Zur Haupt­na­vi­ga­ti­on sprin­gen [Alt]+[0] Zum Sei­ten­in­halt sprin­gen [Alt]+[1]

Vi­sua­li­sie­rungs­stra­te­gi­en und Er­zähl­tech­nik

Wie Fon­der­mann 2008 ge­zeigt hat, wer­den in den „Me­ta­mor­pho­sen“ in vir­tuo­ser Tech­nik und gro­ßer Va­ria­ti­on ver­schie­dens­te Tech­ni­ken ein­ge­setzt, mit denen Bil­der auf­ge­baut wer­den und durch die der Blick des Le­sers ge­lenkt wird:

Mit der „Ku­lis­sen­tech­nik“5 wird eine Land­schaft in einer Ek­phra­sis wie eine Thea­ter- bzw. Film­ku­lis­se Ele­ment für Ele­ment auf­ge­baut und als Hin­ter­grund für die an­schlie­ßen­de Hand­lung ein­ge­rich­tet. An­de­re vi­su­el­le Tech­ni­ken las­sen sich au­ßer­dem sehr gut mit Ter­mi­ni er­fas­sen, wie sie beim Dreh eines Films ein­ge­setzt wer­den: Zoom­tech­ni­ken, Ka­me­ra­schwenks und Ka­me­ra­fahr­ten len­ken den Le­ser­blick. Durch die häu­fig ein­ge­setz­te Point-of-view-Tech­nik er­lebt der Leser das Ge­sche­hen aus der Per­spek­ti­ve einer Figur mit, wo­durch der „Rea­li­täts­ef­fekt“ der Hand­lung ge­stei­gert wird.6

Die neue­re Er­zähl­theo­rie seit Stan­zel und Ge­net­te hat We­sent­li­ches zur Er­fas­sung die­ser Tech­ni­ken bei­ge­tra­gen.7 Wich­tig sind vor allem fol­gen­de As­pek­te:8

  1. Un­be­dingt muss bei der In­ter­pre­ta­ti­on zwi­schen dem his­to­risch-rea­len Autor und dem Ich-Spre­cher als In­stanz der fik­tio­na­len Rede un­ter­schie­den wer­den. Denn im Un­ter­schied zum „fak­tua­len“ Spre­chen, bei dem etwa eine Zei­tungs­re­dak­teu­rin über ein rea­les Ge­sche­hen be­rich­tet, - und im Un­ter­schied zum „fik­ti­ven“ Spre­chen, bei dem etwas Fal­sches mit dem Ziel be­rich­tet wird, dass es als real an­ge­nom­men wird – spricht in einem fik­tio­na­len Text nicht die reale his­to­ri­sche Per­son des Au­tors mit einer Täu­schungs­ab­sicht, viel­mehr „tut“ ein li­te­ra­ri­scher Text „so, als ob“ tat­säch­lich ein rea­ler Spre­cher über eine reale Si­tua­ti­on sprä­che, und mar­kiert dies durch ver­schie­de­ne Si­gna­le.9
    SuSn und auch an­de­ren Leser*innen fällt es er­fah­rungs­ge­mäß sehr schwer, Äu­ße­run­gen wie „Ovid spricht den Leser an“ zu ver­mei­den. Dies lässt sich ver­mut­lich mit dem psy­cho­lo­gi­schen Phä­no­men er­klä­ren, dass der Mensch, um Aus­sa­gen über­haupt ver­ste­hen zu kön­nen, diese zu­nächst „au­to­ma­tisch“ als wahr bzw. real an­nimmt.10 An­ge­wandt auf fik­tio­na­le Texte, würde dies be­deu­ten, dass deren Leser zu­nächst einen rea­len Spre­cher und einen rea­len Sach­ver­halt an­nimmt, um die Aus­sa­gen des Tex­tes ver­ste­hen zu kön­nen.11
  2. Sel­ten wird ein Werk aus einer ein­zi­gen Per­spek­ti­ve – bei­spiels­wei­se der eines all­wis­sen-den „olym­pi­schen“ oder eines per­so­na­len Er­zäh­lers – er­zählt, son­dern die Per­spek­ti­ve wech­selt häu­fig in­ner­halb eines Tex­tes, der Er­zäh­ler ist nicht nur keine ‚na­tür­li­che‘ Per­son, son­dern meist eine gleich­sam flui­de, äu­ßerst be­weg­li­che In­stanz, die in­ner­halb eines Tex­tes mit ver­schie­de­nen Stim­men spre­chen und seine ‚Iden­ti­tät‘ än­dern kann.
  3. Es­sen­zi­ell für die Er­fas­sung der Er­zähl­per­spek­ti­ven ist es, zwei Fra­gen zu un­ter­schei­den:
    1. Wer SIEHT? – Er­lebt der Re­zi­pi­ent das Ge­sche­hen aus der Per­spek­ti­ve einer be­stimm­ten Figur, aus der Sicht eines (evtl. am Ge­sche­hen) be­tei­lig­ten Er­zäh­lers oder neu­tral von außen? Die Be­ob­ach­tun­gen dazu be­schrän­ken sich nicht auf op­ti­sche Ein­drü­cke, son­dern müs­sen alle Sinne (Ge­räu­sche, Tas­ten, Tem­pe­ra­tur, Kör­per­emp­fin­den etc.) und auch Emo­tio­nen be­rück­sich­ti­gen.
    2. Wer SPRICHT? – Auf wel­cher er­zäh­le­ri­schen Ebene be­fin­det sich der Er­zäh­ler? Ist er eine der be­tei­lig­ten Fi­gu­ren und greift selbst ins Ge­sche­hen ein?12 Oder er­zählt er, ohne selbst Teil des Ge­sche­hens zu sein? Wie spricht der Er­zäh­ler zum Leser?13
  4. Nimmt man das Stich­wort ‚Kopf­ki­no‘ ernst, so ist es vor allem auch wich­tig, die Ge­schwin­dig­keit und die Ver­zö­ge­run­gen zu er­fas­sen, mit denen ein Ge­sche­hen er­zählt wird. Dazu muss das Ver­hält­nis von er­zähl­ter Zeit und Er­zähl­zeit be­stimmt und re­flek­tiert wer­den.

5 Ge­ra­de in den „Me­ta­mor­pho­sen“ wer­den an ver­schie­de­nen Text­stel­len meh­re­re – bis zu sechs! – Er­zähl­ebe­nen vir­tu­os in­ein­an­der ver­schach­telt.

6 Auf Ge­net­tes dif­fe­ren­zier­te Ter­mi­no­lo­gie (z. B. von intra-, extra- und au­to­die­ge­ti­schem Er­zäh­ler) kann im Kon­text des schu­li­schen La­tein­un­ter­richts ver­zich­tet wer­den (dazu Mar­ti­nez/Schef­fel 2016 mit in­struk­ti­ven li­te­ra­ri­schen Bei­spie­len).

7 Dich­tung ist zu ver­ste­hen „als die Fik­ti­on einer sprach­li­chen Äu­ße­rung, d. h. als Re­prä­sen­ta­ti­on einer Rede ohne em­pi­ri­schen Ob­jekt­be­zug und ohne Ver­an­ke­rung in einem rea­len Si­tua­ti­ons­kon­text“ (Mar­ti­nez/Schef­fel 2016, S. 16); zu Ovids raf­fi­nier­tem li­te­ra­ri­schen „Spiel mit dem Leben“ Holz­berg 1997, S. 31-37. – Be­son­ders vi­ru­lent wird die Frage nach dem Ver­hält­nis von poe­ti­schem Ich und his­to­ri­schem Autor im Selbst­ver­gleich des Spre­chers „Ovid“ mit Ac­taeon (trist. 2,103-110; dazu die op­tio­na­le Auf­ga­be 1e bei Ac­taeon; vgl. Sei­ber­t2014, S. 136f. – Letzt­lich ist na­tür­lich auch „der Leser“ keine ‚na­tür­li­che‘ Per­son, son­dern wird vom Text als Teil der fik­tio­na­len Er­zähl­si­tua­ti­on kon­stru­iert.

8 „Man muss zu­erst wis­sen, was die Aus­sa­ge be­deu­ten würde, wenn sie wahr wäre“ (Kah­ne­man 2012, S. 107 unter Ver­weis auf Ex­pe­ri­men­te von Da­ni­el Gil­bert).

9 Laut Bil­dungs­plan (AB 3.​4.​2.​3: Poe­ti­sche Texte: „poe­to­lo­gi­sche Aus­sa­gen“ und die „Cha­rak­te­ris­tik des dich­te­ri­schen Ich“) sind diese As­pek­te eher der Be­hand­lung im Leis­tungs­fach vor­be­hal­ten; al­ler­dings las­sen sich ohne deren Be­rück­sich­ti­gung Ovids Texte m. E. nicht sach­ge­recht in­ter­pre­tie­ren.

10 Fon­der­mann 2008, S. 37-44 und pass.; spe­zi­ell zur In­vi­dia-Szene a. a. O., S. 21 und 39f.

11 Die­ser „effet de réel“ (vgl. Barthes, Ro­land 1968: L‘Effet de Réel, in: Com­mu­ni­ca­ti­ons 11, S. 84-89) ent­fal­tet noch stär­ke­re Wir­kung in der Lie­bese­le­gie Ovids, in der das poe­ti­sche Ich in der Maske des Lieb­ha­bers „Ovid“ spricht. – In ver­gleich­ba­rer Weise gilt die­ser Ef­fekt auch für die „Me­ta­mor­pho­sen“, die in star­kem Maße ele­gi­sche Mo­ti­ve und Tech­ni­ken in­te­grie­ren.

12 Da die Klas­si­sche Phi­lo­lo­gie sich lange Zeit oft auf Mi­kro­struk­tu­ren und sprach­li­che Pro­ble­me auf der einen Seite und ideen- und kul­tur­ge­schicht­li­che Fra­ge­stel­lun­gen auf der an­de­ren Seite kon­zen­triert hat, wird die neue­re For­schung zur Nar­ra­to­lo­gie erst all­mäh­lich in den letz­ten 20 Jah­ren be­rück­sich­tigt (erste Ein­füh­rung de Jong 2014). So ver­misst man bei­spiels­wei­se zu Ver­gils Aen­eis nach wie vor einen nar­ra­to­lo­gi­schen Kom­men­tar, wie er von de Jong 2001 für die Odys­see vor­ge­legt wurde; für Ovids „Me­ta­mor­pho­sen“ am ehes­ten ver­gleich­bar Bar­chie­si 2002.

13 Eine gut ver­ständ­li­che „Ein­füh­rung in die Er­zähl­theo­rie“ mit zahl­rei­chen li­te­ra­ri­schen Bei­spie­len bie­tet Mar­ti­nez/Schef­fel 2016.

 

Vor­über­le­gun­gen und me­tho­di­sche Hin­wei­se: Her­un­ter­la­den [docx][47 KB]

Vor­über­le­gun­gen und me­tho­di­sche Hin­wei­se: Her­un­ter­la­den [pdf][726 KB]

 

Wei­ter zu Text­aus­wahl: In­vi­dia, Mi­ner­va und Aglau­ros – Ac­taeon und Diana