C: Lebensreise: Von Wladiwostock bis nach Berlin
Die schon angedeutete interkulturelle Komponente des Romans ergibt sich allein schon im Kontrast aus familiärer Herkunft der Eltern Lenas an der Ostgrenze des sowjetischen Imperiums, Kema bei Wladiwostock, und dem Lebensmittelpunkt Lenas ab 1990, Berlin. Lenas Mutter und Großmutter (von Kema bis in den Kaukasus) sowie Lena (Vollendung des Weges nach Westen über St. Petersburg) legen mit „Siebenmeilenstiefeln“ einen Weg zurück, der den Ural als geografische Grenze des westlichen Europas souverän überspringt. Weite und fast märchenhaft anmutende Dimension dieser Lebensreise wird in folgender Karte sehr anschaulich dargestellt. Die Zeichnung stammt von Toni Bauhofer, nach einem grafischen Impuls der Autorin:
Diese Lebensreise lässt sich von Schülerinnen und Schülern eigenständig recherchieren, insofern die in der Karte eingezeichneten Stationen für sich genommen analysiert und beschrieben werden können: Kema steht für die Bedeutung der Vaterfigur als Teil des sowjetischen Militärs im einstigen „Imperium“, der Kaukasus für multikulturelle und vor allem literarische Einflüsse auf die Protagonistin Lena (Lena wird im Kaukasus durch die Bibliothekarin Vera in die Weltliteratur eingeführt), Leningrad für den Ort der Intelligenz und des Studiums, vor allem aber für die „Perestroika“. Die „Perestroika“ bildet die zentrale historische Zäsur, nicht nur, weil sich nun die Mauer zum Westen hin öffnet, und Lena den Weg mit ihrer Familie bis nach Berlin gehen kann. Sondern auch, weil Lena eine junge und anfangs erfüllte Liebe zu Schura in Leningrad/St. Petersburg erlebt.
Während die historischen Ereignisse um 1989 für Lena Aufbruch und Freiheit bedeuten, gestaltet sich das Leben von Ulf Seitz ab der Wende 1989 in eine ganz andere Richtung. Der Westflucht aus der DDR steht der Journalist Ulf Seitz skeptisch gegenüber. Er steigt – auch wegen der zunehmenden Republikflucht – zum stellvertretenden Chefredakteur auf, schreibt eine systemkonforme Reportage, welche „Go West?“ hinterfragt. Dieser Höhepunkt seiner Karriere bildet den Tiefpunkt seiner Familiengeschichte: Ulf Seitz büßt in den Augen seines Sohnes moralische Vorbildhaftigkeit ein, was für beider Beziehung einen irreparablen Vertrauensverlust bedeutet. Hinzu kommt, dass Ulfs Ehefrau Dora ihre kurze Liebesaffäre zur Zeit der Wende mit dem Verlust ihrer Gesundheit und Bewegungsfähigkeit bezahlt. Ulfs emotionale Unfähigkeit, tatsächlich mitzuleiden, hilft nicht dabei, die Distanz zu seiner Frau über die pflegerisch gegebene Nähe zu kompensieren. 1989 bedeutet für Ulf Seitz insgesamt eher „Abbruch“ als „Aufbruch“. Über die Rekonstruktion von „Perestroika“ und „Wende“ im Handlungsgeflecht des Romans können Schülerinnen und Schüler auf einprägsame Weise die jeweiligen Peripetien und ihre Folgen für die Protagonistin Lena sowie den Protagonist Ulf Seitz rekonstruieren.
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