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Eine Liebe im Rückspiegel

Am 25./26. September 1779 besucht Goethe auf dem Weg in die Schweiz die Familie Brion, insbesondere natürlich Friederike Brion. Er verbringt in Sesenheim einen Abend, übernachtet im Pfarrhaus und reitet am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang weiter. Das Liebesverhältnis zu Friederike lag zwischenzeitlich acht Jahre zurück. Es hatte damals keine explizite Trennung gegeben, Goethe war ohne sich wirklich von Friederike zu verabschieden von Straßburg, wo er sein Jurastudium erfolgreich beendet hatte, wieder nach Frankfurt umgezogen. Der Besuch stellte für den Dichter wie für Friederike keine einfache Situation dar. Von Goethe gibt es einen Brief an die verheiratete Charlotte von Stein, mit der Goethe, zwischenzeitlich in Weimar lebend, ein vertrautes Verhältnis entwickelt hatte, in dem er über den Besuch bei Friederike recht detailliert berichtet.

 

Aufgaben: 

Lesen Sie diesen Brief Goethes gründlich durch und malen Sie sich ein wenig aus, wie der Besuch konkret ablief, wie sich die ehemaligen Geliebten dabei fühlten und welche Wirkung das Treffen bei beiden hinterließ.

  1. Verfassen Sie danach einen Brief, oder wenigstens einige Sätze, die in einem solchen stehen könnten, den Friederike an einen ihr vertrauten Menschen geschrieben haben könnte, indem Sie das „Ereignis“ reflektiert und zu verarbeiten versucht. Greifen Sie dabei auch ein wenig zurück auf die tatsächliche Biographie Friederikens. 

  2. Die Schriftstellerin Inge Ott (geboren 1920) hat eine Erzählung, ausgehend von Goethes Brief an Charlotte von Stein, verfasst, in der sie sich in das ehemalige Liebespaar hineinversetzt, und zwar vor dem Besuch Goethes in Sesenheim. In mehreren inneren Monologen (wechselnd zwischen Goethe auf dem Ritt nach Sesenheim (= der Reiter) und der im Pfarrhause den Besuch erwartenden Friederike (= das Mädchen)) spekuliert sie über die Befindlichkeiten und mögliche Gedanken der beiden Beteiligten im Vorfeld des Treffens nach der langen Zeit ohne Kontakt.

    Lesen Sie die Textauszüge aus „Der Reiter und das Mädchen“ von Inge Ott durch.
    Setzen Sie sich mit einem oder mehreren Gesprächspartner über folgende Fragen auseinander und halten Sie die Einsichten in Stichworten fest.
    1. Welche Reflexionen über den Umgang mit der länger zurückliegenden Liebesbeziehung löst der Text aus?
    2. Lassen sich diese auch auf Erfahrungen von Frauen und Männern heute übertragen?
    3. Halten Sie den Ansatz von Frau Ott für interessant und gelungen? Gehen Sie dabei auch ein wenig auf Erzählperspektive und sprachliche Gestaltung der Erzählung ein.

 

Goethe an Charlotte Stein

 

Inge Ott: Der Reiter und das Mädchen
(Verlag freies Geistesleben, Stuttgart 1991)

Das Mädchen

Nein, nicht die Augen öffnen, laß sie zu!
Wenn dieser Tag gelebt ist, ist alles anders. Ich will nicht, das er beginnt; im Beginnen ist das Ende inbegriffen. Ich will die Hähne nicht krähen hören. Die Tauben sollen gurren – nur ja nicht die Tauben, die er gezeichnet hat, die er gefüttert hat.
Halt die Ohren zu!
So.
Gezeichnet? – Das ganze Haus hat er gezeichnet, damals im ersten Herbst.
Laß die Augen zu, dass du das Haus nicht siehst: von innen nicht und von außen nicht, wo der Wein übers alte Gemäuer kriecht, aufwärts, und sich festhält am runzlichten Gebälk des Fachwerks und dort drüben, wo es hell durch meine Lider schimmert, dort am Fenster ein rötliches Rankengeflecht macht.
Wenn ich hinausschaue, sehe ich die Hand, die breite, braune, sehnige, die vom andern Fenster aus Trauben bricht, damals, damals, bei seinem ersten Besuch.
Hör auf! Heute ist der 25.September 1779, und du liegst da wie immer, und wie es immer wieder sein wird: unterm kurzen Sommerpfühl noch, unter der leichten, weichen Decke, deren Wolle du vor vier Jahren selbst gesponnen hast, während die Mutter und die Schwester drauen im Rübgarten gehackt haben.
Ja, im schönen Frühling hast du Spinnrad gesessen und geweint, weil du vom Jungbauern Georg gehört hast, dass der, der die Tauben und das Haus gezeichnet hat, in Straßburg war – drei ganze Tage lang – und nicht den Weg nach Sesenheim gefunden hat....(S.7/8)

 

Der Reiter

Wenn du den Blutsturz nicht hättest, wärst du vielleicht heute noch in Leipzig. Das Leben wäre in eine andere Bahn gelenkt worden.. Du hättest anderes erfahren und anderes durchlitten – ja, auch durchlitten. Du wärst mit anderen Menschen zusammengekommen : nicht mit Freund Salzmann, dem Ältesten aus der Straßburger Mittagsrunde; nicht mit Lenz, dem Begabten, Schwierigen; nicht mit Herder, dem du so viel Bildung verdankst; ...Ja, wenn du in Leipzig geblieben wärst, dann hättest du den „Götz“ und den „Faust“ vielleicht noch nicht geschrieben – ganz zu schweigen von den Gedichten.
Du hättest Friederike nicht kennengelernt, durch die du überhaupt erfahren hast, was „Fülle des Lebens“ ist.
Ja, Alter : ein Kind auf dem Lande hat unbewusst dein Talent zum Erblühen gebracht. Ein Mädchen, das so eins ist mit der Natur, die es umgibt, dass man es aus dieser Natur nicht herausschälen kann.
Und du? Was hast du getan?
Treib keine Selbstzerfleischung, Alter! Sie ist nicht das erste und nicht das letzte Mädchen, das von ihrem Liebsten verlassen wird! Die Zeit ist darüber hinweggegangen. Daß du heute hinreitest, ist nichts als eine liebenswürdige Geste. Man wird dich in angenehmer Erinnerung behalten.
Ich sollte lieber die Gegend betrachten, dieses unvergleichlich liebliche Elsaß.... (S.23/24)

 

Der Reiter

Einmal bist du in der Nacht nach Sesenheim geritten. Es war windig und schauerlich, der Weg nicht zu verfehlen, weil der Mond so hell schien. Er schien auf meine Hast, auf mein leidenschaftliches Verlangen.
Vor meinen Augen stand ihr süßes Bild. Noch drei Stunden, noch zweie, noch eine, und ich wurde immer trauriger, weil ich nicht hoffen durfte, sie wach zu finden. Immer langsamer trottete mein Pferd. Endlich vor dem Wirtshaus von Sesenheim warf ich dem Jungknecht die Zügel meines Pferdes grußlos zu.
Ob im Pfarrhaus noch Licht sei? wollte ich wissen.
Der Wirt, der neugierig herausgetreten war, hatte meine Frage gehört und gleich anstelle des Jungknechts geantwortet, man erwarte drüben noch einen Gast in dieser Nacht.
Da warst du verstimmt, Alter. Immer wolltest du der einzige sein – der Einzige bei dem Mädchen. Und auch heute noch nagt es an deinem Stolz, wenn du ehrlich bist, daß später einer wie der Lenz deinen Platz an ihrer Seite eingenommen hat....
Als du in jener Nacht zum Pfarrhause hinkamst, da saß sie auf der Bank vor dem Haus und lachte dir triumphierend entgegen . Du warst der Gast, den sie erwartet hatte: du – der Einzige! Hellsichtig hatte sie dein Kommen vorausgespürt.
Am nächsten Morgen schlenderten wir über das sonntägliche Land, und es hatte den Duft, den es sonst nirgends gibt.
Wir machten Pläne für den Nachmittag....(S.51/52)

 

Das Mädchen

Ruhig, mein Herz, auch wenn die Zeit immer knapper wird!
Es wird gut sein, wenn ich den Brief, der in meiner Tasche knistert, zu den anderen zurückstecke, die mit dem Rosenband umwunden sind.
Rosen, Rosen, Rosen – man könnte es auch als Kinderei ansehen, dieses Bändermalen. Wer weiß, wie lang diese Mode noch gilt....Ach bliebe er doch weg!
Die großen Schwestern sind verheiratet; und bei der kleinen wird es auch bald so weit sein. Der Bruder wird dort drüben über dem Rhein eine Stelle als Vikar erhalten. Die Eltern werden vereinsamt sein, wenn auch du noch gehst....Geh an die Luft!
Du kannst den Hund mitnehmen und zur Waldblöße hinaufsteigen. Du kannst dich auf die Bank setzen, über die sich der Weißdorn neigt; seine Beeren sind schon ein wenig rot.
Dort hast du ihn gefunden, den Reiter, der nun bald kommen wird, den du von dort aus erspähen wirst, wenn er von Norden kommt...(S.74/75)

 

Der Reiter

Du hättest in Selz die Abzweigung nehmen sollen, Goethe! Aber jetzt ist es zu spät. Jetzt wirst du Schmerz auf Schmerz häufen, Schuld auf Schuld; denn dein Kommen wird ihren Kummer aufrühren. O Gott, wie konnte ich das tun! Halt an!
Mein Herz setzt aus: Etwas Weißes schimmert auf der Blöße! Halt an und steig vom Pferd! Mächtig kommt die alte Zeit zurück, der letzte Blick, den ich auf sie geworfen habe. Ihr Bild: jetzt wieder da.
Zu Pferde warst du schon, und feige hast du ihr verborgen, daß dies dein letzter Abschied war...(S.85)

 

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