Untersuchungsergebnisse
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Diese Seite ist Teil einer Materialiensammlung zum Bildungsplan 2004: Grundlagen der Kompetenzorientierung. Bitte beachten Sie, dass der Bildungsplan fortgeschrieben wurde.
Unser Ziel war es, erklären zu können, welches die Bedingungsgrößen dafür sind, dass Leistungszuwächse entstehen und die Leistungsstufen in den beiden Dimensionen unterschiedlich sein können. Wir haben beispielsweise festgestellt, dass die Schweizer Klassen im Beweisverständnis etwas besser sind und die Deutschen relativ gesehen in der Anwendungskompetenz. Das ist eine interessante Aussage über diese beiden Unterrichtskulturen.
Als wir uns die Videoaufnahmen angeschaut haben, haben wir etwas herausgefunden, das für Sie besonders interessant sein könnte. Es gab unter den teilnehmenden Klassen vier (A, B, C und D), in denen die Lehrerinnen und Lehrer eine Unterrichtseinheit verwendet haben, die genau zum Zeitpunkt der Studie in einer fachdidaktischen Zeitschrift als Unterrichtsvorschlag veröffentlicht wurde. Wir hatten somit die Chance, in einer quasiexperimentellen Situation vier Mal denselben Unterrichtsplan umgesetzt zu sehen, mit exakt denselben Materialien und auch denselben Sozialformen: Unterrichtsgespräch, Gruppenarbeit, Bericht aus der Gruppe, Reflexion in der Klasse. Die Frage war nun: Wie wird dieser eine Unterrichtsplan umgesetzt? Das ist eine Frage, die natürlich den Kern der Lehrerausbildung trifft. Lehrerausbildung besteht klassischer Weise darin, dass man Unterricht plant und sich Methoden dafür erarbeitet, wie Unterricht geplant werden kann. Dieser Plan wird dann umgesetzt und in Hospitationen und Beobachtungen bewertet. Nun haben wir hier sozusagen eine ähnliche, aber empirisch kontrollierte Situation: Der Plan ist vorgegeben worden, vier Lehrerinnen und Lehrer haben ihn umgesetzt.
Alles, was ich ihnen jetzt zeige, darf nicht unmittelbar kausal interpretiert werden. Ich glaube nicht, dass die verschiedenen Arten, wie dieser Plan hier innerhalb einer einzigen Schulstunde umgesetzt worden ist, ursächlich verantwortlich sind für die Lernprofile, die wir sehen. Aber wenn wir einen Vergleich ziehen, sehen wir doch Indikatoren für verschiedene Unterrichts-„Kulturen“. „Kulturen“ habe ich in Anführungszeichen geschrieben, weil ich glaube, dass es problematisch ist, vom „Konzept einer Unterrichtskultur“ zu sprechen. Eine durchgehende Unterrichtskultur gibt es nicht, aber es gibt doch Unterrichtsmerkmale, die typisch sind für einen Lehrer, und die auch eine gewisse Konsistenz haben; diese Unterrichtsmerkmale können wir hier identifizieren und vergleichen.
Der Unterrichtsplan , wie er von Karin Wagenführ in der Zeitschrift „Mathematik lehren“ veröffentlicht wurde, [2] sah nun folgendermaßen aus:
Bauer Piepenbrink hat zwei Felder, I und II, angeordnet wie hier dargestellt. Im Zuge einer Flurbereinigung bietet ihm die Gemeinde an, die Felder durch das große Quadrat zu ersetzen. Abends in der Kneipe erzählt er das seinen beiden Kollegen Plattfuß (bei dem liegen die beiden Felder I und II etwas anders) und Großmaul (bei dem liegen die Felder wieder anders). Die beiden haben jetzt die Idee, sie möchten das Gleiche machen. Sie lassen sich alle drei durch ihre schlauen Kinder beraten, die in der Schule solche Dinge lernen. Jetzt wird überlegt, bei wem dieser Tausch funktioniert und bei wem nicht.
Karin Wagenführ schlägt vor, zu diesen drei Fällen zunächst ein Unterrichtsgespräch zu führen. Es werden Folien aufgelegt. Die Schüler sollen die Flächen ausmessen und dann beurteilen, wer bei diesem Tauschgeschäft Gewinn und Verlust macht, oder bei wem es genau gleich ausgeht. Dann wird die Frage gestellt, und das ist klassisch sokratisches Vorgehen: „Woran liegt es, dass in den drei verschiedenen Fällen die untere Quadratfläche unterschiedlich groß ist?“ Es werden Vermutungen formuliert, es wird dann im Unterrichtsgespräch ein Satz erarbeitet, der etwa wie folgt lautet: „Im rechtwinkligen Dreieck ist die Summe der Quadrate an den Katheten genauso groß wie das Quadrat an der Hypothenuse.“ Da haben sie den „Pythagoras“. Und dann sollen weitere Beispiele bearbeitet werden mit der Idee, dass daraus eine Beweismotivierung entsteht und dann der eigentliche Beweis. Das ist der Unterrichtsplan. So etwas würden Sie, wenn sie Fachleiter am Studienseminar sind, vielleicht auch gerne sehen: Das ist anwendungsbezogen, motivierend; da gibt es einen Alltagsbezug, es ist exploratives Arbeiten möglich. Es ist kein schlechtes Szenarium.
Was passiert jetzt aber tatsächlich in den vier Versuchsklassen?
Klasse A |
Klasse B |
Klasse C |
Klasse D |
|
Einführung |
3 Fälle 9 Minuten |
1 Fall 11 Minuten |
Frage 5 Minuten |
Frage 3 Minuten |
Instruktion |
1 Minute |
1 Minute |
7 Minuten |
2 Minuten |
Gruppenarbeit |
Vermutung 8 Minuten |
2 Fälle 5 Minuten |
3 Fälle 18 Minuten |
3 Fälle 5 Minuten |
Bericht aus den Gruppen |
--- |
3 Minuten |
7 Minuten |
6 Minuten |
Fragend-entwickelndes Gespräch |
4 Minuten |
3 Minuten |
7 Minuten |
17 Minuten |
Gesamtdauer |
22 Minuten |
23 Minuten |
44 Minuten |
33 Minuten |
In Klasse A und in Klasse B halten sich die Lehrkräfte relativ genau an den Plan, mit gewissen Unterschieden. In der Klasse A werden tatsächlich die drei Fälle im Unterrichtsgespräch bearbeitet; es wird genauso verfahren wie vorgeschlagen. Im Unterrichtsgespräch wird gemessen, verglichen und bewertet. Dann geht der Unterricht aber in eine Gruppenarbeit über.
Dabei ist interessant, dass alle vier Lehrkräfte Gruppenarbeit gemacht haben. Das waren hoch motivierte, auch fachdidaktisch engagierte Lehrkräfte, die sich für die Studie freiwillig gemeldet hatten. Sie hatten alle die Idee, hier müsste Gruppenarbeit durchgeführt, die Vermutung in Gruppen erarbeitet werden. Im weiteren Verlauf des Unterrichts der Klasse A stellte sich aber heraus, dass die Gruppen in den zur Verfügung stehenden acht Minuten noch gar keine Vermutung formulieren konnten, weil es sie überfordert hat, die damit verbundene mathematische Verallgemeinerung zu formulieren. Deshalb geschah das in Klasse A dann im Unterrichtsgespräch, es dauert vier Minuten, und dann war der Satz da.
Im Klasse B dauerte es 23 Minuten, und es lief sehr ähnlich ab, außer dass hier in der Gruppenarbeit noch die beiden anderen Fälle, also Plattfuß und Großmaul, behandelt wurden. (Der erste Fall wurde im Plenum besprochen.) In Klasse B war also der Arbeitsauftrag an die Gruppen einfacher, was vielleicht auch etwas sinnvoller ist.
In Klasse C unterrichtete eine Lehrerin, die nach dem Urteil ihrer Schüler generell auf kooperative Lernprozesse sehr viel Wert legt. Sie ließ sich sieben Minuten Zeit, um die Gruppenarbeit vorzubereiten, d. h., die Gruppen einzuteilen, Instruktionen zu geben und nachzufragen, ob die Instruktionen verstanden worden sind. Wie sie mit den Gruppen umgeht, ist lehrbuchmäßig. Sie lässt den Gruppen sehr viel Zeit: 18 Minuten. Die gesamte Fallarbeit wird in den Gruppen bearbeitet. Die Schülerinnen und Schüler gehen arbeitsteilig vor: Jede Gruppe bekommt einen dieser drei Fälle. Anschließend wird sieben Minuten lang berichtet. Die Schüler kommen nach vorne, treten auf, erfahren Wertschätzung, erfahren Kommentar von anderen. Die Unterrichtsstunde wird ausgeschöpft; 44 Minuten dauert das Ganze, und zum Schluss wird es sogar ein bisschen eng. Aber in dem abschließenden Unterrichtsgespräch steht dann irgendwann auch der Satz des Pythagoras da.
Lehrer D , der in seiner Klasse insgesamt sehr erfolgreich ist (Sie erinnern sich an die Grafik: Das ist der rechts oben!) geht noch anders vor. Er ist sehr schnell bei den beiden ersten Teilen. Er braucht nur drei Minuten für die Einführung, auch nur ganz wenig Zeit für die Instruktion; die Gruppen arbeiten ebenfalls arbeitsteilig an den Fällen. Wofür er sich aber extrem viel Zeit lässt, das ist das Unterrichtsgespräch zur Ausarbeitung der Vermutungen, die dann schließlich zum Satz des Pythagoras führen. Das ist der entscheidende Punkt: Er ist ein Lehrer, der wenig Zeit in die Organisation von sozialen und kooperativen Prozessen investiert, der aber sehr viel Zeit in die mathematische Argumentation investiert.
[2] Wagenführ, K. (2001). Gebietsreform in Feldhausen. Eine Einführung in den Satz des Pythagoras. In: Mathematik lehren , 2001 (109), 10-13.