Arbeitsauftrag
Das Gedicht ist eines der meistinterpretierten Gedichte Goethes. Aus fünf verschiedenen Interpretationen der letzten Jahre sind im Folgenden einige Auszüge vorgestellt.
Text 1
Klaus Weimar (1982): Goethes Gedichte 1769-1775, Paderborn 1982,
S.21-31
„(…) Erster Eindruck? Vielleicht so: man ist unmittelbar
dabei. Es wird nicht gesprochen
über
etwas, über ein Gefühl
oder ein Ereignis oder eine Stimmung; es wird gesprochen
in
dieser
Stimmung; es wird gesprochen
in
dieser Stimmung und aus ihr heraus….Das
erzählende Ich bleibt immer nahe beim erlebenden Ich und macht
dessen Stimmungsänderungen mit. Allerdings in einer Form, die unauffällig
ist. Denn wenn man nicht extra darauf achtet, merkt man’s gar nicht,
dass das ganze Gedicht im Präteritum gehalten ist….Dieser Umstand
macht es schwierig, über den Text präzise zu reden, weil man nie
genau weiß : hat das erlebende Ich die Sache so gesehen, oder stellt
das erzählende Ich die Sache so dar, wie es sie – nachträglich
und deutend – vom erlebenden Ich gesehen haben möchte? (…)
Zusammenfassung zur ersten Strophe: das Ich wird, ohne Warum und Wozu zu kennen,
doch zumindest, ohne es zu sagen, von einer Macht überfallen, die aus
seinem Inneren kommt, der es aber keinen Widerstand entgegensetzen kann oder
will und die es ins Freie hinaustreibt. In dieser Gemütsverfassung ändert
sich ihm die Landschaft, oder besser: es ändert sich die Wahrnehmung
der äußeren Natur…Man kann also sagen, dass unser Held sich
sprachlich einen Gegner aufbaut. Überwältigt von einem ihm selbst
unbegreiflichen Gefühl, erlebt er die abendliche Natur als eine, die
sozusagen auf dem Sprunge ist, Mensch zu werden und ihn genauso zu überfallen
wie jenes Gefühl am Anfang….In der zweiten Strophe ändert
sich die Sache…(…)
Wenn man sich die geschilderten Ereignisse verfilmt vorstellt, so wird man dessen gewahr, dass kein einziges lautes Wort gesprochen wird. Das leise Sausen des Windes (Vers 11 f.) ist überhaupt das einzige Geräusch, das auszumachen ist. Ansonsten gehen alle Beziehungen zur Natur über das Auge, und auch die Liebe zwischen Ich und Du teilt sich nur über das Auge mit (und einmal über den küssenden Mund)…(…)
Die Übereinstimmung des Ich mit sich selbst, errungen durch den Sieg
über die Bewegung der Natur, wird in der dritten Strophe gesteigert zur
Übereinstimmung mit der Welt, die nur aus dem Du besteht….Die
totale Übereinstimmung des Ichs mit sich und mit einer Welt, die nur
ein
Du ist, wird schmerzhaft beendet durch den Abschied, und nach
dem Zustand des Zurückbleibenden zu urteilen, könnte ihn demnächst
dasselbe Herzklopfen wieder befallen und hinausjagen, könnte demnach
die ganze Geschichte wieder von vorn anfangen….Das erzählende
Ich hat seine ganze Geschichte vor sich ausgebreitet und kann sich nun in
freierem Überblick zu ihr zurückwenden. …Durch das Nacherleben
der vergangenen Erlebnisse, …durch die tempolose Schusssentenz ist
das Ich am Ende seiner Erzählung zu einem anderen geworden, als es am
Ende seines Erlebnisses war…(…)"
Text 2
Gerhard Sauder: Willkomm und Abschied: wortlos. Goethes Sesenheimer
Gedicht
Mir schlug das Herz;
aus : Gedichte und Interpretationen
2, Stuttgart 1983, S.412-424
„(…) Es ist eines der Vorurteile, die bis heute die Lektüre dieses Gedichts leiten, dass es bereits ein hervorragendes Beispiel Goethescher Erlebnislyrik darstelle…Die episierenden Elemente, die Distanzierung durch das Kommentieren, Interpretieren, Überdenken und Beurteilen der einzelnen Phasen, aus welchen die Situation zusammengesetzt ist, geben dem Beobachten und Werten den Vorrang…Der Vorgang wird immer wieder angehalten, unterbrochen, bewertet. Gerade in den Strophen 3 und 4 wirken Ausrufe, Vergewisserung und fiktive Anrede an das Mädchen in Verbindung mit dem konsequent gebrauchten Imperfekt distanzierend.(…)
…Aus den konventionellen Elementen der Nachtbeschreibung (Nebel, drohendes Gesträuch, Mond, schauerliche Geräusche) entsteht in diesem Gedicht eine Reihung des Unheimlichen, das wie ein Feind den „Helden“ herausfordert….Die Steigerungen der Verse 14-16 geben von einem Ich Zeugnis, das mit dem Helden-Vergleich, dem unendlichen Mut und seinem glühenden Geist und Herzen eine geradezu übermenschliche Größe beansprucht. Es ist ein Ich der ungeahnten Kraft, die nicht zufällig durch eine bedrohliche nächtliche Natur provoziert wird. Das hochklopfende Herz, Feuer und Glut sind Zeichen einer elementaren Stärke. (…)
Obwohl sich die Verständigung der Liebenden im wesentlichen auf die visuelle
Interaktion beschränkt, kommt der Frau eine wichtige Rolle zu : Sie ist
nicht mehr die zu umwerbende reizende Rokokoschöne, sondern ein Subjekt,
das einem anderen gleichberechtigte Liebe entgegenbringt."
Text 3
Reinhard Lindenhahn: Sturm und Drang, Texte, Übungen, Berlin
1996, Beiheft S.3
„(…) Auffällig und für die Epoche typisch ist zunächst einmal die zentrale Bedeutung des Begriffes „Herz“. Es taucht nicht nur in jeder Strophe auf, sondern nimmt auch formal innerhalb der ersten drei Strophen eine zentrale Position im Vers ein…Das Herz des lyrischen Ichs…macht seinen Besitzer zum Objekt („Mir schlug das Herz“,Vers1) und ist Auslöser für dessen Handlung, die distanzlos und perspektivisch aus der Innensicht wiedergegeben wird: „geschwind zu Pferde“…(…)
Die Art, wie die Natur in diesem Gedicht dargestellt wird, war 1771 absolut
neu….Hinzu kommt die enge Beziehung zwischen der Stimmung des erlebenden,
lyrischen Ichs und der Natur. So steht der äußeren Nacht die innere
Helligkeit und Hitze des Sprechers entgegen, die dann in der dritten Strophe
umschlägt in eine völlig andere Stimmung: Die „milde“
Freude der Angebeteten überträgt sich nun auf das lyrische Ich und
das Wilde, Ungestüme der ersten beiden Strophen weicht der „Zärtlichkeit“
(Vers 23). Mit der inneren Haltung verändern sich scheinbar auch die
äußeren Verhältnisse: Mit dem Satz „Ein rosenfarbnes
Frühlingswetter/lag auf dem lieblichen Gesicht“ ist auch die äußere
Situation eine völlig andere geworden…Gleichzeitig wechselt auch
der Rhythmus des Gedichts: alles Heroische, Stürmerische, Impulsive findet
ein abruptes Ende mit dem Anblick des geliebten Mädchens und macht einer
zärtlichen, verliebten Stimmung Platz. (…) Das Gedicht ist
also getragen von einem beständigen Wechselspiel aus Innensicht und Außensicht,
aus Distanz und Nachempfinden, und der künstlerische Wert des Textes
kommt nicht zuletzt aus der Meisterschaft, mit der Goethe beide Schreibhaltungen
miteinander verknüpft und wie er sie dem Leser gewissermaßen aufzwingt."
Text 4
Rudolf Brandmeyer: Die Gedichte des jungen Goethe, Göttingen
1998, S.100-101
„(…) Die ersten vier Worte des Gedichts beschreiben nicht die Umstände
eines Aufbruchs, sondern vergegenwärtigen dessen emotionale Seite….
Der Bericht, den er dann von seinem Ritt gibt, benennt nicht wenig Einzelheiten,
aber deren additive Ordnung aus gleich gewichteten Partikeln lässt nicht
das Bild einer Landschaft entstehen, die räumlich durch einander zugeordnete
Punkte nach Abständen markiert wäre und also auch nicht durch eine
Zeit, die der Ritt zu bewältigen hätte. Es sind vielmehr die „tausend
Ungeheuer“ – ein Summenformel, die die Erscheinungen der Nacht
egalisiert und der Darstellung des Ritts die Dimension der zeitlichen Erstreckung
nimmt… Es ist ein dargestelltes Geschehen und es ist zugleich unmittelbar
zum Sprecher…"
Text 5
Volker Neuhaus: Andre verschlafen ihren Rausch, meiner steht auf
dem Papiere. Goethes Leben in seiner Lyrik, Köln 2007, S.104-110
„(…) „Goethe hat den Schluss von vornherein unpersönlich,
besser: überpersonal gestaltet. Die Szenerie der Nacht und des Draußen
ist verschwunden, kein Ich und kein Du erscheinen hier mehr, sondern lediglich
die unpersönlichen Infinitive des Passivs und des Aktivs und in ihrem
Kreuzungspunkt das Göttliche. ..So stellen sie das Urphänomen „Liebe“
dar, das sich in jeder liebenden Begegnung „zeigt“ und in dem
das Göttliche erscheint. (…)
Eckhardt Meyer-Krentler hat…nachgewiesen, dass Willkomm und Abschied zur Goethezeit ein feststehender Begriff der Rechtspflege war, der im Grimmschen Wörterbuch lexikalisiert ist. Er bezeichnet bei kürzeren Gefängnisstrafen die Tracht Prügel, die der Delinquent bei der Einlieferung wie bei der Entlassung erhielt, wohl um sich seinem Gedächtnis einzuschreiben und ihm das Wiederkommen zu verleiden...(…)"
Aufgaben:
-
Setzen Sie sich mit den Interpretationsauszügen auseinander.
Worin stimmen die Interpreten miteinander überein, wo ergänzen, worin widersprechen sie sich? Diskutieren Sie in der Gruppe die Positionen und visualisieren Sie die „Essenz“ Ihrer Einsichten auf einem Poster. -
Der Interpret Klaus Weimar spricht am Ende seiner Ausführungen über das Gedicht von einem „Skandal“, dass und vor allem wie Goethe seine Gedicht später (also ab 1789) überarbeitet habe. Die spätere Fassung sei ein „schlagendes Beispiel“ für die mögliche Inkompetenz eines Autors, wenn er seinen eigenen Werken als Leser gegenübertrete und seine Interpretation entweder separat niederschreibe oder als Neufassung in das Werk einarbeite. Und er schließt: „Ich wäre froh, wenn Goethe das unterlassen hätte.“
Vergleichen auch Sie die beiden Versionen und nehmen Sie Stellung zu Weimars Haltung, indem Sie konkret an den Texten argumentieren. Verfassen Sie kleine Statements, die Sie, lebte er noch und würde sich zu Ihnen gesellen, Herrn Goethe gegenüber im Blick auf die Tatsache, dass er sein Gedicht so erheblich umgeschrieben hat, abgeben würden. -
Welche Auswirkungen auf einen Vortrag (Rezitation) des Gedichts haben die Einsichten aus der Auseinandersetzung mit den Interpretation der Fachleute?
Überlegen Sie, wie man die Aussagen des Gedichts durch Betonungen, Pausen, verteilte Rollen usw. wirksam zum Ausdruck bringen kann. Üben Sie eine Gruppenrezitation ein. -
Übersetzen Sie das Gedicht in heute gebräuchliches Deutsch, in
Prosa
oder wenn möglich auch lyrisch ... etwa so oder so ähnlich oder auch ganz anders : über Sie den Vortrag Ihrer Version.
Der
absolute Renner: Goethes Willkommen und Abschied
[pdf] [44 KB]