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In­vi­dia Epi­so­de (Leh­rer)

Kopf­ki­no bei Ovid – Ein­füh­rung am Bei­spiel der In­vi­dia-Epi­so­de (Met. 2, 760-832)

Aglau­ros, eine Pries­te­rin der Göt­tin Mi­ner­va, hat einen Be­fehl ihrer himm­li­schen Her­rin miss­ach­tet. Dann er­weist sich Aglau­ros auch noch als hab­gie­rig: Denn als sich Mer­kur in ihre Schwes­ter Herse ver­liebt, for­dert sie von dem Gott rei­chen Lohn dafür, dass sie ihm den Zu­gang zur Schwes­ter er­mög­licht. Nun hat Mi­ner­va genug: Sie möch­te ihre Die­ne­rin Aglau­ros be­stra­fen. Dazu macht sich die Göt­tin auf den Weg zu In­vi­dia, der per­so­ni­fi­zier­ten Ge­stalt der Miss­gunst oder des Nei­des, auf: Diese soll die Pries­te­rin im Auf­trag Mi­ner­vas mit ihrem zer­set­zen­den Gift des Neids in­fi­zie­ren.

  1. KINO im Kopf: Wer sieht? – Der point of view zu VV 9-37:

    Als Mi­ner­va mit ihrem Speer an die Türe pocht, flie­gen die Tür­flü­gel auf: Es kommt zur Be­geg­nung der Gott­heit mit In­vi­dia:

    1. Zeige, an wel­chen Stel­len im Fol­gen­den die Blick­rich­tung/der point of view wech­selt.
      Stell dir zu die­sem Zweck vor, du müss­test die Szene ver­fil­men, und be­stim­me, an wel­chen Stel­len die Ka­me­ra­ein­stel­lung sich än­dert und wo ein Film­schnitt ge­setzt wer­den muss.

      LÖ­SUN­GEN KUR­SIV

      • Die glei­che Szene müss­te aus drei Blick­win­keln ge­dreht wer­den:
        1. point of view der Mi­ner­va auf In­vi­dia, wie sie die Vi­pern ver­zehrt - SCHNITT
        2. point of view der In­vi­dia (POV) auf die präch­tig be­waff­ne­te und gött­lich-schö­ne, Mi­ner­va - SCHNITT
        3. ‚neu­tra­le‘ Ka­me­ra­ein­stel­lung auf das ab­sto­ßen­de Äu­ße­re der In­vi­dia, das von der Ka­me­ra nach und nach ‚ab­ge­tas­tet‘ wird:
          • close-up: stöh­nen­des und blei­ches Ge­sicht, schie­len­der und müder sowie ge­quäl­ter Blick, gift­un­ter­lau­fe­ne Zunge, fau­len­de Zähne
          • Halb­to­ta­le: ma­ge­rer Kör­per und von Galle trie­fen­de Brust - SCHNITT
        4. point of view der In­vi­dia auf Mi­ner­va, die erst ihren Auf­trag aus­spricht und dann flucht­ar­tig ab­fliegt und in der Ferne ent­schwin­det

      Be­reits an die­ser Stel­le soll­te von der LP im UG mit den SuS the­ma­ti­siert wer­den, dass in einer Er­zäh­lung, an­ders als in einem Film, auch wei­te­re Emp­fin­dun­gen und in­ne­re Zu­stän­de und Ge­füh­le einer Figur di­rekt (und nicht nur vi­su­ell ver­mit­telt) be­schrie­ben wer­den kön­nen. Das heißt: die Frage: Wer sieht? muss häu­fig er­wei­tert wer­den um wei­te­re Di­men­sio­nen wie: Wer hört? Wer riecht? Wer fühlt und emp­fin­det? Diese Aus­wei­tung kann dann an­hand der Auf­ga­ben 1b und 2 und 4 ver­tieft wer­den.

       
    2. Be­le­ge den Wech­sel des point of view am la­tei­ni­schen Text. TIPP: Achte auf Aus­drü­cke und Ver­ben, die ein Sehen aus­drü­cken.
      • POV 1 (Mi­ner­va): Zu­nächst sieht Mi­ner­va In­vi­dia, wie sie Vi­pern­fleisch ver­zehrt: Videt (Sub­jekt Mi­ner­va) intus eden­tem … In­vi­diam (VV 9f), muss aber ihren Blick – vor Ekel/aus Schre­cken – so­fort ab­wen­den (vi­saque ocu­los aver­tit: V 11); selbst als Mi­ner­va ihren Auf­trag an In­vi­dia aus­spricht (V23ff), ist nur davon die Rede, dass sie ihr Ge­gen­über kurz an­spricht – nicht, dass sie In­vi­dia an­sieht.
      • POV 2 (In­vi­dia): An­schlie­ßend wech­selt die Blick­rich­tung: Der Leser sieht auf die Göt­tin Mi­ner­va mit den Augen der In­vi­dia, die – nei­disch – auf die schö­ne Ge­stalt und Be­waff­nung der Göt­tin schaut: utque deam vidit for­maque ar­mis­que de­c­o­ram (V 14).
      • POV 3 (von außen): Die an­schlie­ßen­de ge­naue Be­schrei­bung der In­vi­dia (V 16-23) ge­schieht aus dem Blick­win­kel eines au­ßen­ste­hen­den ‚all­wis­sen­den‘ Er­zäh­lers, der zu­gleich die Ge­füh­le und Ge­dan­ken der In­vi­dia be­schreibt; denn Mi­ner­va hat ja ihre Augen ab­ge­wandt.3
      • POV 2 (In­vi­dia): Als die Gott­heit Mi­ner­va nach ihrem Auf­trag In­vi­dia flucht­ar­tig ver­lässt, indem sie sich mit ihrem Speer von der Erde ab­stößt (fugit et in­pres­sa tellu­rem rep­pu­lit hasta: V 27), sieht der Leser dies wie­der mit den Augen der In­vi­dia: Diese schaut der Göt­tin „mit schie­fem (d. h. schie­len­dem) Blick“ nach (Illa deam ob­li­quo fu­gi­en­tem lu­mi­ne cer­nens: V 28).
  2. Kopf­ki­no mit Köpf­chen zu VV 1-37:

    Die In­vi­dia-Epi­so­de zeigt nicht nur, wie ab­sichts­voll und raf­fi­niert der Blick des Le­sers ge­lenkt wird, sie the­ma­ti­siert und re­flek­tiert auch das Thema „Sehen“/vi­de­re. Der ganze Ab­schnitt der Verse 1-37 spielt mit den ver­schie­de­nen Be­deu­tun­gen, die sich aus der Ety­mo­lo­gie des Wor­tes In|vidia und stamm­ver­wand­ter Wör­ter er­ge­ben:

    • in|vi­de­re: auf etwas schau­en; mit nei­di­schem Blick an­se­he
    • in|vidus,a,um: scheel auf etwas schau­end (vgl. im Deut­schen: [nei­disch] auf etwas schie­len/jdn. scheel an­schau­en): Beim Schie­len weiß man nicht, wohin genau je­mand schaut!); Neid und Miss­gunst sind da­durch cha­rak­te­ri­siert, dass sie ihren nei­di­schen Blick nicht offen zei­gen; es wirkt, als würde ein Nei­der eben nicht hin­schau­en (in|vi­de­re)
    • in|visus,a,um: un­ge­se­hen, un­sicht­bar: Neid und Miss­gunst kann man nur schwer oder gar nicht er­ken­nen bzw. sehen, Neid und Miss­gunst selbst blei­ben meist un­sicht­bar und ver­bor­gen
    • in|visus,a,um: ver­hasst; (aktiv) has­send
    • Ar­bei­te her­aus, wo im la­tei­ni­schen Text diese ein­zel­nen Be­deu­tungs­as­pek­te an­ge­spro­chen wer­den. Ori­en­tie­re dich am ge­ge­be­nen Bei­spiel:
    • z. B.: In­vi­di­as Be­hau­sung ist an einem ab­ge­le­ge­nen ab­so­lut licht­lo­sen Ort „in der Tiefe eines Tals ver­bor­gen“, d. h. In­vi­dia ist der Sicht­bar­keit ent­zo­gen und ei­gent­lich ganz und gar un­sicht­bar;
      • In­vi­dia selbst ist so häss­lich und un­an­sehn­lich, dass selbst die Göt­tin Mi­ner­va sie kaum an­schau­en kann bzw. mag, sie muss ihren Blick so­fort ab­wen­den: visa ocu­los aver­tit (V 11), sie „ver­ab­scheut“ bzw. „hasst“ In­vi­dia: oderat illam (V 23);
      • In­vi­dia selbst schaut nei­disch auf alles, was be­nei­dens­wert ist:
      • auf die Schön­heit von Mi­ner­vas Ge­stalt und Waf­fen: deam vidit for­maque ar­mis­que de­c­o­ram (V 14);
      • auf den Er­folg der Men­schen, den sie nicht mag: videt in­g­ra­tos … suc­ces­sus ho­mi­num (V 22);
      • In­vi­di­as Blick ist „schief“, d. h. sie schielt: nusquam recta acies (V 17), auch der flüch­ten­den Mi­ner­va schaut sie schie­lend hin­ter­her: ob­li­quo lu­mi­ne cer­nens (V 28);
      • der An­blick von Schö­nem be­rei­tet In­vi­dia Kum­mer und Schmer­zen und ist ihr ver­hasst.
      • sie „mag nicht den Er­folg der Men­schen“ (in­g­ra­tos ... suc­ces­sus ho­mi­num: V 21f) und „ver­zehrt sich bei des­sen An­blick“: in­ta­be­scit vi­den­do (V 21)
      • als sie den Burg­berg von Athen, die Akro­po­lis, er­blickt (con­spi­cit arcem: 35), muss In­vi­dia bei­na­he wei­nen – pa­ra­do­xer­wei­se ge­ra­de des­halb, weil sie nichts sieht, was einer Träne wert, d. h. häss­lich oder ne­ga­tiv wäre (vix tenet la­cri­mas, quia nil la­cri­ma­bi­le cer­nit: V 37)
  3. Kopf­ki­no – macht Un­sicht­ba­res sicht­bar

    Zur Kunst von Ovids „Kopf­ki­no“ ge­hört es auch, dass in be­son­de­rem Maße un­sicht­ba­res psy­chi­sches Er­le­ben und cha­rak­ter­li­che Ei­gen­schaf­ten für den Leser sicht­bar und er­leb­bar ge­macht wer­den.

    1. a. An die­ser Text­stel­le ge­lingt dies vor allem da­durch, dass eine ne­ga­ti­ve Cha­rak­ter­ei­gen­schaft, ein Las­ter, zu einer sicht­bar han­deln­den Per­son aus­ge­stal­tet ist, deren Äu­ße­res die ver­schie­de­nen As­pek­te der ne­ga­ti­ven Ei­gen­schaft ver­an­schau­licht. (Bei der Per­so­ni­fi­ka­ti­on der In­vi­dia an die­ser Stel­le han­delt es sich um eine Form der Al­le­go­rie [s. In­fo­kas­ten unten].) Er­gän­ze die fol­gen­de Ta­bel­le aus den Ver­sen 1-37:
Äu­ße­re Ge­stalt la­tei­ni­scher Beleg Bild für
schwar­zer Eiter nigro tabo (V 1) ab­sto­ßen­de und krank­haft-an­ste­cken­de Wir­kung von Neid
Mi­ner­va isst Vi­pern-Fleisch eden­tem vi­pe­re­as car­nes (V 8f) zer­set­zen­de Kraft des Nei­des, der alle Freu­de an Po­si­ti­vem ver­dirbt und Schmerz ver­ur­sacht
blei­ches und ma­ge­res Äu­ße­res macies in cor­po­re toto Folge der stän­di­gen schmerz­haf­ten Be­schäf­ti­gung mit dem Er­folg bzw. Glück an­de­rer
Schlaf­lo­sig­keit nec frui­tur somno vi­gil­a­ci­bus ex­ci­ta curis Die stän­di­ge Fi­xie­rung auf das Glück und den Er­folg an­de­rer lässt den Nei­der nicht zur Ruhe kom­men.
schie­len­der Blick nusquam recta acies (V 17),
ob­li­quo lu­mi­ne (V 28)
der nei­di­sche Blick zeigt sich nor­ma­ler­wei­se nicht offen, son­dern ver­birgt sich
gift­un­ter­lau­fe­ne Zunge lin­gua suf­fo­sa ve­ne­no bös­ar­ti­ge und ruf­schä­di­gen­de Reden, die ein Nei­der häu­fig über die Be­nei­de­ten in Um­lauf setzt
In­vi­dia zer­stört auf ihrem Wege Äcker und Blü­ten­köp­fe und in­fi­ziert Völ­ker, Städ­te und Häu­ser durch ihren Hauch flo­ren­tia pro­te­rit arva exu­rit­que her­bas et summa ca­cu­mi­na car­pit ad­fla­tu­que suo po­pu­los ur­bes­que do­mos­que pol­luit zer­stö­re­ri­sche Kraft des Nei­des
. . .    
Hin­weis

Der ganze Text mit wei­te­ren Auf­ga­ben fin­det sich im Down­load

 


3 In der SuS ver­trau­ten Ter­mi­no­lo­gie wäre dies die auk­to­ria­le Per­spek­ti­ve, da der Er­zäh­ler ja auch von in­ne­ren Zu­stän­den der In­vi­dia er­zählt – im Un­ter­schied zur per­so­na­len Er­zähl­per­spek­ti­ve bei der Über­nah­me eines POV.

 

In­vi­dia Epi­so­de (Leh­rer): Her­un­ter­la­den [docx][795 KB]

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Wei­ter zu Ac­taeon