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Pro­jekt Py­tha­go­ras: An­la­ge der Stu­die

In­fo­box

Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

Ich be­gin­ne mit ei­ni­gen Er­geb­nis­sen aus einem von der Deut­schen For­schungs­ge­mein­schaft ge­för­der­ten For­schungs­pro­jekt, das über sechs Jahre lang Teil des Schwer­punkt­pro­gramms „Bil­dungs­qua­li­tät von Schu­le“ war [1] , und das ich ge­mein­sam mit Kol­le­gen und ei­ni­gen Mit­ar­bei­tern der Uni­ver­si­tät Zü­rich durch­ge­führt habe. Ir­gend­wann haben wir ihm den schö­nen Namen „Pro­jekt Py­tha­go­ras“ ge­ge­ben, weil wir über ein Schul­jahr hin­weg Ma­the­ma­tik­un­ter­richt un­ter­sucht haben: Mit Be­fra­gun­gen und Tests, in denen wir das Vor­wis­sen am An­fang des Schul­jah­res und die Leis­tung am Ende des Schul­jah­res, aber auch die In­ter­es­sen­ent­wick­lung und Hin­ter­grund­va­ria­blen, wie z. B. so­zia­le Her­kunft, er­ho­ben haben.

Das Be­son­de­re die­ser Stu­die war, dass im Laufe des Schul­jah­res in jeder der 40 be­tei­lig­ten Klas­sen zwei Un­ter­richts­ein­hei­ten mit je­weils zwei bis drei Stun­den zum Thema „Ein­füh­rung in die Satz­grup­pe des Py­tha­go­ras“ vi­deo­gra­phiert wur­den. Wir haben die Lehr­kräf­te ge­be­ten, uns genau dann zu rufen, wenn sie mit die­ser Satz­grup­pe an­fan­gen, weil wir wis­sen, dass die Satz­grup­pe des Py­tha­go­ras ein neur­al­gi­scher, aber auch ein be­son­ders in­ter­es­san­ter Punkt aus der Schul­ma­the­ma­tik ist, so­wohl vom fach­li­chen als auch vom fach­di­dak­ti­schen Stand­punkt aus ge­se­hen. Es ist der Punkt, an dem sich Al­ge­bra und Geo­me­trie am Deut­lichs­ten ver­knüp­fen, und des­halb braucht man so­wohl al­ge­brai­sche als auch geo­me­tri­sche Vor­aus­set­zun­gen. Es ist der Punkt, an dem dann ty­pi­scher­wei­se auch ein Be­weis ge­führt wird, wenn er nicht schon vor­her z. B. beim Ba­sis­win­kel­satz ein­ge­führt wurde. Spä­tes­tens beim „Py­tha­go­ras“ muss man an Gym­na­si­en und Re­al­schu­len einen Be­weis brin­gen. Und genau das woll­ten wir auch sehen. Wir haben die Leh­re­rin­nen und Leh­rer ge­be­ten, in ihren zwei bis drei Un­ter­richts­stun­den min­des­tens einen Be­weis un­ter­zu­brin­gen. Da­durch haben wir eine Ver­gleichs­chan­ce, die man in an­de­ren Vi­deo­stu­di­en nicht hat; in an­de­ren Vi­deo­stu­di­en wurde mehr oder we­ni­ger Zu­fäl­li­ges auf­ge­nom­men wurde, so etwa bei TIMSS.

Un­se­re Stich­pro­be be­stand aus 20 deut­schen Klas­sen und 20 Schwei­zer Klas­sen un­ter­schied­li­cher Jahr­gän­ge (8. und 9. Klas­sen). Uns war wich­tig, dass die The­men auch im Cur­ri­cu­lum auf­tauch­ten; wir kon­trol­lier­ten stets et­wai­ge Un­ter­schie­de zwi­schen den Län­dern, ach­te­ten aber auch dar­auf, dass die ana­ly­sier­ten Si­tua­tio­nen ver­gleich­bar waren.

Wor­auf zie­len wir ab, wenn wir die Ver­mitt­lung des Py­tha­go­ras un­ter­su­chen? Wir zie­len nicht auf ma­the­ma­ti­sche Kom­pe­tenz ge­ne­rell ab, son­dern wir ver­su­chen, diese Kom­pe­tenz etwas fei­ner zu er­fas­sen. Einer der Vor­tei­le der Bil­dungs­stan­dards der Kul­tus­mi­nis­ter­kon­fe­renz ist, dass sie nicht von ma­the­ma­ti­scher Leis­tung ins­ge­samt spre­chen, also nicht einen eher schlich­ten Stan­dard­be­griff haben, der sich aus­schließ­lich an Test­leis­tun­gen ori­en­tiert, wie bei­spiels­wei­se in den USA. Die Pu­bli­ka­ti­on der Kul­tus­mi­nis­ter­kon­fe­renz geht an­ders vor: Sie ver­an­kert Stan­dards in etwas, das sie „Kom­pe­tenz­mo­dell“ nennt. D. h. hin­ter den Bil­dungs­stan­dards steht idea­ler Weise eine kom­ple­xe­re Vor­stel­lung davon, was denn ei­gent­lich die Teil­kom­po­nen­ten von – in die­sem Fall – ma­the­ma­ti­scher Kom­pe­tenz sind und wie die Gra­du­ie­rungs­stu­fen zu be­schrei­ben sind.

Im Bezug auf Py­tha­go­ras haben wir zwei zen­tra­le Teil­kom­po­nen­ten un­ter­schie­den. Al­lein diese auch psy­cho­me­trisch sau­ber zu un­ter­schei­den, war schon eine Her­aus­for­de­rung. Die eine Teil­kom­po­nen­te nenne ich „An­wen­dungs­fä­hig­kei­ten“ .


5. Anna baut aus Holz ein Vo­gel­haus. Sie hat einen Plan ge­zeich­net, auf dem die Dicke des Hol­zes ver­nach­läs­sigt ist. Der Plan sieht so aus:
(Zeich­nung nicht maß­ge­nau)

   20 cm           Zeichnung 15 cm

15 cm

Das Dach soll auf bei­den Sei­ten 5 cm über die Wände hin­aus­ra­gen. Anna will nun aus­rech­nen, wie lang das Holz­brett für das Dach sein muss. Wie wür­dest Du vor­ge­hen?

Hier sehen Sie eine ty­pi­sche Text­auf­ga­be, eine An­wen­dungs­auf­ga­be, wie sie mit dem Satz des Py­tha­go­ras ver­bun­den ist. Die Schü­le­rin­nen und Schü­ler sol­len be­rech­nen, wie lang die Schrä­ge des Da­ches min­des­tens sein muss. In ir­gend­ei­ner Weise muss man hier den Satz des Py­tha­go­ras an­wen­den, um die Auf­ga­be zu lösen. Das ist die klas­si­sche ma­the­ma­ti­sche Kom­pe­tenz, die ty­pisch für den deut­schen Ma­the­ma­tik­un­ter­richt ist. Das ist je­doch noch nicht das, was die PISA-Kol­le­gen „mo­del­lie­ren“ nen­nen, son­dern es ist „an­wen­den“, an­wen­den in einem All­tags­kon­text.


8. Sil­via, Jens und Frank haben ver­sucht, den Satz des Pat­ha­go­ras zu be­wei­sen. Wie be­ur­teilst Du die Lö­sun­gen der vier Schü­ler?

Satz des Py­tha­go­ras:
Im recht­wink­li­gen Drei­eck mit den Ka­the­ten a und b und der Hy­po­the­nu­se c gilt:
a² + b² = c².

Sil­vi­as Ant­wort:   Zeichnung  

    

Aus­sa­ge:

Be­grün­dung:

Quadrat = Dreieck + 4 · Quadrat

Das große Qua­drat hat die Flä­che c². Es setzt sich aus dem klei­nen Qua­drat mit der Flä­che (a - b)² und den 4 Drei­ecken zu­sam­men.

(1)

c² = (a – b) ² + 4 x

a · b
  2

Jedes der Drei­ecke hat die Flä­che

a · b
  2

(2)

c² = a² - 2ab + b² + 4 ·

a · b
  2

Nach bi­no­mi­scher For­mel ist

(a - b)² = a² - 2ab + b²

(3)

       c² = a² - 2ab + b² + 2ab

Um­for­mung von (2)

(4)

       c² = a² + b²

- 2ab + 2ab = 0

Die Be­haup­tung ist also wahr!

Be­ur­tei­lung von Sil­vi­as Lö­sung:

Sil­vi­as Lö­sung ...

ja    nein

... ent­hält einen Feh­ler.

□       □

... zeigt, dass die Be­haup­tung für alle
    recht­wink­li­gen Drei­ecke gilt.

□       □

... zeigt, dass die Be­haup­tung für be­stimm­te
    recht­wink­li­ge Drei­ecke gilt.

□       □

... ist ge­eig­net, um die Be­haup­tung je­man­dem
    aus der Klas­se zu er­klä­ren.

□       □


Wie Sie der zwei­ten Auf­ga­be ent­neh­men kön­nen, haben wir im Kon­trast zu den An­wen­dungs­fä­hig­kei­ten das „Be­weis­ver­ständ­nis“ un­ter­sucht, weil wir den­ken, dass hier­in ein we­sent­li­ches Ziel ma­the­ma­ti­scher Bil­dung be­steht. Darin sehen Sie auch einen Bil­dungs­an­spruch, der über das bloße An­wen­den von Ma­the­ma­tik hin­aus­geht. Ein Bil­dungs­ziel des Ma­the­ma­tik­un­ter­richts müss­te es sein, das Be­weis­ver­ständ­nis der Schü­le­rin­nen und Schü­ler zu för­dern. Das heißt sehr viel: zum Bei­spiel über­haupt die Mo­ti­va­ti­on für einen Be­weis zu er­ken­nen. Warum muss ich denn in der Ma­the­ma­tik ei­gent­lich etwas be­wei­sen? Warum reicht es nicht, wenn ich 50 pas­sen­de Bei­spie­le ge­se­hen habe?

Diese Fra­gen haben wir mit einer Auf­ga­be ge­prüft, die ich zu­sam­men mit Frau Reiss, einer Ma­the­ma­tik­di­dak­ti­ke­rin, aus einer eng­li­schen Stu­die ad­ap­tiert habe. Die Idee ist die fol­gen­de: Es wer­den drei un­ter­schied­li­che Be­wei­se vor­ge­stellt, die eher for­mal oder nar­ra­tiv auf­ge­baut sein kön­nen und die rich­tig oder falsch sein kön­nen. Die Schü­ler müs­sen diese Be­wei­se be­ur­tei­len. Wir sehen dabei, dass Schü­le­rin­nen und Schü­ler Be­wei­se oft schlicht­weg da­nach be­ur­tei­len, ob sie in for­ma­ler Hin­sicht schön auf­ge­baut sind. Das heißt: Wenn es so aus­sieht, als sei alles Schritt für Schritt sau­ber auf­ge­schrie­ben, dann fin­den die Schü­le­rin­nen und Schü­ler, dass ein guter Be­weis vor­liegt, mit dem sie auch ar­gu­men­tie­ren könn­ten. Dass die­ser Be­weis viel­leicht tau­to­lo­gisch ist, er­ken­nen sie gar nicht. So etwas zu über­prü­fen, zeich­net un­se­ren Test zum Be­weis­ver­ständ­nis aus.

Wir haben 40 Klas­sen im Längs­schnitt un­ter­sucht. So kön­nen wir jede Klas­se da­nach ein­ord­nen, wie stark sie im Ver­lauf der Un­ter­richts­ein­heit auf die­sen Leis­tungs­di­men­sio­nen die Kom­pe­tenz er­wei­tert hat.

Streuung Auf der X-Achse die­ser Ab­bil­dung ist die Ver­än­de­rung in der An­wen­dungs­kom­pe­tenz dar­ge­stellt, d. h., wie stark im Ver­lauf die­ser Un­ter­richts­ein­heit zur Satz­grup­pe des Py­tha­go­ras die ge­ne­rel­le, un­ter­richt­s­ty­pi­sche Fä­hig­keit an­ge­stie­gen ist, die­sen Satz in ver­schie­de­nen Kon­tex­ten an­zu­wen­den. Auf der ver­ti­ka­len Achse, der Y-Achse, ist ab­ge­tra­gen, wie sich das Be­weis­ver­ständ­nis ver­än­dert. Sie sehen, hier gibt es eine ziem­li­che Streu­ung. Wir haben links unten eine Schul­klas­se, die in bei­der­lei Hin­sicht ziem­lich schlecht ab­schnei­det. Die Ur­sa­chen sind viel­fäl­tig: Das ist z. B. eine Lern­grup­pe, die unter äu­ßerst schwie­ri­gen Be­din­gun­gen in einer Me­tro­po­le mit hohem Mi­gra­ti­ons­an­teil ar­bei­tet. Die Streu­ung tritt auf, ob­wohl es sich nur um Gym­na­si­al- und Re­al­schul­klas­sen han­delt, es ist keine Haupt­schul­klas­se dabei. Rechts oben haben wir ein Bei­spiel, bei dem es in ex­zel­len­ter Weise ge­lingt, in bei­den Di­men­sio­nen sehr gute Leis­tungs­fort­schrit­te zu er­brin­gen.

 

wei­ter

 

[1] Pren­zel, M./Al­lo­lio-Näcke, L. (Hg.) (2006). Un­ter­su­chun­gen zur Bil­dungs­qua­li­tät von Schu­le. Ab­schluss­be­richt des DFG-Schwer­punkt­pro­jekts. Müns­ter: Wax­mann.