1. (Liebes-)Lyrik als didaktisch-methodische Herausforderung
„[A]lles Denken und Sprechen von und mit Dichtung, […] alles Sprechen
und Denken von und mit Liebe […] bringt Rastlosigkeit, nicht Ruhe; bedeutet
stets neue Herausforderung statt Erledigung. Mit Lyrik, gar der von der Liebe
und der Leidenschaft, zu tun zu haben, verlangt uns die Bereitschaft zum Aufbrechen
im mehrfachen Sinn des Wortes ab und den
Verzicht auf die Illusion des
Ankommens
. Die Gefahr sich dabei gelegentlich zu verirren und zu versteigen
gehört zu dieser Wanderung auf ungebahnten Pfaden; sie zu meiden käme
einer Vermeidung der Sache selbst gleich. Die metonymische Struktur der Lyrik
und die metonymische Struktur der Liebe verlangen nach einem Spiel der Bedeutungen,
nach einer
Sprache des Entwerfens
,
nicht des Festschreibens
:
Lyrik, Liebe und Leidenschaft vertragen sich nicht mit steinernen Gesetzestafeln,
sondern bedürfen des fließenden Atems.
Diese Sprache zielt
,
obgleich Meta-Sprache,
nicht auf eine sich überhebende Interpretation
,
mit der stets die Illusion verbunden ist, das Gedicht wäre zu ›haben‹;
sie hofft vielmehr auf das Einlassen und aktiv mitgehende Zuhören des Anderen,
das »Zuschauen beim Sprechen«, wie Paul Celan dies in seiner großen
Rede zur Verleihung des Büchnerpreises Der Meridian nennt: ein inneres
Mit-Sprechen als Form der gemeinsamen Sinnsuche und der Begegnung in Sprache.“
(Härle, Liebeslyrik, S. 11 f.; Hervorhebungen: G. F.)
„Lyrik war
im 19. Jahrhundert
eine außerordentlich
beliebte Gattung. Für Jugendliche waren das Lesen von Gedichten, besonders
aber das Rezitieren und Deklamieren von Versen, das Singen von Liedern und im
Bildungsbürgertum nicht zuletzt auch die eigenen Schreibversuche eine Art
Initiation in die Literatur, die unbestritten das kulturelle Leitmedium mit
entsprechendem Einfluss auf individuelle wie kollektive Identitätsbildungen
war. Die beliebteste, verbreitetste Gattung war das Lied, so dass es keineswegs
verwundert, dass Lyrikunterricht wesentlich eine Sache des Musik- und Gesangunterrichts
war. Dieser hatte die Aufgabe, im Verbund mit dem Deutschunterricht den Liederkanon
textlich und musikalisch verfügbar zu machen. […]
Für viele Kinder und Jugendliche
heute
ist und bleibt
die Schule der erste und einzige Ort, Gedichte kennen zu lernen: als Stoff des
Deutschunterrichts. […] [A]us dieser Situation [lässt sich] eine
auf die Kompetenz der Schüler zu Teilnahme am literarischen Leben zielende
Vermittlungsaufgabe des Deutschunterrichts herleiten. Lyrik im Unterricht zu
behandeln legitimiert sich allerdings noch nicht durch virtuosen Umgang mit
systematisierten Formenrepertoires. Solche Fertigkeiten sind vielmehr Komponenten
eines stets auf Sprache rekurrierenden, für Sprache sensibilisierenden
Erfahrungsprozesses. Das Lern-Set poetologischer Begriffe wie Metrum, Reim,
Rhythmus, Vers- und Strophenform, vor allem im Gymnasium immer noch gern gepflegter
Unterrichtsstoff, bliebe totes schulisches Wissen, wenn es nicht in die Erprobung
und Beobachtung sprachlicher Prozesse eingebunden wäre. Daher kehren in
didaktischen Überlegungen zur Recht Formeln wie Sprachsensibilisierung,
Sprachkonzentration, Sprachverdichtung und »Prägnanz lyrischer Sprache«
(Kaspar Spinner: Umgang mit Lyrik in der Sekundarstufe I. 2. Aufl., Baltmannsweiler
1995, S. 6)
(Hermann Korte: Lyrik im Unterricht. In: Klaus-Michael Bogdal, H. K.,
Grundzüge der Literaturdidaktik, 4. Aufl., München: dtv, 2006, S.
209, 211)
Unter Methodenaspekten weithin konsensfähige Prinzipen des Lyrikunterrichts (nach Korte, ebd., S. 207 f.) :
- „keine bloße Addition einzelner […] Gedichtstunden“, sondern „Unterrichtsreihe[n] zu lyrischen Genres (Tages- und Jahreszeitengedicht, Kriegsgedichte, Liebeslyrik etc.),
- Einbettung von Gedichten in „übergreifende[ ] thematische[ ] Sequenzen“ und Kombination „mit anderen (literarischen und nicht-literarischen) Texten“,
- Verzicht auf Unterrichtsstrategien, die „Gedichte für erzieherische Programme und moralpädagogische Normierungsversuche“ nutzen,
- „Es gibt keinen unumstrittenen lyrischen Schulkanon mehr“. Allerdings: „Manche Gedichte von Goethe, Eichendorff, Mörike, Heine und Droste-Hülshoff gehören seit dem 19. Jahrhundert zum Kern des erstaunlich stabilen Kanons. Schulklassiker gibt es aber auch aus dem 20. Jahrhundert. Das Spektrum reicht weit und umfasst Namen wie Trakl, Heym, Brecht, Kästner, Bachmann, Eich, Huchel, Enzensberger, Jandl, Kirsch, Biermann, Fried und Kunert […]“.
-
„Die Geschichte der Lyrik bietet sich einer Didaktik der Literaturgeschichte
als ein geeigneter Gegenstand an. Im Unterricht sollten, so Spinner, »historische
Perspektiven eröffnet werden, z.B. die Einsicht, dass das Selbstverständnis
in anderen Zeiten und gesellschaftlichen Kontexten anders ist« (Umgang
mit Lyrik, a.a.O., S. 17). So richtig und so wichtig es ist, das »Gedicht
als ein Stück Literaturgeschichte zu lesen« (Friedrich Hassenstein:
Gedichte im Unterricht. In: Taschenbuch des Deutschunterrichts 1998. Bd. 2,
S. 636. [Vgl. auch die dort formulierten Lernziele für den Lyrikunterricht,
S. 639]): Gedichte sind keine bloßen Demonstrationsobjekte für
grobmaschige vage Epochen- und Periodisierungsschemata. Umgekehrt können
gerade Lyrik-Reihen mit einem überschaubaren Textkorpus Anreize bieten,
auf eigenständige, entdeckende Weise ein Verständnis für den
historischen Wandel sprachlich-literarischer und historisch-kultureller Prozesse
zu entwickeln.