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Span­nung trotz Spoi­lers? – Vor­blick und Wer­tung

0. Die Epi­so­de und DEIN Kopf-Kino

  1. Lies zu­nächst die Epi­so­de im Gan­zen oder lass sie dir vor­le­sen.
  2. No­tie­re oder skiz­zie­re drei Sze­nen, die bei Dir ein Kino im Kopf aus­lö­sen.
  3. Ver­gleicht an­schlie­ßend in der Grup­pe, ob be­stimm­te Text­pas­sa­gen bei meh­re­ren von euch ent­spre­chen­de Bil­der und Ein­drü­cke aus­ge­löst haben, und dis­ku­tiert mög­li­che Grün­de.
Lö­sungs­hin­wei­se kur­siv

Even­tu­ell wer­den schon an die­ser Stel­le be­stimm­te Vi­sua­li­sie­rungs- und Er­zähl­stra­te­gi­en the­ma­ti­siert, die den SuS auf­fal­len oder auch aus der In­vi­dia-Epi­so­de be­kannt sind. – Um die Ima­gi­na­ti­on zu stär­ken, wäre es gut, wenn die LP den Text laut – und sehr lang­sam – vor­le­sen könn­te.

1. Span­nung trotz Spoi­lers? – Vor­blick und Wer­tung

Bei der Epi­so­de um Ac­taeon han­delt es sich um einen Aus­schnitt aus einem grö­ße­ren Sa­gen­kom­plex, der sich mit Cad­mus, dem Grün­der von The­ben und Groß­va­ter des Ac­taeon, und den tra­gi­schen Schick­sa­len sei­ner Nach­kom­men be­fasst. Daher ist der Me­ta­mor­pho­se des Ac­taeon fol­gen­de Ein­lei­tung vor­an­ge­stellt:

Einleitung
  1. Das li­te­ra­ri­sche Mit­tel des Vor­blicks

    Der ge­bil­de­te an­ti­ke Leser war be­reits an die­ser Stel­le durch die­sen Vor­blick auf die Hand­lung ‚ge­spoi­lert‘, denn er wuss­te aus my­tho­lo­gi­schen Er­zäh­lun­gen, wel­cher Enkel des Cad­mus ge­meint war und auch, wel­ches Schick­sal die­sem Enkel droh­te: Ac­taeon, ein ge­schick­ter Jäger, zieht sich den Zorn der Jagd­göt­tin Diana zu. Die Göt­tin ver­wan­del­te den Jäger dar­auf­hin in einen Hirsch, der von den ei­ge­nen Hun­den zer­fleischt wird, weil diese ihren ver­wan­del­ten Herrn nicht er­ken­nen.

    Nur der Zorn der Göt­tin wurde je nach Sa­gen­ver­si­on un­ter­schied­lich be­grün­det: Nach der äl­tes­ten Ver­si­on ist Diana wü­tend, weil Ac­taeon ihrer Tante, der von Ju­pi­ter ge­lieb­ten Se­me­le, nach­stell­te; nach einer an­de­ren Va­ri­an­te prahlt Ac­taeon damit, ein bes­se­rer Jäger als Diana zu sein. Die jüngs­te Ver­si­on ent­spricht der Ge­schich­te, wie sie Ovid er­zählt. – In jedem Fall aber sind der Kern und vor allem der Aus­gang der Hand­lung gleich, wer­den also in die­sen Ver­sen vor­weg­ge­nom­men.

    Dass der Leser die Grund­hand­lung und vor allem den Aus­gang eines My­thos kennt, dass er also von vorn­her­ein ‚ge­spoi­lert‘ ist, ist nicht die Aus­nah­me in der an­ti­ken Li­te­ra­tur, son­dern eher die Regel. Über­legt daher im ge­mein­sa­men Aus­tausch:

    1. Wel­che Vor­zü­ge könn­ten für einen Leser darin lie­gen, dass er den Aus­gang einer er­zähl­ten Hand­lung be­reits kennt? – Stellt die glei­che Frage für den Fall, dass ihr den Aus­gang einer Serie oder eines Fil­mes im Vor­hin­ein kennt.
      Lö­sungs­hin­wei­se kur­siv
      • Le­se­ver­gnü­gen liegt darin, wel­cher Ver­si­on der Text folgt (z. B. Ver­hält sich Ac­taeon schuld­haft?) und wel­che Hand­lungs­schrit­te und Wen­dun­gen im Ein­zel­nen zum Aus­gang der Hand­lung füh­ren
      • er­höh­ter Le­se­ge­nuss durch den Wis­sens­vor­sprung ge­gen­über den ah­nungs­lo­sen Fi­gu­ren und de­tek­ti­vi­sche Kon­zen­tra­ti­on auf De­tails, die be­reits das Ende an­deu­ten (ver­gleich­bar einem Krimi, bei dem zu Be­ginn Tat und Täter ge­zeigt wer­den; ggf. kann die Lehr­per­son hier den Be­griff der epi­schen Iro­nie ein­füh­ren)
      • er­höh­te Kon­zen­tra­ti­on auf das WIE statt auf das WAS der Er­zäh­lung, d. h. auf die er­zäh­le­ri­sche Ge­stal­tung – evtl. auch im Ver­gleich zu an­de­ren li­te­ra­ri­schen Ge­stal­tun­gen des­sel­ben Mo­tivs

      Eine psy­cho­lo­gisch-em­pi­ri­sche Stu­die aus dem Jahr 2011 deu­tet sogar dar­auf hin, dass Leser*innen Ge­schich­ten mit hö­he­rem Ver­gnü­gen re­zi­pie­ren, WENN sie deren Aus­gang ken­nen1

    2. Wie ist im Falle eines sol­chen Vor­blicks trotz­dem noch Span­nung für den Leser denk­bar? – Sam­melt wäh­rend eurer Be­schäf­ti­gung mit dem Text ent­spre­chen­de Ele­men­te.

      Lö­sungs­hin­wei­se kur­siv

      die As­pek­te aus 1. wer­den hier im Ein­zel­nen an­schau­lich; sie las­sen sich schwer von­ein­an­der tren­nen, hier nur ei­ni­ge Bei­spie­le:

      • Span­nung (s. i. oben) durch
        • Hand­lungs­schrit­te im Ein­zel­nen:
          • Ver­hält sich Ac­taeon schuld­haft? – Ac­taeon ‚stol­pert‘ ah­nungs­los und schuld­los in die Sze­ne­rie und wird so­fort er­tappt (s. 3b)
          • ...
        • un­ter­schied­li­ches Wis­sen von Leser und Figur und er­zäh­le­ri­sche Ge­stal­tung:
          • Ac­taeon wird sich erst mit Ver­zö­ge­rung sei­ner Ver­wand­lung be­wusst
          • Ac­taeon ist für einen kur­zen Mo­ment un­schlüs­sig, wie er sich ret­ten soll
        • das WIE der Er­zäh­lung:
          • Vor­aus­deu­tun­gen bzw. epi­sche Iro­nie in den Ek­phraseis (s. 2b), den „be­deu­tungs­vol­len Be­zü­gen“ (s. 4)
          • in­tra­tex­tu­el­le Be­zü­ge (Diana, die Ver­let­zung der Scham auch bei der un­schul­di­gen Kal­lis­to un­barm­her­zig be­straft; s. 3a)
          • ...
    3. Wer spricht zu wem? – Be­stim­me genau, wer in die­sen ein­lei­ten­den Ver­sen je­weils zu wem spricht. Achte dazu auf Per­so­nal­pro­no­men und Ver­b­for­men.

      Lö­sungs­hin­wei­se kur­siv

      In allen drei Fäl­len spricht der Er­zäh­ler (der keine der be­tei­lig­ten Fi­gu­ren ist).

      • In V 1 spricht der Er­zäh­ler Cad­mus im Dativ des Per­so­nal­pro­no­mens der zwei­ten Per­son (tibi) und im Vo­ka­tiv (Cadme) an.
      • In V 3 wer­den die Jagd­hun­de des Cad­mus im No­mi­na­tiv des Per­so­nal­pro­no­mens der 2. Per­son Plu­ral (vos) und im Vo­ka­tiv (canes) an­ge­spro­chen.
      • In V 4 und 5 spricht der Er­zäh­ler den Leser in der 2. Per­son Sin­gu­lar an (qua­e­ras; in­ve­nies).

    Die bei­den fol­gen­den Blät­ter dür­fen erst im An­schluss an die Be­ar­bei­tung die­ser Auf­ga­be an die SuS aus­ge­teilt wer­den!

  2. Der Er­zäh­ler spricht

    Diese Form der An­spra­che, in der der Er­zäh­ler je­man­den in der 2. Per­son an­spricht, heißt in der an­ti­ken Rhe­to­rik (Lehre von den sprach­lich-li­te­ra­ri­schen Ge­stal­tungs­mit­teln) Apo­stro­phe (s. In­fo­kas­ten).

    Er­klä­re für alle drei Fälle das Ver­hält­nis von Er­zäh­ler und dem/der/den Adres­sa­ten.

    Info

    Apo­stro­phe (grie­chisch: Ab­wen­den): Der Er­zäh­ler wen­det sich (vom er­zähl­ten Ge­sche­hen ab und) einer be­stimm­ten Figur oder dem Leser zu, indem er sie bzw. ihn di­rekt an­spricht.

    Lö­sungs­hin­wei­se kur­siv
    • V 1 (Cad­mus): Hier wird eine di­rek­te Ver­bin­dung zwi­schen einer Figur der Er­zäh­lung und dem Er­zäh­ler her­ge­stellt: Der Er­zäh­ler zeigt Ein­füh­lungs­ver­mö­gen ge­gen­über dem an­ge­spro­che­nen Cad­mus.
    • V 3 (Hunde): Durch die An­re­de der Hunde er­zeugt der Er­zäh­ler eine bei­na­he zy­nisch wir­ken­de Nähe zu den Tie­ren, die Ac­taeon in sei­ner Hirsch­ge­stalt zer­flei­schen.
    • V4-5 (Leser): Der Er­zäh­ler er­greift damit ge­gen­über dem Leser klar Par­tei für die Figur des Ac­taeon, der sei­ner Mei­nung nach zu Un­recht von Diana be­straft wurde, da sei­nem „Ver­ge­hen“ ein – ver­zeih­li­cher – Irr­tum (error) zu­grun­de liege. Da­durch hat der Leser das Ge­fühl, in die Er­zäh­lung mit­ein­be­zo­gen zu wer­den: Der Leser wird gleich­sam zu­sam­men mit dem Er­zäh­ler zum Be­ob­ach­ter der er­zähl­ten Hand­lung (s.u.)
  3. Er­zäh­ler – Leser – er­zähl­te Hand­lung

    Durch die drei Apo­stro­phen an die­ser Stel­le wird die ge­wohn­te Logik der Er­zäh­lung auf un­ter­schied­li­che Weise durch­bro­chen:

    Apo­stro­phe an Cad­mus und die Hunde: Der Er­zäh­ler, der keine Figur im er­zähl­ten Ge­sche­hen (so wie z. B. Ac­taeon) ist, son­dern au­ßer­halb der Er­zäh­lung steht, spricht Fi­gu­ren di­rekt an und greift da­durch wie eine Figur in die er­zähl­te Hand­lung ein. – Er­gän­ze das Mo­dell mit den pas­sen­den Be­grif­fen und den bei­den Zi­ta­ten:

    Apostrophe an Cadmus und die Hunde

    Apo­stro­phe an den Leser:

    In der drit­ten Apo­stro­phe („Wenn du ... be­trach­ten soll­test, ...“) spricht der Er­zäh­ler den Leser di­rekt an. Um das bes­ser zu ver­ste­hen, hilft es, sich klar­zu­ma­chen, dass an­ti­ke Dich­tung häu­fig vor­ge­le­sen oder viel­mehr auf­ge­führt wurde. Du kannst dir das wie bei einem Poe­try-Slam vor­stel­len: Der Slam-Poet schil­dert vor einem Pu­bli­kum leb­haft eine frei er­fun­de­ne Szene, du als Zu­hö­rer folgst ge­bannt der er­zähl­ten Hand­lung– und plötz­lich wirst du di­rekt vom Slam-Poe­ten von der Bühne herab an­ge­spro­chen: „Und was hältst du von dem Gan­zen?“ Etwas Ver­gleich­ba­res pas­siert an der Stel­le, an der der Spre­cher sagt: „Wenn du es genau be­trach­ten soll­test, wirst du ... ent­de­cken ...“ Dabei wird die ge­wohn­te Tren­nung zwi­schen dir als Zu­hö­rer bzw. Leser und dem Er­zäh­ler auf der Bühne der Er­zäh­lung auf­ge­ho­ben.

    Im Un­ter­schied zu einem Poe­try-Slam kommt es beim Text aus den „Me­ta­mor­pho­sen“ nicht dar­auf an, ob der Text vom Dich­ter selbst oder einer an­de­ren Per­son vor­ge­tra­gen wird – oder auch von einem Leser ge­le­sen wird, für die Wir­kung macht das kei­nen Unter-schied. Mit an­de­ren Wor­ten: Die his­to­ri­sche Per­son Ovid darf nicht mit dem Spre­cher bzw. Er­zäh­ler ver­wech­selt wer­den. Denn die­ser Er­zäh­ler ist Teil einer vom Autor ge­schaf­fe­nen fik­ti­ven Er­zäh­lung; daher kann er auch heute noch, 2000 Jahre nach Ovids Tod, zum Leser ‚spre­chen‘, wenn die­ser beim Lesen die Er­zäh­lung le­ben­dig wer­den lässt.

    Er­gän­ze im Mo­dell die feh­len­den Be­grif­fe:

    Ergänze die fehlenden Begriffe

    Die Auf­ga­ben d. und e. sind op­tio­nal. – Denk­bar wäre auch, dass die SuS sie im Sinne einer the­ma­ti­schen Dif­fe­ren­zie­rung nach per­sön­li­chem In­ter­es­se aus­wäh­len.

  4. Der Er­zäh­ler wer­tet (op­tio­nal!)

    Der Er­zäh­ler ur­teilt an die­ser Stel­le über die Schuld des Ac­taeon; am Ende der In­ter­pre­ta­ti­ons­ein­heit sollt ihr eine Ge­richts­ver­hand­lung si­mu­lie­ren, in der es um die Schuld Ac­taeons geht. Teilt euch dazu in drei Grup­pen:

    Grup­pe A sam­melt Ar­gu­men­te für den An­walt der Diana, der im Falle des Ac­taeon auf schul­dig plä­diert.

    Grup­pe B sam­melt Ar­gu­men­te für den Ver­tei­di­ger Ac­taeons, der des­sen Un­schuld er­wei­sen möch­te.

    Grup­pe C über­legt über­ge­ord­ne­te Ge­sichts­punk­te für die Schuld­fra­ge und ver­sucht, ein ge­rech­tes Ur­teil zu for­mu­lie­ren

    Lö­sungs­hin­wei­se kur­siv

    Diese Auf­ga­be ist op­tio­nal. Even­tu­ell ge­lan­gen SuS re­la­tiv bald zu der Auf­fas­sung, dass sich eine sol­che Ver­hand­lung er­üb­rigt, da Ac­taeon nach heu­ti­gen Maß­stä­ben keine Schuld trifft. – Auf jeden Fall soll­te aber im Laufe der Ein­heit the­ma­ti­siert wer­den, dass die re­li­giö­se Auf­fas­sung der An­ti­ke hier auch ein an­de­res Ur­teil fäl­len kann: Auch eine schuld­lo­se Ver­let­zung des gött­li­chen Be­reichs zieht – selbst wenn sie ohne jede Ab­sicht er­folgt – un­wei­ger­lich gött­li­che Stra­fe nach sich. – Diese Auf­fas­sung ist u. a. auch zen­tral für ein Ver­ständ­nis des rö­mi­schen Pro­di­gi­en­we­sens, gemäß dem eine un­ab­sicht­li­che Ver­nach­läs­si­gung der Gott­heit deren Zorn be­wir­ken kann. Diese muss dann nach ent­spre­chen­der Re­cher­che durch die re­li­giö­sen Spe­zia­lis­ten (z. B. die de­cem­vi­ri, die die Si­byl­li­ni­schen Bü­cher kon­sul­tier­ten) mit­tels eines be­stimm­ten Ritus wie­der ver­söhnt wer­den.2 – Al­ter­na­tiv oder er­gän­zend kann auch das die Ac­taeon-Epi­so­de ab­schlie­ßen­de zwie­späl­ti­ge Ur­teil der Göt­ter (vgl. die letz­te Seite des Text­blatts: VV 253-255) ein­ge­setzt wer­den.

  5. Ac­taeon und der Autor: ein un­lös­ba­rer Kri­mi­nal­fall (op­tio­nal!)

    An einer an­de­ren Stel­le sei­nes Ge­samt­werks ver­gleicht sich der Spre­cher „Ovid“ mit Ac­taeon: Ihm selbst, dem Dich­ter, sei Ähn­li­ches wi­der­fah­ren wie dem my­thi­schen Jäger. In den „Tris­tia“ („Trau­er­ge­dich­te“) klagt „Ovid“ dar­über, dass er im Jahre 8 n. Chr. von Kai­ser Au­gus­tus aus Rom an den äu­ßers­ten Rand des rö­mi­schen Reichs nach Tomi (heute Cons­tanţa an der ru­mä­ni­schen Schwarz­meer­küs­te) ver­bannt wurde. Bis zu sei­nem Tod wurde er weder von Au­gus­tus noch von des­sen Nach­fol­ger Ti­be­ri­us be­gna­digt und nach Rom zu­rück­be­ru­fen, son­dern starb wohl im Jahre 17 n. Chr. in Tomi. – Doch wel­ches Ver­bre­chen hatte Ovid be­gan­gen, so dass er wie Ac­taeon be­straft wurde?

    Info

    Ver­ban­nung: Die Ver­ban­nung wurde für Ovid in der mil­de­ren Form einer re­le­ga­tio aus­ge­spro­chen: Der Ver­bann­te be­hielt sein Bür­ger­recht und sein Ver­mö­gen, muss­te aber Rom ver­las­sen und dau­er­haft an einen fest­ge­setz­ten Ort au­ßer­halb Ita­li­ens zie­hen. Diese mil­de­re Form der Ver­ban­nung kam vor allem für po­li­ti­sche Geg­ner zur An­wen­dung, die da­durch nicht mehr ins po­li­ti­sche Ge­sche­hen in Rom ein­grei­fen konn­ten. Eben­falls im Jahre 8 n. Chr. ver­bann­te Au­gus­tus seine En­ke­lin Iulia aus Rom wegen Ehe­bruchs – wie schon 10 Jahre zuvor auf­grund des­sel­ben Vor­wurfs deren gleich­na­mi­ge Mut­ter, Au­gus­tus‘ ein­zi­ges leib­li­ches Kind. His­to­ri­ker ver­mu­ten, dass dabei po­li­ti­sche In­tri­gen um die Nach­fol­ge des Kai­sers eine Rolle spiel­ten und dass das se­xu­el­le ‚Fehl­ver­hal­ten‘ even­tu­ell nur als Vor­wand dien­te.

    Grün­de: Als Grund für die Ver­ban­nung gibt der Spre­cher „Ovid“ in den „Tris­ti­en“ zwei Grün­de an: car­men et error (trist. 2,207): Mit dem car­men („Ge­dicht“) ist Ovids acht Jahre zuvor ver­öf­fent­lich­te An­lei­tung zur „Lie­bes­kunst“, die „Ars ama­to­ria“ ge­meint. Deren frei­zü­gi­ge Tipps zu Liebe und Ero­tik stan­den im Wi­der­spruch zur stren­gen Se­xu­al- und Ehe­mo­ral des Au­gus­tus. Für sein car­men, die „Ars ama­to­ria“ recht­fer­tigt sich „Ovid“ im zwei­ten Buch der „Tris­tia“ ge­gen­über dem Adres­sa­ten Kai­ser Au­gus­tus. Den error da­ge­gen möch­te „Ovid“ nicht wei­ter aus­füh­ren, um nicht „Wun­den“ des Au­gus­tus „wie­der auf­zu­rei­ßen“ (trist. 2,209f.).

    Fik­ti­on und Rea­li­tät: Die An­ga­ben, die der Spre­cher „Ovid“ in den „Tris­ti­en“ zu sei­nem Exil in Tomi macht (z. B. ex­trem kal­tes Dau­er­kli­ma, bar­ba­ri­sche Ein­woh­ner, mit denen er sich kaum ver­stän­di­gen kann), we­cken Zwei­fel am Rea­li­täts­be­zug; diese An­ga­ben sind teil­wei­se be­wusst nach li­te­ra­ri­schen Vor­bil­dern ge­stal­tet und in­sze­niert. Von Ovids re­le­ga­tio wis­sen wir nur aus des­sen ei­ge­nen Wer­ken und spä­te­ren Quel­len, die al­ler­dings von Ovid ab­hän­gen; es hat sich bei­spiels­wei­se keine In­schrift oder kein Grab in Tomi ge­fun­den. – Ob der his­to­ri­sche Dich­ter Ovid also tat­säch­lich aus Rom ins ferne Tomi ver­bannt wurde oder ob in den „Tris­tia“ nur ein raf­fi­nier­tes li­te­ra­ri­sches Spiel mit Fik­ti­on und Rea­li­tät ge­spielt wird, wird sich wohl nie si­cher klä­ren las­sen.3

    Zu be­ach­ten ist auf jeden Fall (wie zu­letzt in 1c be­tont): Man darf kei­nes­falls den his­to­ri­schen Autor Ovid mit dem Ich-Er­zäh­ler der „Me­ta­mor­pho­sen“ und auch nicht dem Ich-Spre­cher an­de­rer Werke Ovids gleich­set­zen: Auch wenn der Er­zäh­ler bzw. Spre­cher von sich als „Ovid“a spricht, tritt dem Leser nicht eine his­to­ri­sche Per­son ge­gen­über, son­dern ein poe­ti­sches Ich, das sich auf der Bühne der Dich­tung in der Rolle des „Ovid“ in­sze­niert.

    Wel­chen error, wel­cher fol­gen­schwe­re „Irr­tum“, wel­ches „Ver­se­hen“ ist dem Spre­cher „Ovid“ nun nach ei­ge­nen An­ga­ben un­ter­lau­fen, so dass er zur Stra­fe an den Rand der Zi­vi­li­sa­ti­on ver­bannt wurde?

error

a Mit dem numen ist die Gott­heit des Au­gus­tus ge­meint. – Über die of­fi­zi­el­le Er­nen­nung der Kai­ser (und be­reits Cae­sars) zu einem Gott mit ei­ge­nem Staats­kult, zum divus, ent­schied der Senat erst nach dem Tod des je­wei­li­gen Herr­schers. Au­gus­tus wurde in Rom also nicht be­reits zu Leb­zei­ten als „Gott“ im of­fi­zi­el­len Sinne ver­ehrt, son­dern des­sen Nach­fol­ger Ti­be­ri­us führ­te als Kom­pro­miss die Ver­eh­rung des Kai­sers in Ge­stalt des numen Au­gus­ti, des „gött­li­chen We­sens des Au­gus­tus“ ein.

Ver­voll­stän­di­ge fol­gen­de Ta­bel­le und stel­le be­grün­de­te Ver­mu­tun­gen dazu an, worin das kon­kre­te ‚Ver­ge­hen‘ Ovids be­stan­den haben könn­te.

Tabelle

Nach die­ser Selbst­dar­stel­lung muss „Ovid“ un­ab­sicht­lich das Ver­ge­hen (culpa) von je­mand an­de­rem ge­se­hen haben; und durch diese ver­se­hent­li­che ‚Ent­de­ckung‘ wurde of­fen­bar Au­gus­tus bloß­ge­stellt – so wie Diana „nackt“ von Ac­taeon er­blickt wurde. Durch den Ver­gleich mit Diana liegt ein ero­ti­scher Kon­text nahe. – Even­tu­ell kom­men SuS auf den Ge­dan­ken, dass Ovid, ohne es zu wol­len, Mit­wis­ser von Iu­li­as Ehe­bruch ge­wor­den sein könn­te, eine Zeu­gen­schaft, die Au­gus­tus si­cher kom­pro­mit­tiert hätte – so einer der Er­klä­rungs­ver­such der In­ter­pre­ten. Die Lehr­per­son soll­te auf jeden Fall un­be­dingt deut­lich ma­chen, dass dies reine Spe­ku­la­ti­on blei­ben muss und dass Ovids raf­fi­nier­tes li­te­ra­ri­sches Spiel mit Fik­ti­on und Rea­li­tät vor­ran­gig dazu dient, die Sym­pa­thie des Le­sers in sei­nem Sinne zu len­ken.4


1 Lea­vitt/Chris­ten­feld, Ni­cho­las 2011: Story Spoi­lers Don't Spoil Sto­ries, in: Psy­cho­lo­gi­cal Sci­ence 22 (9), S. 1152-1154, Zu­sam­men­fas­sung unter: https://​jour­nals.​sa­ge­pub.​com/​doi/​abs/​10.​1177/​095​6797​6114​1700​7?​jou​rnal​Code=pss​a.

2 Vgl. Rüpke, Jörg 2001: Die Re­li­gi­on der Römer. Eine Ein­füh­rung, Mün­chen, S. 38; 220.

3 Zur „Fik­ti­ons­the­se“ Sei­bert 2014, S. S. 48-54.

4 An an­de­rer Stel­le wird das Ver­ge­hen als nicht „ge­ring“ be­zeich­net (non exi­guo cri­mi­ne: trist. 2,122) und be­tont, dass eine Stra­fe an­ge­bracht ist (V 29), auch wenn sie ge­rin­ger aus­fal­len soll­te (V577f); vgl. Sei­bert 2014, S. 136f.

a Die An­füh­rungs­zei­chen zur Un­ter­schei­dung des poe­ti­schen Ich, das in der Rolle des „Ovid“ spricht, von der his­to­ri­schen Per­son Ovid.

 

Ac­taeon: Leh­rer­ma­te­ri­al: Her­un­ter­la­den [docx][328 KB]

Ac­taeon: Leh­rer­ma­te­ri­al: Her­un­ter­la­den [pdf][2 MB]

 

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