Zur Haupt­na­vi­ga­ti­on sprin­gen [Alt]+[0] Zum Sei­ten­in­halt sprin­gen [Alt]+[1]

Span­nung trotz Spoi­lers? – Vor­blick und Wer­tung

0. Die Epi­so­de und DEIN Kopf-Kino

  1. Lies zu­nächst die Epi­so­de im Gan­zen oder lass sie dir vor­le­sen.
  2. No­tie­re oder skiz­zie­re drei Sze­nen, die bei Dir ein Kino im Kopf aus­lö­sen.
  3. Ver­gleicht an­schlie­ßend in der Grup­pe, ob be­stimm­te Text­pas­sa­gen bei meh­re­ren von euch ent­spre­chen­de Bil­der und Ein­drü­cke aus­ge­löst haben, und dis­ku­tiert mög­li­che Grün­de.

1. Span­nung trotz Spoi­lers? – Vor­blick und Wer­tung

Bei der Epi­so­de um Ac­taeon han­delt es sich um einen Aus­schnitt aus einem grö­ße­ren Sa­gen­kom­plex, der sich mit Cad­mus, dem Grün­der von The­ben und Groß­va­ter des Ac­taeon, und den tra­gi­schen Schick­sa­len sei­ner Nach­kom­men be­fasst. Daher ist der Me­ta­mor­pho­se des Ac­taeon fol­gen­de Ein­lei­tung vor­an­ge­stellt:

Einleitung
  1. Das li­te­ra­ri­sche Mit­tel des Vor­blicks

    Der ge­bil­de­te an­ti­ke Leser war be­reits an die­ser Stel­le durch die­sen Vor­blick auf die Hand­lung ‚ge­spoi­lert‘, denn er wuss­te aus my­tho­lo­gi­schen Er­zäh­lun­gen, wel­cher Enkel des Cad­mus ge­meint war und auch, wel­ches Schick­sal die­sem Enkel droh­te: Ac­taeon, ein ge­schick­ter Jäger, zieht sich den Zorn der Jagd­göt­tin Diana zu. Die Göt­tin ver­wan­del­te den Jäger dar­auf­hin in einen Hirsch, der von den ei­ge­nen Hun­den zer­fleischt wird, weil diese ihren ver­wan­del­ten Herrn nicht er­ken­nen.

    Nur der Zorn der Göt­tin wurde je nach Sa­gen­ver­si­on un­ter­schied­lich be­grün­det: Nach der äl­tes­ten Ver­si­on ist Diana wü­tend, weil Ac­taeon ihrer Tante, der von Ju­pi­ter ge­lieb­ten Se­me­le, nach­stell­te; nach einer an­de­ren Va­ri­an­te prahlt Ac­taeon damit, ein bes­se­rer Jäger als Diana zu sein. Die jüngs­te Ver­si­on ent­spricht der Ge­schich­te, wie sie Ovid er­zählt. – In jedem Fall aber sind der Kern und vor allem der Aus­gang der Hand­lung gleich, wer­den also in die­sen Ver­sen vor­weg­ge­nom­men.

    Dass der Leser die Grund­hand­lung und vor allem den Aus­gang eines My­thos kennt, dass er also von vorn­her­ein ‚ge­spoi­lert‘ ist, ist nicht die Aus­nah­me in der an­ti­ken Li­te­ra­tur, son­dern eher die Regel. Über­legt daher im ge­mein­sa­men Aus­tausch:

    1. Wel­che Vor­zü­ge könn­ten für einen Leser darin lie­gen, dass er den Aus­gang einer er­zähl­ten Hand­lung be­reits kennt? – Stellt die glei­che Frage für den Fall, dass ihr den Aus­gang einer Serie oder eines Fil­mes im Vor­hin­ein kennt.
    2. Wie ist im Falle eines sol­chen Vor­blicks trotz­dem noch Span­nung für den Leser denk­bar? – Sam­melt wäh­rend eurer Be­schäf­ti­gung mit dem Text ent­spre­chen­de Ele­men­te.

    3. Wer spricht zu wem? – Be­stim­me genau, wer in die­sen ein­lei­ten­den Ver­sen je­weils zu wem spricht. Achte dazu auf Per­so­nal­pro­no­men und Ver­b­for­men.

  2. Der Er­zäh­ler spricht

    Diese Form der An­spra­che, in der der Er­zäh­ler je­man­den in der 2. Per­son an­spricht, heißt in der an­ti­ken Rhe­to­rik (Lehre von den sprach­lich-li­te­ra­ri­schen Ge­stal­tungs­mit­teln) Apo­stro­phe (s. In­fo­kas­ten).

    Er­klä­re für alle drei Fälle das Ver­hält­nis von Er­zäh­ler und dem/der/den Adres­sa­ten.

    Info

    Apo­stro­phe (grie­chisch: Ab­wen­den): Der Er­zäh­ler wen­det sich (vom er­zähl­ten Ge­sche­hen ab und) einer be­stimm­ten Figur oder dem Leser zu, indem er sie bzw. ihn di­rekt an­spricht.

  3. Er­zäh­ler – Leser – er­zähl­te Hand­lung

    Durch die drei Apo­stro­phen an die­ser Stel­le wird die ge­wohn­te Logik der Er­zäh­lung auf un­ter­schied­li­che Weise durch­bro­chen:

    Apo­stro­phe an Cad­mus und die Hunde: Der Er­zäh­ler, der keine Figur im er­zähl­ten Ge­sche­hen (so wie z. B. Ac­taeon) ist, son­dern au­ßer­halb der Er­zäh­lung steht, spricht Fi­gu­ren di­rekt an und greift da­durch wie eine Figur in die er­zähl­te Hand­lung ein. – Er­gän­ze das Mo­dell mit den pas­sen­den Be­grif­fen und den bei­den Zi­ta­ten:

    Apostrophe an Cadmus und die Hunde

    Apo­stro­phe an den Leser:

    In der drit­ten Apo­stro­phe („Wenn du ... be­trach­ten soll­test, ...“) spricht der Er­zäh­ler den Leser di­rekt an. Um das bes­ser zu ver­ste­hen, hilft es, sich klar­zu­ma­chen, dass an­ti­ke Dich­tung häu­fig vor­ge­le­sen oder viel­mehr auf­ge­führt wurde. Du kannst dir das wie bei einem Poe­try-Slam vor­stel­len: Der Slam-Poet schil­dert vor einem Pu­bli­kum leb­haft eine frei er­fun­de­ne Szene, du als Zu­hö­rer folgst ge­bannt der er­zähl­ten Hand­lung– und plötz­lich wirst du di­rekt vom Slam-Poe­ten von der Bühne herab an­ge­spro­chen: „Und was hältst du von dem Gan­zen?“ Etwas Ver­gleich­ba­res pas­siert an der Stel­le, an der der Spre­cher sagt: „Wenn du es genau be­trach­ten soll­test, wirst du ... ent­de­cken ...“ Dabei wird die ge­wohn­te Tren­nung zwi­schen dir als Zu­hö­rer bzw. Leser und dem Er­zäh­ler auf der Bühne der Er­zäh­lung auf­ge­ho­ben.

    Im Un­ter­schied zu einem Poe­try-Slam kommt es beim Text aus den „Me­ta­mor­pho­sen“ nicht dar­auf an, ob der Text vom Dich­ter selbst oder einer an­de­ren Per­son vor­ge­tra­gen wird – oder auch von einem Leser ge­le­sen wird, für die Wir­kung macht das kei­nen Unter-schied. Mit an­de­ren Wor­ten: Die his­to­ri­sche Per­son Ovid darf nicht mit dem Spre­cher bzw. Er­zäh­ler ver­wech­selt wer­den. Denn die­ser Er­zäh­ler ist Teil einer vom Autor ge­schaf­fe­nen fik­ti­ven Er­zäh­lung; daher kann er auch heute noch, 2000 Jahre nach Ovids Tod, zum Leser ‚spre­chen‘, wenn die­ser beim Lesen die Er­zäh­lung le­ben­dig wer­den lässt.

    Er­gän­ze im Mo­dell die feh­len­den Be­grif­fe:

    Ergänze die fehlenden Begriffe
  4. Der Er­zäh­ler wer­tet (op­tio­nal!)

    Der Er­zäh­ler ur­teilt an die­ser Stel­le über die Schuld des Ac­taeon; am Ende der In­ter­pre­ta­ti­ons­ein­heit sollt ihr eine Ge­richts­ver­hand­lung si­mu­lie­ren, in der es um die Schuld Ac­taeons geht. Teilt euch dazu in drei Grup­pen:

    Grup­pe A sam­melt Ar­gu­men­te für den An­walt der Diana, der im Falle des Ac­taeon auf schul­dig plä­diert.

    Grup­pe B sam­melt Ar­gu­men­te für den Ver­tei­di­ger Ac­taeons, der des­sen Un­schuld er­wei­sen möch­te.

    Grup­pe C über­legt über­ge­ord­ne­te Ge­sichts­punk­te für die Schuld­fra­ge und ver­sucht, ein ge­rech­tes Ur­teil zu for­mu­lie­ren

  5. Ac­taeon und der Autor: ein un­lös­ba­rer Kri­mi­nal­fall (op­tio­nal!)

    An einer an­de­ren Stel­le sei­nes Ge­samt­werks ver­gleicht sich der Spre­cher „Ovid“ mit Ac­taeon: Ihm selbst, dem Dich­ter, sei Ähn­li­ches wi­der­fah­ren wie dem my­thi­schen Jäger. In den „Tris­tia“ („Trau­er­ge­dich­te“) klagt „Ovid“ dar­über, dass er im Jahre 8 n. Chr. von Kai­ser Au­gus­tus aus Rom an den äu­ßers­ten Rand des rö­mi­schen Reichs nach Tomi (heute Cons­tanţa an der ru­mä­ni­schen Schwarz­meer­küs­te) ver­bannt wurde. Bis zu sei­nem Tod wurde er weder von Au­gus­tus noch von des­sen Nach­fol­ger Ti­be­ri­us be­gna­digt und nach Rom zu­rück­be­ru­fen, son­dern starb wohl im Jahre 17 n. Chr. in Tomi. – Doch wel­ches Ver­bre­chen hatte Ovid be­gan­gen, so dass er wie Ac­taeon be­straft wurde?

    Info

    Ver­ban­nung: Die Ver­ban­nung wurde für Ovid in der mil­de­ren Form einer re­le­ga­tio aus­ge­spro­chen: Der Ver­bann­te be­hielt sein Bür­ger­recht und sein Ver­mö­gen, muss­te aber Rom ver­las­sen und dau­er­haft an einen fest­ge­setz­ten Ort au­ßer­halb Ita­li­ens zie­hen. Diese mil­de­re Form der Ver­ban­nung kam vor allem für po­li­ti­sche Geg­ner zur An­wen­dung, die da­durch nicht mehr ins po­li­ti­sche Ge­sche­hen in Rom ein­grei­fen konn­ten. Eben­falls im Jahre 8 n. Chr. ver­bann­te Au­gus­tus seine En­ke­lin Iulia aus Rom wegen Ehe­bruchs – wie schon 10 Jahre zuvor auf­grund des­sel­ben Vor­wurfs deren gleich­na­mi­ge Mut­ter, Au­gus­tus‘ ein­zi­ges leib­li­ches Kind. His­to­ri­ker ver­mu­ten, dass dabei po­li­ti­sche In­tri­gen um die Nach­fol­ge des Kai­sers eine Rolle spiel­ten und dass das se­xu­el­le ‚Fehl­ver­hal­ten‘ even­tu­ell nur als Vor­wand dien­te.

    Grün­de: Als Grund für die Ver­ban­nung gibt der Spre­cher „Ovid“ in den „Tris­ti­en“ zwei Grün­de an: car­men et error (trist. 2,207): Mit dem car­men („Ge­dicht“) ist Ovids acht Jahre zuvor ver­öf­fent­lich­te An­lei­tung zur „Lie­bes­kunst“, die „Ars ama­to­ria“ ge­meint. Deren frei­zü­gi­ge Tipps zu Liebe und Ero­tik stan­den im Wi­der­spruch zur stren­gen Se­xu­al- und Ehe­mo­ral des Au­gus­tus. Für sein car­men, die „Ars ama­to­ria“ recht­fer­tigt sich „Ovid“ im zwei­ten Buch der „Tris­tia“ ge­gen­über dem Adres­sa­ten Kai­ser Au­gus­tus. Den error da­ge­gen möch­te „Ovid“ nicht wei­ter aus­füh­ren, um nicht „Wun­den“ des Au­gus­tus „wie­der auf­zu­rei­ßen“ (trist. 2,209f.).

    Fik­ti­on und Rea­li­tät: Die An­ga­ben, die der Spre­cher „Ovid“ in den „Tris­ti­en“ zu sei­nem Exil in Tomi macht (z. B. ex­trem kal­tes Dau­er­kli­ma, bar­ba­ri­sche Ein­woh­ner, mit denen er sich kaum ver­stän­di­gen kann), we­cken Zwei­fel am Rea­li­täts­be­zug; diese An­ga­ben sind teil­wei­se be­wusst nach li­te­ra­ri­schen Vor­bil­dern ge­stal­tet und in­sze­niert. Von Ovids re­le­ga­tio wis­sen wir nur aus des­sen ei­ge­nen Wer­ken und spä­te­ren Quel­len, die al­ler­dings von Ovid ab­hän­gen; es hat sich bei­spiels­wei­se keine In­schrift oder kein Grab in Tomi ge­fun­den. – Ob der his­to­ri­sche Dich­ter Ovid also tat­säch­lich aus Rom ins ferne Tomi ver­bannt wurde oder ob in den „Tris­tia“ nur ein raf­fi­nier­tes li­te­ra­ri­sches Spiel mit Fik­ti­on und Rea­li­tät ge­spielt wird, wird sich wohl nie si­cher klä­ren las­sen.1

    Zu be­ach­ten ist auf jeden Fall (wie zu­letzt in 1c be­tont): Man darf kei­nes­falls den his­to­ri­schen Autor Ovid mit dem Ich-Er­zäh­ler der „Me­ta­mor­pho­sen“ und auch nicht dem Ich-Spre­cher an­de­rer Werke Ovids gleich­set­zen: Auch wenn der Er­zäh­ler bzw. Spre­cher von sich als „Ovid“a spricht, tritt dem Leser nicht eine his­to­ri­sche Per­son ge­gen­über, son­dern ein poe­ti­sches Ich, das sich auf der Bühne der Dich­tung in der Rolle des „Ovid“ in­sze­niert.

    Wel­chen error, wel­cher fol­gen­schwe­re „Irr­tum“, wel­ches „Ver­se­hen“ ist dem Spre­cher „Ovid“ nun nach ei­ge­nen An­ga­ben un­ter­lau­fen, so dass er zur Stra­fe an den Rand der Zi­vi­li­sa­ti­on ver­bannt wurde?

error

a Mit dem numen ist die Gott­heit des Au­gus­tus ge­meint. – Über die of­fi­zi­el­le Er­nen­nung der Kai­ser (und be­reits Cae­sars) zu einem Gott mit ei­ge­nem Staats­kult, zum divus, ent­schied der Senat erst nach dem Tod des je­wei­li­gen Herr­schers. Au­gus­tus wurde in Rom also nicht be­reits zu Leb­zei­ten als „Gott“ im of­fi­zi­el­len Sinne ver­ehrt, son­dern des­sen Nach­fol­ger Ti­be­ri­us führ­te als Kom­pro­miss die Ver­eh­rung des Kai­sers in Ge­stalt des numen Au­gus­ti, des „gött­li­chen We­sens des Au­gus­tus“ ein.

Ver­voll­stän­di­ge fol­gen­de Ta­bel­le und stel­le be­grün­de­te Ver­mu­tun­gen dazu an, worin das kon­kre­te ‚Ver­ge­hen‘ Ovids be­stan­den haben könn­te.

Tabelle

 


1 Zur „Fik­ti­ons­the­se“ Sei­bert 2014, S. S. 48-54.

a Die An­füh­rungs­zei­chen zur Un­ter­schei­dung des poe­ti­schen Ich, das in der Rolle des „Ovid“ spricht, von der his­to­ri­schen Per­son Ovid.

 

Ac­taeon: Schü­ler­ma­te­ri­al: Her­un­ter­la­den [docx][271 KB]

Ac­taeon: Schü­ler­ma­te­ri­al: Her­un­ter­la­den [pdf][1 MB]

 

Wei­ter zu Die Ku­lis­se(n)