Wirklichkeit.“3
Das Sterben Emma Bovarys
📖 Dritter Teil, Kapitel VIII, S. 408: Sie setzte sich an ihren Sekretär und schrieb einen Brief, den sie langsam versiegelte, während sie noch Datum und Uhrzeit hinzufügte. [...]→ ... S. 421 Ein Krampf warf sie auf die Matratze. Alle traten heran. Sie lebte nicht mehr.
Arbeitsauftrag:
Wie wird der Tod Emma Bovarys geistig, seelisch und körperlich dargestellt? Analysieren Sie die Erzählperspektiven und erläutern sie deren Wirkung auf den Leser.
Hinweis: Der Tod wird dem Leser direkt und indiskret vor Augen geführt. Sowohl aus der Fernsicht als auch aus nächster Nähe kann das Sterben Emma Bovarys mitverfolgt werden. Durch die Ansprache aller Sinne (dem Hören, Sehen und Schmecken) wird das Sterben zu einem synästhetischen Miterleben. Jede Zuckung, jeder Schrei im Todeskampf wird detailliert beschrieben. Mit medizinischer Genauigkeit und dennoch kunstvoll-ästhetisch wird der Prozess des Sterbens dargestellt. Die „Ungeheuerlichkeit“ des Todes besteht darin, dass nicht in Leiden und Verstehen vorgeführt wird, sondern nur noch gesehen wird.
9.2 Das Sterben Anna Kareninas
📖 Siebter Teil, Kapitel XXXI, S. 1152: Da fiel ihr plötzlich der überfahrene Mann vom Tag ihrer ersten Begegnung mit Wronski ein, und sie wusste, was sie zu tun hatte. [...]→ ... S. 1153 Und die Kerze, in deren Licht sie das von Unruhe, Trug, Kummer und Übel erfüllte Buch gelesen hatte, flackerte auf, heller denn je, erhellte ihr alles, was zuvor in Finsternis gelegen war, knisterte, wurde schwächer und erlosch für immer.
📖 Erster Teil, Kapitel XVIII, S. 102: „Was? ... Was? ... Wo? ... Hat sich vor den Zug gestürzt! Wurde totgefahren!“ war von den Vorübereilenden zu hören. [...]→ ... S. 104 „Ein böses Vorzeichen“, sagte sie.
Arbeitsauftrag:
Wie wird der Tod Anna Kareninas geistig, seelisch und körperlich dargestellt? Analysieren Sie die Erzählperspektiven und erläutern sie deren Wirkung auf den Leser.
Vergleichen Sie abschließend die Sterbeszenen aus Emma Bovary und Anna Karenina.
9.3 Das Sterben Effi Briests
Die Figuren halten an veralteten Ritualen und erstarrten gesellschaftlichen Konventionen fest. So duellierte Innstetten nicht aus innerer Befindlichkeit, sondern aus unreflektiertem Festhalten an (bereits überholten) gesellschaftlichen Konventionen. Die Figuren haben nicht die Möglichkeit, selbstverantwortlich zu handeln. Für Effi folgt daraus Vereinsamung und Resignation. Effi stirbt versöhnt mit sich und ihrem Schicksal im Glauben an ein letztlich doch gerechtes gesellschaftlich Höheres.
📖 Sechsunddreißigstes Kapitel
S. 329 Z. 22-35: Und ehe die Uhr noch einsetzte, stieg Frau von Briest die Treppe hinauf und trat bei Effi ein. [...]→ ... Ein Gefühl der Befreiung überkam sie. « Ruhe, Ruhe. »
Arbeitsauftrag:
Lesen Sie die Todesszene des Romans Effi Briest. Wie ist sie im Vergleich zu den Szenen in Madame Bovary und Anna Karenina gestaltet? Wie wirkt sie auf den Leser?
Welche Fragen werfen diese Romanenden trotz aller Klarheit (Tod der Protagonistinnen und somit Ende der Handlung) auf? Diskutieren Sie diese.
Hinweis: Alle Titelfiguren sterben – das Sterben unterscheidet sich in der Art. Emma Bovarys und Anna Kareninas Tod liegen in der Folge ihres Lebens. Für Effi Briest muss das so nicht gelten: sie hätte als gefallene Frau weiterleben können und würde damit das Schicksal mit vielen Frauen ihrer Zeit teilen.
Ist der Tod als Strafe der Frauen für den Ehebruch zu verstehen? Die Tragik des Todes fordert beim Rezipienten die Frage der Schuld. Inwiefern tragen die Frauen eine Mitschuld an ihrem Schicksal? Sind sie als Ehebrecherinnen Familienzerstörerinnen? Inwieweit treibt die Gesellschaft, die Moral der Zeit sie in den Tod?
9.3.1 Exkurs: Der historische Hintergrund zu Fontanes Effi Briest: Die Ardenne-Affäre
Die Ehebruchsaffäre der Elisabeth Freifrau von Ardenne, geb. von Plotho aus den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts verarbeitete Fontane in seinem Roman Effi Briest. Informieren Sie sich z. B. im Materialteil einer Textausgabe darüber.
Arbeitsauftrag:
Vergleichen Sie den Fall der Ehebruchsaffäre der Elisabeth Freifrau von Ardenne mit dem Roman Effi Briest. Wie verarbeitete Fontane die tatsächliche Ehebruchsaffäre zu seinem Roman? Worin besteht hier sein Realismus-Konzept?
3 aus: Christoph Miething: Drei Frauen, drei Romane, dreimaliger Tod. In: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur, 3. Heft, Berlin 1994, S. 342f.
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