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16. Vor­übun­gen zum In­ter­pre­ta­ti­ons­auf­satz

  • For­mu­lie­rung ers­ter Ein­drü­cke und Emp­fin­dun­gen zu einem Ge­dicht in einem kur­zen Text (vgl. S. 5)
  • For­mu­lie­rung ein­zel­ner/ei­ni­ger in­halt­li­cher oder sprach­lich-for­ma­ler Er­kennt­nis­se und Be­grün­dun­gen auf der
    Grund­la­ge der Über­sicht auf Seite 7; erst stich­wort­ar­tig, dann in einem zu­sam­men­hän­gen­den Text
  • Iden­ti­fi­zie­rung und Deu­tung eines se­man­ti­schen Fel­des in einem zu­sam­men­hän­gen­den Text (vgl. S. 13)
  • For­mu­lie­rung und Be­grün­dung von In­ter­pre­ta­ti­ons­hy­po­the­se, erst stich­wort­ar­tig, dann in einem zu­sam­men
    hän­gen­den Text (vgl. S. 28 f.)
  • For­mu­lie­rung eines In­ter­pre­ta­ti­ons­auf­sat­zes auf der Grund­la­ge ge­mein­sam er­ar­bei­te­ter, evtl. durch den Leh­rer/die Leh­re­rin er­gänz­ter Ge­sichts­punk­te (vgl. S. 8)
    mit an­schlie­ßen­der Ver­bes­se­rung

 

Der fol­gen­de Auf­satz ist aus der Über­sicht zu Will­kom­men und Ab­schied her­vor­ge­gan­gen:

Das der Lie­bes­ly­rik zu­zu­ord­nen­de Ge­dicht „Will­kom­men und Ab­schied“ wurde von einem der be­deu­tends­ten deut­schen Dich­ter, Jo­hann Wolf­gang Goe­the, in der ge­fühls­in­ten­si­ven Epo­che des „Sturm und Drang“ im Jahr 1771 ver­fasst. Spä­ter hat es der Ver­fas­ser über­ar­bei­tet – in die­ser Ver­si­on soll es in­ter­pre­tiert wer­den. Das Ge­dicht the­ma­ti­siert das sehn­süch­ti­ge Ver­lan­gen eines ver­mut­lich jun­gen Man­nes nach sei­ner Ge­lieb­ten, der zu be­geg­nen er einen ge­fähr­li­chen nächt­li­chen Ritt auf sich nimmt. Vol­ler Freu­de und Glück trifft sich das Lie­bes­paar end­lich, doch schon am nächs­ten Mor­gen muss es sich weh­mü­tig und vol­ler Trau­er wie­der tren­nen.
  Gleich zu Be­ginn des Le­sens ist mir der Wech­sel der Stim­mung wäh­rend des Ge­dichts auf­ge­fal­len. In den ers­ten bei­den Stro­phen herrscht eine ge­drück­te und be­droh­li­che Stim­mung, wäh­rend sich in der drit­ten Stro­phe ein Wan­del voll­zieht und der Leser das Ge­fühl von Freu­de, Glück und lei­den­schaft­li­cher Liebe ver­mit­telt be­kommt. Diese Be­to­nung und Her­vor­he­bung der Ge­füh­le ist auch ein ty­pi­sches Kenn­zei­chen des „Sturm und Drang“.
  Das Ge­dicht ist in vier Stro­phen mit je­weils acht Ver­sen auf­ge­teilt. Da­durch be­stim­men Gleich­maß und Klar­heit den Auf­bau und die äu­ße­re Form. Die­ser ent­spricht auch die in­halt­li­che Glie­de­rung: Dem Auf­bruch in der Däm­me­rung fol­gen die Schil­de­rung der be­droh­li­chen Natur bei Nacht und der fro­hen Er­war­tung. An­kunft und Lie­bes­glück wer­den von Ab­schieds­schmerz und Dank­bar­keit ab­ge­löst, die die Tren­nung er­leich­tert. Auch das Reim­sche­ma ist durch Re­gel­mä­ßig­keit ge­kenn­zeich­net, da die Verse durch­weg mit Kreuz­rei­men enden, bei denen sich weib­li­che und männ­li­che En­dun­gen ab­wech­seln. Als Me­trum hat Jo­hann Wolf­gang Goe­the im ge­sam­ten Ge­dicht einen 4-hebi­gen Jam­bus ver­wen­det. Die­ser flie­ßen­de Rhyth­mus lässt das Ge­dicht sehr har­mo­nisch und ge­fühl­voll wir­ken. Die weit­ge­hen­de Über­ein­stim­mung von Vers- und Satz­struk­tur zeigt, dass das ly­ri­sche Sub­jekt eins mit sich selbst ist. Es folgt sei­nem ei­ge­nen Ver­lan­gen und ist von der be­vor­ste­hen­den Be­geg­nung mit der Ge­lieb­ten er­füllt.
Das Ge­dicht setzt mit einer Auf­bruchs­si­tua­ti­on ein, in der sich das ly­ri­sche Ich zu Pfer­de auf­macht, um seine Ge­lieb­te zu be­su­chen. Die Per­so­ni­fi­zie­rung „[d]er Abend wieg­te schon die Erde“ (V.3) deu­tet an, dass bald die Zeit des Schla­fen­ge­hens kommt und die Dun­kel­heit her­ein­bricht. Bäume und Sträu­cher ver­stär­ken die be­droh­li­che und be­ängs­ti­gen­de Stim­mung, die durch die wei­te­ren Per­so­ni­fi­zie­run­gen „schon stand im Ne­bel­kleid die Eiche,/ ein auf­ge­türm­ter Riese“ (V.5 f.) und „wo Fins­ter­nis aus dem Ge­sträu­che/ mit hun­dert schwar­zen Augen sah“ (V.7 f.) ver­an­schau­licht wird.
  Auch in Stro­phe 2 spürt der Leser deut­lich die Angst, die den jun­gen Mann um­gibt. Dies wird durch die Per­so­ni­fi­zie­rung in Ver­bin­dung mit dunk­len Vo­ka­len der „o“-As­so­nanz „[d]er Mond von einem Wol­ken­hü­gel/ sah kläg­lich aus dem Duft her­vor“ (V.9 f.) deut­lich. Denn selbst der sonst hell strah­len­de Mond ist hier nicht im Stan­de, als Licht­quel­le zu die­nen, son­dern scheint nur „kläg­lich“ (V.10) her­vor. Zu­sätz­lich tra­gen das Ad­jek­tiv „schau­er­lich“ (V.12) und das Sub­stan­tiv „Un­ge­heu­er“ zum Bild die­ser Be­droh­lich­keit und Angst (V.13) bei, da man sich dar­un­ter ein ge­fähr­li­ches und be­droh­li­ches Wesen vor­stellt.
  Mit der Ge­gen­satz­kon­junk­ti­on „doch“ (V.14) än­dern sich nun aber die Ge­füh­le und damit auch die Stim­mung des Ge­dichts. Es tritt eine Wende ein. Das ly­ri­sche Ich über­win­det seine Ängs­te aus sehn­süch­ti­gem Ver­lan­gen nach sei­ner Ge­lieb­ten. Die Al­li­te­ra­ti­on „doch frisch und fröh­lich war mein Mut“ (V.14) ver­deut­licht dies und stellt die in­ne­re, mu­ti­ge Ent­schlos­sen­heit des ly­ri­schen Ichs dar. Auch der el­lip­ti­sche Par­al­le­lis­mus „In mei­nen Adern wel­ches Feuer!/ In mei­nem Her­zen wel­che Glut!“ (V.15f.), der in den bei­den fol­gen­den Aus­ru­fe­sät­zen er­scheint, soll die nicht mehr zu zü­geln­de Er­war­tung auf die Be­geg­nung mit der Ge­lieb­ten ver­an­schau­li­chen und die heiße Lei­den­schaft zei­gen, mit der es den Lie­ben­den sei­nem Ziel zu­treibt .
  In Stro­phe 3 trifft das Sub­jekt nun end­lich nach allen Ge­fah­ren und Stra­pa­zen, die es auf sich ge­nom­men hat, vol­ler Er­war­tung und Freu­de bei sei­ner Ge­lieb­ten ein. Das Glück des Lie­bes­paa­res ist voll­endet und das ly­ri­sche Ich spürt tiefe Ge­füh­le in sich, was durch die For­mu­lie­rung „Dich sah ich, und die milde Freu­de/ floss von dem süßen Blick auf mich“ (V.17 f.), ver­deut­licht wird. Der Dich­ter lässt den Leser an den Ge­füh­len des ly­ri­schen Ichs teil­ha­ben. Die hel­len Vo­ka­le der „i“-As­so­nan­zen, das En­jam­be­ment und die bei­den Ad­jek­ti­ve „mild“ (V.17) und „süß“ (V.18) ver­stär­ken beim Leser zu­sätz­lich das Bild star­ker Emo­tio­na­li­tät.
  Noch ein­mal, am An­fang der Stro­phe 4, er­scheint die Ge­gen­satz­kon­junk­ti­on „doch“ (V. 25). Denn nun, beim Leuch­ten der „Mor­gen­son­ne“, , muss das ly­ri­sche Ich den Heim­weg an­tre­ten. Die For­mu­lie­run­gen „Doch ach, schon mit der Mor­gen­son­ne, ver­engt der Ab­schied mir das Herz“ (V. 26) und „In dei­nem Auge wel­cher Schmerz“ (V. 28) zei­gen, dass der Ab­schied schwer­fällt und sehr schmerz­er­füllt für die Lie­ben­den ist. Die ge­trüb­te Stim­mung wird noch durch Trau­er ver­stärkt, da die Ge­lieb­te beim Ab­schied Trä­nen ver­gießt: „[U]nd sahst mir nach mit nas­sem Blick“ (V. 30). Ob­wohl der Ab­schied schmerz­haft ist, gehen beide in Dank­bar­keit an die Göt­ter aus­ein­an­der und sind froh, dass Liebe in die­ser Welt exis­tiert. Dies wird durch den Chi­as­mus der let­zen bei­den Verse des Ge­dichts „Und doch, welch Glück, ge­liebt zu wer­den!/ Und lie­ben, Göt­ter, welch ein Glück!“ deut­lich. Mit der Liebe über­schrei­tet der Mensch also die Gren­zen des Dies­seits und hat Teil an der himm­li­schen Sphä­re.
  Der Titel mit den bei­den Be­grif­fen „Will­kom­men“ und „Ab­schied“ be­zieht sich nur auf die letz­ten bei­den Stro­phen. Das ly­ri­sche Ich trifft in der Nacht vol­ler Glück und Lei­den­schaft seine Ge­lieb­te (Will­kom­men). Schließ­lich müs­sen sich beide im frü­hen Mor­gen­grau­en vol­ler Schmerz und Trau­er wie­der von­ein­an­der tren­nen (Ab­schied). In der ers­ten Hälf­te des Ge­dichts ste­hen da­ge­gen der Weg zu die­sem Ziel und die Ein­sam­keit im Vor­der­grund.
  Be­son­ders auf­fäl­lig an die­sem Ge­dicht ist die häu­fi­ge Wie­der­ho­lung des Sub­stan­tivs und Sym­bols „Herz“ (V. 1, V. 16, V. 19 und V. 26). Auch daran ist die Her­vor­he­bung der Ge­füh­le zu er­ken­nen, wel­che die Epo­che des „Sturm und Drang“ aus­zeich­nen. Denn das Herz steht als Sym­bol für den Ort des in­ten­si­ven Ge­fühls und der Liebe. Es ist das Zen­trum mensch­li­chen Emp­fin­dens und Han­delns, ohne das kein Mensch im Stan­de ist zu leben.
  Per­sön­lich hat mir das Ge­dicht sehr gut ge­fal­len. Re­spekt ver­dient, finde ich, der be­son­de­re Schreib­stil Jo­hann Wolf­gang Goe­thes. Er hat es ge­schafft, dem Leser die aus­ge­präg­te Ge­fühls- und Ge­dan­ken­welt des ly­ri­schen Ichs sehr ein­drucks­voll dar­zu­stel­len. Der Leser fühlt sich als Teil des Ge­dichts und spürt die star­ken Emo­tio­nen und Ge­füh­le des ly­ri­schen Ichs selbst. Es wird eine schein­ba­re Nähe zum ly­ri­schen Ich auf­ge­baut. Das Thema, die Liebe und die damit ver­bun­de­nen Ge­füh­le, be­wegt die Men­schen, seit es sie gibt. Schon bei Adam und Eva spiel­ten Liebe und Lei­den­schaft eine große Rolle. Auch in un­se­rer heu­ti­gen Zeit wer­den The­men wie Liebe, Emo­tio­nen und Lei­den­schaft viel­fach in Kunst, Li­te­ra­tur, Musik und vor allem im Film ge­spie­gelt.