Zur Haupt­na­vi­ga­ti­on sprin­gen [Alt]+[0] Zum Sei­ten­in­halt sprin­gen [Alt]+[1]

Ma­the­ma­tik axio­ma­tisch-de­duk­tiv ord­nen

In­fo­box

Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

Ma­the­ma­tik kann man axio­ma­tisch-de­duk­tiv ord­nen.

Das heißt nicht, dass man das nur auf eine Art und Weise tun könn­te. Aber dass man es kann und als wis­sen­schaft­li­cher Ma­the­ma­ti­ker sogar muss, ist un­ab­ding­bar. Diese Art zu den­ken, „more geo­metri­co“, „nach Art der Geo­me­ter“ sagte man frü­her, kann in die­ser Rein­heit und Aus­prä­gung keine an­de­re Wis­sen­schaft für sich be­an­spru­chen. Die Schu­lung des „lo­gi­schen Den­kens“ war zu allen Zei­ten ein star­kes Ar­gu­ment für das Fach Ma­the­ma­tik im Rah­men einer gym­na­sia­len All­ge­mein­bil­dung. Man kann den hohen ko­gni­ti­ven An­spruch einer de­duk­ti­ven Ord­nung kaum be­strei­ten.

Der Bil­dungs­wert der de­duk­ti­ven Ord­nung in der Ma­the­ma­tik wird in einem Zitat von Mar­tin Wa­gen­schein be­leuch­tet:

Aus: Mar­tin Wa­gen­schein; Das ex­em­pla­ri­sche Ler­nen als fä­cher­ver­bin­den­des Prin­zip: der Satz des Py­tha­go­ras (1960); in Na­tur­phä­no­me­ne sehen und ver­ste­hen, E. Klett Ver­lag 1968

Ich meine dabei aber ... nicht das „Den­ken ler­nen“ über­haupt; das kann man auch an­ders­wo ler­nen, etwa beim Über­set­zen aus dem La­tei­ni­schen. Son­dern ich meine, dass wir etwas spe­zi­fisch Ma­the­ma­ti­sches ge­lernt haben; etwas, was der Ma­the­ma­tik „über­haupt“ zu­kommt, und wofür der Be­weis des „Py­tha­go­ras“ nur ein Bei­spiel war:

Wir haben ge­lernt, in wel­chem Sinne und Grade ma­the­ma­ti­sche Wahr­hei­ten ge­wiss sind.

Sie ste­hen nicht von­ein­an­der iso­liert. Sie ruhen auf­ein­an­der, sie tra­gen ein­an­der sie ste­hen bei­sam­men. Zu­un­terst liegt Un­be­weis­ba­res, Hin­zu­neh­men­des, Selbst­ver­ständ­li­ches ...

Eine ma­the­ma­ti­sche Wahr­heit ver­ste­hen heißt ein­se­hen, wie sie auf einer ein­fa­che­ren ruht: Zum Bei­spiel der „Py­tha­go­ras“ auf dem Win­kel­sum­men­satz und auf dem Par­al­le­len­a­xi­om. Wer das Axiom an­er­kennt, kann die Fol­gen nicht ab­strei­ten.

Das lo­ka­le, das pri­mä­re Stau­nen über „so etwas wie den Py­tha­go­ras“ weicht dem hö­he­ren Stau­nen dar­über, dass es so einen Zu­sam­men­hang „gibt“ ...

Diese Ein­sicht be­trifft das Ganze der Ma­the­ma­tik. Wer sie am „Py­tha­go­ras“ be­grif­fen hat, der hat etwas be­grif­fen, was mehr ist als der Py­tha­go­ras. Und zwar nicht noch so etwas wie er ist, son­dern etwas Über­ge­ord­ne­tes. Das Ganze, ohne dass es in­halt­lich zu durch­lau­fen wer­den braucht, „spie­gelt sich“ also in die­sem Ein­zel­nen. Diese Ein­sicht in das Auf­ein­an­der­ru­hen der ma­the­ma­ti­schen Wahr­hei­ten ist ein „Funk­ti­ons­ziel“ des ma­the­ma­ti­schen Un­ter­richts.   

Das „Funk­ti­ons­ziel“: zu er­fah­ren, was es in der Ma­the­ma­tik heißt, einer Sache ge­wiss zu sein, wir ganz erst klar, wenn wir nicht nur den „Py­tha­go­ras“, wenn wir die Ma­the­ma­tik selbst ver­las­sen und ver­glei­chen: Nir­gend­wo an­ders näm­lich gibt es das be­rau­schen­de Maß von Ge­wiss­heit, das uns in der Ma­the­ma­tik er­reich­bar ist. Denn hier sind wir uns schließ­lich alle einig, weil wir alle die­sel­ben Axio­me an­er­ken­nen und die­sel­ben Schluss­wei­sen, die uns von dort zu den  - an­fangs – un­durch­sich­ti­gen und des­halb er­staun­li­chen kom­ple­xen Wahr­hei­ten ge­lei­ten. Hier gibt es kei­nen Streit.

Wenn wir da­ge­gen mit­ein­an­der über po­li­ti­sche, phi­lo­so­phi­sche oder re­li­giö­se Pro­ble­me nach­den­ken oder strei­ten, sind wir nicht in die­ser glück­li­chen Lage, dass es schlimms­ten­falls Miss­ver­ständ­nis­se geben kann.

Trotz­dem ist es aber wich­tig, dass der po­li­ti­sche Strei­ter das Ver­gleichs­bild der Ma­the­ma­tik kennt und nicht als Vor­bild. Dann sieht er: Hier, im „welt­an­schau­li­chen“ Be­reich, sind die Axio­me von einem zum an­de­ren, oder von einer Grup­pe zur an­de­ren, ver­schie­den , sind letz­te Ent­schei­dun­gen, Glau­bens­sät­ze, Grund-Ent­schlüs­se. Und jedes faire Streit­ge­spräch, so­lan­ge es sich lo­gi­scher Ar­gu­men­te be­dient, kann nur den Sinn haben, bei­der­seits auf die – nun ver­schie­de­nen – Axio­me zu­rück­zu­ge­hen, jeder auf seine. Das heißt im ei­gent­li­chen Sinn des Wor­tes: „sich aus­ein­an­der­set­zen“. Ist das ge­sche­hen, so ist das lo­gi­sche Ge­spräch zu Ende. Jeder hat seine, un­ab­weis­ba­re, Po­si­ti­on be­zo­gen. Man kann den Geg­ner über­füh­ren, dass seine Be­haup­tun­gen lo­gisch nicht mit­ein­an­der har­mo­nie­ren. Ob man seine letz­ten Grund­sät­ze teilt oder als un­er­träg­lich be­kämpft, das hat erns­te­re als nur lo­gi­sche „Grün­de“.

Damit wird ein Ziel der Selbst­er­zie­hung deut­lich, das Vor­aus­set­zung ist dafür, dass Ge­sprä­che einen an­stän­di­gen Sinn haben: Jeder soll­te sich selbst dar­über klar wer­den, auf wel­chen letz­ten Über­zeu­gun­gen seine Ur­tei­le über ein be­stimm­tes, ra­tio­nal nicht auf­lös­ba­res Wirk­lich­keits­ge­biet be­ru­hen. Er soll­te Ord­nung in sei­nen Über­zeu­gun­gen haben, „mit sich ins Reine kom­men“. 

Eine der ers­ten Be­schrei­bun­gen des Ma­the­ma­tik­spe­zi­fi­schen Den­kens fin­det man bei Pla­ton (427 -347 v.​Ch.). Hier ist auch klar aus­ge­drückt, dass die Ma­the­ma­tik von Idea­li­sie­run­gen han­delt, als nicht von einem ge­zeich­ne­ten Recht­eck, son­dern vom „Recht­eck an sich“. Die­sen Pro­zess der Idea­li­sie­rung der geo­me­tri­schen Fi­gu­ren beim Schü­ler in Gang zu brin­gen, ist eine der Vor­aus­set­zun­gen für de­duk­ti­ves Den­ken.

Aus: Pla­ton; Der Staat; Re­clam 1994; Sechs­tes Buch

„... Du weißt ja wohl, die Leute, sie sich mit Geo­me­trie, Rech­nen und ähn­li­chem be­schäf­ti­gen, be­die­nen sich dabei ge­wis­ser Vor­aus­set­zun­gen, wie der Ge­ra­den und Un­ge­ra­den, der Fi­gu­ren, der drei Arten von Win­kel und Ver­wand­tes mehr; diese Vor­aus­set­zun­gen ma­chen sie so, als ob sie dar­über genau im kla­ren wären, . . .

Von da gehen sie aus und er­rei­chen in wei­te­rem Fort­schritt fol­ge­rich­tig ihr Ziel dort, wo sie es sich für ihre Un­ter­su­chung ge­steckt haben ...

Nun wei­ter ! Sie be­hel­fen sich mit sicht­ba­ren Fi­gu­ren und un­ter­su­chen sie, den­ken aber dabei nicht an die Fi­gu­ren, son­dern an die Ur­bil­der, denen sie glei­chen; so un­ter­su­chen sie das Vier­eck an sich und seine Dia­go­na­le, aber nicht die ge­zeich­ne­te, ... Die Ge­bil­de, die sie for­men und zeich­nen, ..., diese ge­brau­chen sie nur als Ab­bil­der und su­chen die Ur­bil­der an sich zu er­ken­nen, die man nur durch das reine Den­ken er­kennt.“    

Für ein Ein­ge­hen in diese Ge­dan­ken­welt im Un­ter­richt sind ver­schie­de­ne Vor­aus­set­zun­gen not­wen­dig. Zu­nächst müs­sen wir Leh­rer die schu­li­schen In­hal­te für uns de­duk­tiv ge­ord­net haben. Diese „de­duk­ti­ve Ord­nung im Hin­ter­grund“ wird i.a. eine stark ver­ein­fach­te bzw. un­voll­stän­di­ge wis­sen­schaft­li­che de­duk­ti­ve Ord­nung sein. Die „Hin­ter­grund-Ord­nung“  bil­det aber die Vor­aus­set­zung dafür, dass sich un­se­re Schü­ler von der Ma­the­ma­tik ein zu­tref­fen­des Bild ma­chen: Als einer struk­tu­rier­ten Wis­sen­schaft mit kla­ren, offen ge­leg­ten und re­flek­tier­ten Pro­blem­stel­lun­gen und Vor­ge­hens­wei­sen. Dann müs­sen wir auf Grund di­dak­ti­scher Über­le­gun­gen ent­schei­den, was davon in wel­cher Stren­ge im Un­ter­richt zur Spra­che kom­men soll. Dies be­darf aber eines be­deu­ten­den fach­di­dak­ti­schen Wis­sens über Mög­lich­kei­ten der sach­lo­gi­schen Struk­tu­rie­rung, über al­ter­na­ti­ve fach­li­che Zu­gän­ge, über die Kennt­nis an­ge­mes­se­ner Re­duk­tio­nen (z.B. lo­ka­les Ord­nen) und einer dar­aus re­sul­tie­ren­der Ur­teils­kraft, die Stel­lung eines kon­kre­ten Un­ter­richts­ge­gen­stan­des in dem Ge­samt­ge­fü­ge zu dis­ku­tie­ren.

 

Lo­gisch-de­duk­tiv struk­tu­rie­ren – Eine ko­gni­ti­ve Her­aus­for­de­rung:
Her­un­ter­la­den [pdf] [358 KB]