Einführung: Realismus und realistische Literatur in Europa
Vorbemerkung
Epoché (griech.) – Haltepunkt. Anzeigen, wo der Moment des Beginns einer neuen Entwicklung beginnt.
Epochenbegriffe dienen als Hilfsmittel, als Konstrukt, um eine Orientierung in der Geschichte der Kunst, Musik oder der Literatur, zu ermöglichen. Jedes Epochenmodell arbeitet mit gewissen Prämissen, die auch angreifbar sind. Im Vergleich der Epochen verschiedener Nationalliteraturen wird dies noch deutlicher. (Bsp: so würde die französische Literaturgeschichte Goethe und Schiller kaum der Klassik zuordnen.)
In vielen europäischen Nationalliteraturen gibt es den Epochennamen „Realismus“. Politische, wirtschaftliche, und soziale Umstände und Entwicklungen sowie unterschiedliche historische Kontexte der jeweiligen Nationen verschieben jedoch den Zeitraum der Epochenzuschreibung. In diesem Zusammenhang fällt oft der Begriff der internationalen Zeitverschiebung oder Phasenverschiebung.
Mit dem Begriff ,Realismus‘ lässt sich eine zentrale Strömung des 19. Jahrhunderts beschreiben – ihm wird in Europa ein großer Teil der Künste zugeordnet; in Literaturgeschichten finden sich zur weiteren Ausdifferenzierung des 19. Jahrhunderts Bezeichnungen wie Romantik, Vormärz, Junges Deutschland, Biedermeier, Naturalismus, Ästhetizismus – Fin de Siècle. Die Künste halten sich nicht an numerische Strukturen und sind somit „per Zahlennennung“ klar und präzise zuordbar. Diese Epochenbegriffe lösen einander nicht ab – es gibt Überschneidungen und fließende Übergänge – so können zwei Texte, die im selben Jahr publiziert wurden, jeweils verschiedenen Epochen zugeordnet werden.
Der Begriff ‚Realismus‘ lässt Wirklichkeitsnähe anklingen. Es geht aber nicht um die reine Darstellung der Wirklichkeit, also das Dargestellte, das was dargestellt werden soll, sondern um das Wie – die Art der Darstellung. Aktuelle politische und wirtschaftliche Ereignisse begünstigten die Etablierung des Realismus. In Frankreich vollzog sich die Wende ab den 1830er Jahren nach der Juli-Revolution (und fällt damit mit der viktorianischen Ära in Großbritannien zusammen)
In Deutschland lässt sich der literarische Realismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verorten (1840/50-1890): Ab Mitte der 1840er Jahre beginnt in Deutschland die industrielle Revolution. Politisch ereignet sich in dieser Zeit die bürgerliche 1848er Revolution; Der Versuch der Märzrevolution, in Deutschland einen Verfassungsstaat zu schaffen, scheitert. Die Nationalversammlung wird in die Paulskirche einberufen. Bismarck wird 1862 preußischer Ministerpräsident, zwei Jahre später findet der Deutsch-Dänische Krieg statt, 1870/17 der Deutsch-Französische Krieg. Es kommt nach dem Sieg über Frankreich zur Gründung des Deutschen Reiches in Form eines Kaiserreiches, der Schließung des Dreibunds mit Österreich und Italien. 1890 wird Bismarck entlassen.
Der wirtschaftliche Wandel durch die Industrialisierung und Technisierung (Eisenbahn wurde ausgebaut, Städte wuchsen) spiegelt sich in der gesellschaftlichen Transformation wider. Die Bildung der Industriegesellschaft und das Entstehen von Großindustrie werfen die soziale Frage auf - Lohnarbeit und Proletariat seien als Stichworte angeführt. 1848 veröffentlichen Marx und Engels das „Kommunistische Manifest“, 1856 erfindet Henry Bessemer den Konverter; damit beginnt die Mechanisierung der Stahlproduktion. 1863 werden der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und 1869 die Sozialdemokratische Partei gegründet, Alfred Nobel erfindet das Dynamit, 1885 konstruieren Carl Benz und Gottfried Daimler das erste Automobil
„Kennzeichnend für die Epoche nach 1848 war, dass Lebenspraxis und Literatur immer weiter auseinander fielen. [...] Julian Schmidt [schrieb] 1855 in den Grenzboten: „Die Arbeit, die sich einem bestimmten Zweck hingibt und diesem Zweck alle Kräfte opfert, erscheint als Widerspruch gegen das Ideal, weil sie ein Widerspruch gegen die Freiheit und die Allseitigkeit des Bildungsbetriebs ist. Die neue Dichtung zeigt ein Herausstreben des bürgerlichen Lebens aus einer Sphäre, das allen Halt unserer Gesellschaft zu zerstören droht. Der Stand, welcher die feste Grundlage der Gesellschaft bilden muss, hat den Glauben an sich selbst verloren.“1
Nach Russlands Niederlage im Krimkrieg 1856 und dem Thronwechsels Alexander II beginnt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Russland eine neue Kulturepoche. „Nach jahrelangen Diskussionen wurde nach dem Manifest vom 14. Februar 1861 die Leibeigenschaft abgeschafft und es folgten weitere Reformen auf den Gebieten der Justiz, der lokalen Selbstverwaltung (zemstvo) im Bildungswesen sowie in der Armee. Zensurbestimmungen wurden gelockert, man gewährte eine gewisse Meinungsfreiheit (glasnost) und diese vorsichtige Liberalisierung ermöglichte eine öffentliche Diskussion sozialer, ökonomischer, kultureller, politischer und wissenschaftlicher Probleme.2
Kontextuierung der Romane im Unterricht
Die beiden folgenden Arbeitsaufträge verlangen eine gute Recherchekompetenz. Um zu fundierten Ergebnissen zu kommen, ist es an dieser Stelle denkbar, eine Exkursion in eine Bibliothek zu unternehmen. Nach Absprache ist es in vielen Bibliotheken möglich eine Einführung in die Literaturrecherche sowie die Nutzung der Bestände zu erhalten. Einige Bibliotheken bieten mit Leseausweis (dieser ist in der Regel für Schüler/innen nach Vorlage einer Schulbescheinigung kostenfrei) Zugriff auf digitale Ausgaben.
Arbeitsauftrag 1
Gestalten Sie eine Zeitkapsel der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten in Frankreich, Russland und Deutschland/Preußen.
Zeitkapseln können arbeitsteilig zu den verschiedenen Nationen erstellt werden. In einer kleinen Ausstellung mit Diskussion können die Ergebnisse präsentiert werden.
Tipp mit Bezug zur Bildenden Kunst: Adolph Menzel, das Eisenwalzwerk 1875. Alte Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin. Mit erklärendem Text - auch als Hörversion verfügbar.
https://artsandculture.google.com/asset/eisenwalzwerk-moderne-cyklopen/pgFVPI1J1YGXZA?hl=de (aufgerufen am 08.06.2020)
Arbeitsauftrag 2
A
Was assoziieren Sie mit den Begriffen „Literaturgeschichte“ und „Epochen“? Gestalten Sie ein Assoziogramm.
B
Konsultieren Sie (z. B. in einer Bibliothek) verschiedene Literaturgeschichten mit dem Blick auf die Epocheneinteilung im 19. Jahrhundert.
Tipp: Ein/e Bibliothekar/in oder die Lehrkraft können Sie bei der Recherche und Auswahl unterstützen
B1
Betrachten Sie zunächst die Einbände der Literaturgeschichten: Welche Erwartungen werden durch das entsprechende Layout erzeugt?
B2
Wo liegen Vor- und Nachteile literaturgeschichtlicher Epocheneinteilungen? Recherchieren Sie nach grafischen Darstellungen und sichten Sie kritisch die Verwendung von Epochenbegriffen und -zuordnungen. Welche Problematik wird darin sichtbar?
C
Entscheiden Sie sich für einen Beitrag einer Literaturgeschichte Ihrer Wahl zur Epoche des Realismus. Beantworten Sie dazu die folgenden Leitfragen:
Was versteht die Literaturgeschichte unter Realismus?
Was sind Kennzeichen der Literatur im Realismus?
Welche Erwartungen werden an sie gestellt?
Alternative zu C
Lesen Sie das Zusatzmaterial „Poetischer - bürgerlicher - literarischer Realismus“ und charakterisieren Sie prägnant, was unter „Realismus“ verstanden wird.
1 In: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. von Wolfgang Beutin, 6. verbesserte und erweiterte Auflage, Metzler Stuttgart Weimar, 2001, S. 335.
2 In: Russische Literaturgeschichte. Hrsg. von Klaus Städtke, Stuttgart, zweite Auflage, Metzler 2011, S. 164.
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