Vorbemerkung
Wenn es um Sprache geht, dann geht es um den Menschen: sein Handeln basiert auf Sprache, sie prägt sein Denken und beeinflusst nachhaltig seine Kultur – sie ist der Schlüssel zur Welt. Die Ausdifferenzierung von Sprachen und Sprachräumen führt zu vielfältigen kulturspezifischen Wahrnehmungen: Sprache ist das Element literarischer Gestaltung.
Das Wissen um Sprache und ihre Beherrschung befähigt uns einerseits zum Führen des interkulturellen Dialogs und hilft einen konstruktiven Umgang mit Vielfalt zu finden. (Vgl. dazu Leitperspektive ,Bildung für Toleranz und Vielfalt‘ des Bildungsplans BW 2016)
Andererseits erlaubt uns das Wissen um Sprache Texte vor dem Hintergrund ihres kulturellen, historischen und kommunikativen Kontextes zu lesen (vgl. dazu Leitperspektive ,Medienbildung‘ des Bildungsplans BW 2016)
Die Reflexionsfähigkeit führt zu Einsichten über Wirkung und Macht von Sprache und sensibilisiert die Schülerinnen und Schülern im Umgang mit ihr.
In prozessbezogenen Kompetenzen wie dem Führen eines literarischen Gesprächs oder der Interpretation in Wort und Schrift sollen die Schülerinnen und Schüler sich dem Schlüsselthema „Sprache“ des Literaturunterrichts annehmen. Das Thema „Sprache“ ist das leitende Vergleichsthema des vorliegenden Unterrichtsvorschlags, der sich der Gattung „Lyrik“ widmet.
Die für diesen Unterrichtsvorschlag ausgewählten Lyrikerinnen und Lyriker verbindet ihre Mehrsprachigkeit. Sie schreiben alle in deutscher Sprache, manche sogar in weiteren Sprachen. Die Texte sind allesamt aus der Gegenwart, was dem Unterrichtsgegenstand eine besondere Nähe zum Leben geben soll. Die ausgewählten Texte sind schulisch bislang „unverbraucht“, was einen hohen Grad an Unbefangenheit (sowohl durch die Lehrkraft als auch durch die Schülerinnen und Schüler) im Umgang – vom ersten Lesen bis zur ausformulierten Interpretation - ermöglicht.
Ein fächerverbindender Charakter wird durch die Nutzung von fremdsprachlichen Kenntnissen erzielt. Darüber hinaus sind eigene Spracherfahrungen der Schülerinnen und Schüler - ein Großteil wächst bereits mehrsprachig auf - gefragt. Laut Statistischem Landesamt Baden-Württemberg besitzen landesweit 25,6 % aller Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund1 . 25364 Deutsche Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund und 15743 ausländische Schüler besuchen im Schuljahr 2018/2019 das Gymnasium. Der größte Anteil ausländischer Schülerinnen und Schüler besitzt im Schuljahr 2018/19 die türkische Nationalität (1215), gefolgt von insgesamt 1055 Schülerinnen und Schüler mit rumänischer Staatangehörigkeit, 946 Schülerinnen und Schüler haben die französische Staatsangehörigkeit, 344 Schülerinnen und Schüler sind spanischer Nationalität. Die französische und spanische Sprache wird darüber hinaus auch von Schülerinnen und Schülern weiterer Nationalitäten wie z. B. Togo, Tunesien oder Algerien oder Ländern Südamerikas gesprochen. Insgesamt spiegelt die vorliegende Unterrichtseinheit die Sprachverhältnisse der Schülerinnen und Schüler wider 2.
Anthropologische und interkulturelle Fragestellungen stehen im vorliegenden Unterrichtsmodell im Vordergrund. Phänomene und Prozesse einer Kultur - hier steht das Phänomen der Mehrsprachigkeit im Vordergrund - sollen reflektiert werden. Daraus ergeben sich automatisch neue Reflexionsspielräume im Umgang mit dem Anderen und Fremden.
Durch reines Lesen lässt sich Lyrik nur bedingt erschließen. Lyrik ist eine Sprachform, die der Mündlichkeit bedarf, um ihre ganze Wirkung zu entfalten. Dieser produktiven Verschiebung in Richtung Mündlichkeit wird im vorliegenden Unterrichtsmodell Rechnung getragen. Die poetische Möglichkeit eines lyrischen Textes ist anders als das Lesen einer Erzählung oder Romans. Der Alltagssprache stehen hier rhythmisch-lautliche Muster gegenüber. Durch wiederholtes Vorsagen und Auswendiglernen erschließt sich das ganze Potenzial des Gedichts.
Aus der Mündlichkeit heraus ergibt sich anderes, vertieftes Lyrikverständnis: Das Hören eines Gedichts ist ein individueller Vorgang, der ein eigenes Denken produziert, das reflektiert werden sollte. „Stilles Lesen“ bleibt bei dieser Gattung defizitär. Die Schulung des inneren Ohres und die aktive Bezugnahme sind unerlässlich: In der Lyrikvermittlung wird Lyrik als gesprochenes Ereignis gesehen. Nach Stanley Fish ist der Text „[k]ein Objekt [...], sondern ein Ereignis, etwas, das geschieht und zwar mit Beteiligung des Lesers“ 3.
Allgemeine Hinweise:
Zur besseren Lesbarkeit wird statt „Schülerinnen und Schüler“ im Text die männliche Form gewählt, es ist jedoch immer die weibliche Form mitgemeint.
Bei Zitaten aus wissenschaftlichen Publikationen, die der sog. alten Rechtschreibung folgen, passe ich die Schreibung der neuen Normierung an.
1 Berichte abrufbar als pdf: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Unterricht und Bildung, Artikel- Nummer: 3231 18001 vom 22.01.2020, S. 21; https://www.statistik-bw.de/BildungKultur/SchulenAllgem/
2 Aufgeschlüsselt durch das Statistischen Landesamts Baden-Württemberg auf persönliche Anfrage.
3 Fish, Stanley (1994). „Literatur im Leser. Affektive Stilistik.“ in : Warning (Hg.) Rezeptionsästhetik S. 196-227. (S. 198)
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