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11. Novalis: Dritte Hymne an die Nacht

Einst, da ich bittre Tränen vergoss, da in Schmerz aufgelöst meine Hoffnung zerrann, und ich einsam stand am dürren Hügel, der in engen, dunkeln Raum die Gestalt meines Lebens barg – einsam, wie noch kein Einsamer war, von unsäglicher Angst getrieben – kraftlos, nur ein Gedanken des Elends noch. – Wie ich da nach Hilfe umherschaute, vorwärts nicht konnte und rückwärts nicht, und am fliehenden, verlöschten Leben mit unendlicher Sehnsucht hing: - da kam aus blauen Fernen – von den Höhen meiner alten Seligkeit ein Dämmerungsschauer – und mit einem Male riss das Band der Geburt – des Lichtes Fessel. Hin floh die irdische Herrlichkeit und meine Trauer mit ihr – zusammen floss die Wehmut in eine neue, unergründliche Welt – du Nachtbegeisterung, Schlummer des Himmels kamst über mich – die Gegend hob sich sacht empor; über der Gegend schwebte mein entbundner, neugeborner Geist. Zur Staubwolke wurde der Hügel – durch die Wolke sah ich die verklärten Züge der Geliebten. In Ihren Augen ruhte die Ewigkeit – ich fasste ihre Hände, und die Tränen wurden ein funkelndes, unzerreißliches Band. Jahrtausende zogen abwärts in die Ferne, wie Ungewitter. An Ihrem Halse weint ich dem neuen Leben entzückende Tränen. – Es war der erste, einzige Traum – und erst seitdem fühl ich ewigen, unwandelbaren Glauben an den Himmel der Nacht und sein Licht, die Geliebte.

Novalis: Schriften. Bd. 1. Hrsg. v. R. Samuel. München, Wien: Hanser (Lizenzausg. f.d.Wiss. Buchges.) 1999, S. 153, 155f. (Rechtschreibung und Zeichensetzung behutsam modernisiert)

 

  • Biografischer Hintergrund der „Urhymne“ ist ein Erlebnis am Grab („dürre[r] Hügel“) der 15-jährig verstorbenen Verlobten Sophie von Kühn: „Abends ging ich zu Sophien. Dort war ich unbeschreiblich freudig – aufblitzende Enthusiasmus Momente – Das Grab blies ich wie Staub, vor mir hin – Jahrhunderte waren wie Momente – ihre Nähe war fühlbar – ich glaubte sie solle immer vortreten“ (Eintrag im Journal vom 13. Mai 1797. Ebd., S. 463) .

  • Diesseits
    Schmerz, Hoffnungslosigkeit,
    Einsamkeit, Angst, Kraftlosigkeit,
    Hilflosigkeit, Ausweglosigkeit:
    Elend

    Trauer


    Verfassung des Ich
    am Grab
    der verstorbenen Geliebten
    Überwindung durch eine
    Vision

    Pfeil Tränen Pfeil

    Jenseits
    Eintauchen in die Nacht einer
    geheimnisvoll-überirdischen Welt
    des Vergangenen und Göttlichen
    Neugeburt in der Begegnung mit
    der Geliebten
    Freude
  • Romantik : Nacht, Unergründlichkeit der Welt, Himmelsschlummer, Erscheinung der verklärten Verstorbenen, Liebesbegegnung als religiöses Mysterium, Unendlichkeit („blaue Fernen“), im Gegensatz zur Aufklärung : Licht, rationalistische Religionskritik, Erklärbarkeit der Welt
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