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M19 bis M20

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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

Von der Sub­pri­me- zur eu­ro­päi­schen Krise 2008/2009

M 19 Die Chro­no­lo­gie der Krise und wei­te­re Be­rich­te auf ta­ges­schau.de
http://​www.​ta­ges­schau.​de/​wirt­schaft/​chr​onol​ogie​fina​nzma​rktk​rise​100.​html

M 20 Fre­de­ric Lor­don: Die sie­ben Pha­sen der Fi­nanz­kri­se. In: Le Monde di­plo­ma­tique (Hrsg.): Die Kri­sen­ma­cher. Ber­lin 2012, S.7ff

Wann die ak­tu­el­le Krise an den Fi­nanz­märk­ten zu Ende sein wird, weiß nie­mand. Auch des­halb lässt sich nicht si­cher vor­aus­sa­gen, ob und wie stark sie auf die reale Wirt­schaft über­grei­fen wird. Klar ist nur, dass diese Krise ge­ra­de­zu Mo­dell­cha­rak­ter hat: An ihrem Ab­lauf lässt sich stu­die­ren, wel­che Me­cha­nis­men in der Welt der De­ri­va­te und der Hedge­fonds am Werke sind. Und warum die neuen „Seg­nun­gen“ der Ka­pi­tal­märk­te stets neue Kri­sen her­vor­brin­gen wer­den. Vor zwei­hun­dert Jah­ren be­klag­te Hegel die chro­ni­sche Un­fä­hig­keit der Staa­ten, Leh­ren aus his­to­ri­schen Er­fah­run­gen zu zie­hen. Aber die po­li­ti­schen Mäch­te sind nicht die Ein­zi­gen, die sich als ler­nun­fä­hig er­wei­sen. Im öko­no­mi­schen Zen­trum der Ge­sell­schaft scheint das Ka­pi­tal selbst, ins­be­son­de­re das Fi­nanz­ka­pi­tal, fast un­aus­weich­lich zu den­sel­ben Irr­tü­mern und Fehl­ent­schei­dun­gen ver­dammt zu sein - und damit zur ewi­gen Wie­der­kehr der Krise. Auch wenn die ak­tu­el­le Krise der Kre­dit­märk­te neue An­la­ge­fel­der und Fol­ge­pro­ble­me be­trifft, of­fen­bart sie doch nur ein wei­te­res Mal die wich­tigs­ten In­gre­di­en­zi­en des De­sas­ters in che­misch rei­ner Form. Damit bie­tet sich allen, die es wis­sen wol­len, er­neut die Chan­ce, über die „Seg­nun­gen“ der li­be­ra­li­sier­ten Ka­pi­tal­märk­te nach­zu­sin­nen.

Al­ler­dings lässt sich der star­re Glau­be an die in­stru­men­tel­le „Ver­nunft“ der Fi­nanz­märk­te, der sich als das leib­haf­ti­ge Rea­li­täts­prin­zip aus­gibt, nicht leich­ter Hand ent­lar­ven. Un­ter­wirft die­ses Prin­zip nicht die Un­ter­neh­men ein­zig und al­lein der nüch­ter­nen Herr­schaft der Fak­ten, den Kri­te­ri­en des „Re­porting“ (in den Quar­tals­be­rich­ten) und des „Track Re­cord“ (im chro­no­lo­gi­schen Pro­to­koll der Er­folgs­da­ten)? Heute, an­ge­sichts der de­pri­mie­ren­den Fol­gen der jüngs­ten Ge­schich­te er­wei­sen sich die­sel­ben Pre­di­ger des „ver­nünf­ti­gen“ Fi­nanz­markts auf mons­trö­se Weise als blind und ah­nungs­los. Viel­leicht weil der „Track Re­cord“ der fi­nan­zi­el­len Li­be­ra­li­sie­rung nicht ge­ra­de um­wer­fend ist. Im­mer­hin ist daran zu er­in­nern, dass die neue Fi­nanz­po­li­tik, seit­dem sie gras­siert, kaum mehr als drei Jahre in Folge ohne große Un­fäl­le über­stan­den hat. Und von die­sen ver­die­nen es fast alle, in die Chro­nik der Wirt­schafts­ge­schich­te ein­zu­ge­hen: 1987 der denk­wür­di­ge Bör­sen­krach; 1990 der Zu­sam­men­bruch der „Ram­schan­lei­hen“ („Junk Bonds“) und die Krise der US-ame­ri­ka­ni­schen Spar­kas­sen („Sa­vings and Loans“); 1994 der Ver­fall der US-Staats­ob­li­ga­tio­nen; 1997 die erste Phase der in­ter­na­tio­na­len Fi­nanz­kri­se (die vor allem Thai­land, Korea und Hong­kong be­traf), ge­folgt von der zwei­ten Phase 1998 (die Russ­land und Bra­si­li­en er­fass­te); 2001 das Plat­zen der In­ter­net­bla­se und an­schlie­ßend die Krise der New Eco­no­my, die sich noch bis 2003 hin­zog. [...] Und nun, im Jahr 2007? Heute lesen wir de­vo­te In­ter­pre­ta­tio­nen wie: „Die Glo­ba­li­sie­rung der Wirt­schaft ist ein glück­brin­gen­der, aber an­fäl­li­ger Pro­zess.“ [1] So Pier­re-An­toi­ne Del­hom­mais in Le Monde, der an­ge­sichts der ge­wal­ti­gen, selbst­zer­stö­re­ri­schen, immer wie­der­keh­ren­den Er­schüt­te­run­gen die Wi­der­stands­fä­hig­keit der Bes­tie nur noch mehr zu be­wun­dern scheint, weil sie nach jeder Krise wie­der auf die Beine kommt und noch pracht­vol­ler da­steht als je zuvor. Ver­wun­der­lich nur, dass der Jour­na­list ver­gisst, was es für die Haus­halts­kas­sen der Be­schäf­tig­ten be­deu­tet, wenn nach dem Fi­nanz­rausch die Schul­den zu be­glei­chen sind. Denn un­wei­ger­lich trifft der Crash der Märk­te zu­nächst die Ban­ken, also den Kre­dit­markt, dann die In­ves­ti­tio­nen und das Wirt­schafts­wachs­tum und am Ende die Ar­beits­plät­ze. Of­fen­bar muss­te der Jour­na­list Del­hom­mais erst die bru­ta­le Über­nah­me sei­ner Zei­tung durch einen In­vest­ment­fonds er­le­ben und die Fol­gen des „Down­si­zing“, des „Ab­spe­ckens“, haut­nah ver­spü­ren, ehe er sich ge­drängt fühl­te, die Prak­ti­ken auf den Fi­nanz­märk­ten und vor allem die da­durch aus­ge­lös­ten Kri­sen und ihre so­zia­len Fol­gen zu bi­lan­zie­ren. Die Schlä­ge der Glo­ba­li­sie­rung müs­sen einen erst schmerz­haft tref­fen, bevor man auf­hört, sie als„glück­brin­gend“ zu emp­fin­den.

Die von den US-Kre­dit­märk­ten aus­ge­hen­de Krise ver­an­schau­licht ide­al­ty­pisch die fa­ta­len Ket­ten­re­ak­tio­nen der ent­fes­sel­ten Spe­ku­la­ti­on. Wie bei einer Pa­ra­de führt sie uns er­neut das to­xi­sche Ar­se­nal des Fi­nanz­ka­pi­tals vor. Es sind immer wie­der die­sel­ben Er­schei­nun­gen, die stets in der­sel­ben Pha­sen­ab­fol­ge auf­tre­ten: Ers­tens das „Ponzi-Ge­setz“ der Spe­ku­la­ti­on; zwei­tens ein leicht­fer­ti­ges Ri­si­ko­ver­hal­ten auf dem Gip­fel des Fi­nanz­zy­klus; drit­tens die struk­tu­rel­le An­fäl­lig­keit ge­gen­über mi­ni­ma­len Ver­än­de­run­gen des öko­no­mi­schen Um­felds und der Ka­ta­ly­sa­tor­ef­fekt lo­ka­ler Zu­sam­men­brü­che, der den Wan­del des Wirt­schafts­kli­ma be­schleu­nigt; vier­tens die Nei­gung zur über­stürz­ten Re­vi­si­on bis­he­ri­ger Ein­schät­zun­gen; fünf­tens die An­ste­ckungs­ge­fahr, wenn Miss­trau­en und Zwei­fel wei­te­re Markt­seg­men­te er­fas­sen; sechs­tens die Schock­wir­kung auf die Ban­ken, die sich bei der Kre­dit­ver­ga­be am stärks­ten ex­po­niert haben; sieb­tens die Ge­fahr einer Sys­tem­kri­se, also eines Zu­sam­men­bruchs der glo­ba­len Fi­nanz­märk­te und einer nach den all­fäl­li­gen Kre­dit­re­strik­tio­nen sich aus­brei­ten­den Re­zes­si­on. Wor­auf in der Regel ein Hil­fe­ruf an die Adres­se der Zen­tral­ban­ken er­geht, und zwar aus­ge­rech­net von den fa­na­ti­schen Ver­fech­tern der frei­en Pri­vat­in­itia­ti­ve.

Phase eins: das „Ponzi-Ge­setz“ der Spe­ku­la­ti­on. Die in­ne­re Ver­ket­tung der Fi­nanz­märk­te hat nie­mand prä­zi­ser dar­ge­stellt als Hyman Mins­ky, der sei­nen Be­fund in dem an­schau­li­chen Be­griff „Ka­ta­stro­phen­blind­heit“ zu­sam­men­fasst. [2] Be­son­de­re Auf­merk­sam­keit schenkt Mins­ky dem be­trü­ge­ri­schen Trei­ben von Charles Ponzi. Die­ser Spe­ku­lant kö­der­te in den 1920er-Jah­ren leicht­gläu­bi­ge Ein­falts­pin­sel mit dem Ver­spre­chen un­ge­ahn­ter Ren­di­ten. Ohne ir­gend­ei­ne re­el­le Ka­pi­tal­ba­sis, mit der er die fi­nan­zi­el­len Ver­spre­chun­gen hätte ein­lö­sen kön­nen, be­dien­te Ponzi seine ers­ten Ein­le­ger mit den ge­lie­he­nen Gel­dern derer, die er als nächs­te an­lock­te. Das ganze Sys­tem be­ruh­te also schlicht dar­auf, dass der Strom der Neu­an­kömm­lin­ge auf kei­nen Fall ab­rei­ßen durf­te. Sieht man von der be­trü­ge­ri­schen Seite die­ses Trei­bens ab, funk­tio­nie­ren alle Fi­nanz­bla­sen nach einem ver­gleich­ba­ren Me­cha­nis­mus. Sie sind auf einen gleich­blei­ben­den Zu­fluss an Li­qui­di­tät an­ge­wie­sen, an In­ves­ti­tio­nen in den Markt, um die Hausse - samt der Il­lu­si­on, dass alle von ihr pro­fi­tie­ren - am Lau­fen zu hal­ten. Es müs­sen also mög­lichst viele Men­schen in die Spe­ku­la­ti­on ver­wi­ckelt wer­den. Und na­tür­lich kom­men nach der ers­ten Welle der Ein­ge­weih­ten immer mehr „nor­ma­le“, mit wenig Sach­ver­stand aus­ge­stat­te­te Teil­neh­mer hinzu, die am Ende das Gros der Spe­ku­la­ti­ons­ba­tail­lo­ne stel­len.

Nach die­sem Mo­dell funk­tio­nier­te auch der US-Im­mo­bi­li­en­markt. Um sein Wachs­tum zu ver­ste­ti­gen, muss­ten immer mehr Men­schen und Fa­mi­li­en auf den Markt der Hy­po­the­ken­an­lei­hen ge­drängt wer­den. Am An­fang der Welle war es nicht allzu schwer, die Men­schen, die den „ame­ri­ka­ni­sche Traum“ vom ei­ge­nen Grund und Boden hegen, vom Nut­zen die­ser Form des Schul­den­ma­chens zu über­zeu­gen. Der An­reiz war be­son­ders wirk­sam, weil zuvor viele US-Bür­ger auf die In­ter­net­bla­se her­ein­ge­fal­len und ein Fi­nanz­de­ba­kel er­lebt hat­ten und nun nach an­de­ren In­ves­ti­ti­ons­mög­lich­kei­ten such­ten.

Nach­dem das Kon­tin­gent an „ge­sun­den“ Kre­dit­neh­mern re­la­tiv rasch aus­ge­schöpft war, muss­te der wach­sen­de Markt unter allen Um­stän­den wei­ter ge­stützt wer­den. Des­halb such­ten die Händ­ler mit Im­mo­bi­li­en­kre­di­ten ihren Kun­den­kreis zu er­wei­tern: Öko­no­misch „kran­ke“ Kre­dit­neh­mer? Platt­fü­ße? Asth­ma­ti­ker? Kein Pro­blem: Sie wur­den ein­fach für taug­lich be­fun­den. Die Käu­fer ström­ten in Scha­ren auf den Markt, die Prei­se gin­gen stän­dig in die Höhe.

Und wenn sich Zwei­fel am fi­nanz­wirt­schaft­li­chen Per­pe­tu­um mo­bi­le reg­ten, wur­den diese von Haus­käu­fern wie von Mak­lern mit der Über­le­gung zer­streut: Selbst wenn ein Kunde die Zin­sen und die Raten nicht be­die­nen kann, lässt sich das Haus mit Ge­winn für die eine und Pro­vi­si­on für die an­de­re Seite ver­kau­fen. Und da im Glau­ben an un­be­grenz­tes Wachs­tum des Mark­tes jeder po­ten­zi­el­le Kunde als taug­lich galt, wur­den die Kre­dit­häh­ne bis zum An­schlag auf­ge­dreht.

Die spe­ku­la­ti­ve, sich selbst er­näh­ren­de Hausse scheint allen recht zu geben. Damit ist ein Wort ge­bo­ren, das Halt­bar­keit und Zu­kunft ver­spricht: die Ka­te­go­rie der „Sub­pri­me Mort­ga­ges“. Tat­säch­lich han­delt es sich um Im­mo­bi­li­en­wer­te, deren tat­säch­li­che Ei­gen­tü­mer - mit oft über­aus frag­wür­di­ger Kre­dit­wür­dig­keit - den kre­dit­ge­ben­den Ban­ken un­be­kannt sind. Doch auf dem Hö­he­punkt der Eu­pho­rie wer­den alle Gren­zen über­schrit­ten. Was gibt es Tol­le­res als Kre­di­te der Ka­te­go­rie „Ninja“? Die Ab­kür­zung steht für „No in­co­me, no job or asset“. Zu Deutsch: „Kein Ein­kom­men, kein Job, kein Ver­mö­gen“, also kei­ner­lei Kre­dit­ab­si­che­rung. Dafür wird beim Ab­schluss eines sol­chen Ver­trags der Cham­pa­gner ent­korkt.

Phase zwei: leicht­fer­ti­ges Ri­si­ko­ver­hal­ten. Die Fi­nanz­welt lässt sich nicht so leicht er­schüt­tern, schließ­lich hält sich jeder für einen Cham­pi­on des Ri­si­ko­ma­nage­ments. Tat­säch­lich ist, was neue In­stru­men­te be­trifft, der Ein­falls­reich­tum fast un­be­grenzt. Eines der Ge­heim­re­zep­te heißt „de­ri­va­ti­ve Pro­duk­te“. Ein sol­ches Pro­dukt pro­fi­tiert davon, dass ein Kre­dit, und zumal ein mit Ri­si­ken be­haf­te­ter, bis zum - guten oder schlech­ten - Ab­schluss in den Bü­chern des Kre­dit­ge­bers ver­bleibt. In den frü­hen 1990er-Jah­ren ent­deck­te man die tolle Mög­lich­keit, eine ge­wis­se An­zahl von Kre­di­ten zu markt­fä­hi­gen Schuld­ver­schrei­bun­gen zu bün­deln. Der ge­wal­ti­ge Vor­teil die­ses zu­tref­fend als „Schuld­ti­tel-Stra­te­gie“ (oder „Schuld­ti­tel-Trick“) be­zeich­ne­ten Ge­schäfts be­steht darin, dass am Fi­nanz­markt sol­che neu ge­ba­cke­nen Wert­pa­pier­ti­tel in klei­nen Pa­ke­ten an fi­nanz­kräf­ti­ge und kauf­wil­li­ge in­sti­tu­tio­nel­le In­ves­to­ren ab­ge­ge­ben wer­den kön­nen. Damit ver­schwin­den die pro­ble­ma­ti­schen Kre­di­te aus der Bi­lanz der ur­sprüng­lich ver­lei­hen­den Ban­ken. Letz­te­re ver­ge­ben des­halb Kre­di­te umso un­be­denk­li­cher, je mehr von ihnen sie dank der „Schuld­ti­tel-Stra­te­gie“ ab­sto­ßen kön­nen.

Aber warum sind die neuen Fi­nanz­in­ves­to­ren be­reit, das zu kau­fen, was die Ban­ken doch nur los­wer­den wol­len? Zum einen, weil sie damit Wert­pa­pie­re in klei­ne­ren Ein­hei­ten über­neh­men, vor allem aber, weil diese Titel markt­fä­hig sind, also wie­der­um an Drit­te ver­äu­ßert wer­den kön­nen. Ein wei­te­rer Grund ist der, dass die neue Art von „De­ri­va­ten“ (die vom ur­sprüng­li­chen Typ des Kre­dits „ab­ge­lei­tet“ ist) sich in ein­zel­ne Teil­be­trä­ge mit ent­spre­chend ver­teil­ten Ri­si­ken auf­glie­dern lässt. Jeder in­sti­tu­tio­nel­le In­ves­tor pickt sich die für sein Pro­fil und seine Ri­si­ko­be­reit­schaft ge­eig­ne­te Tran­che her­aus - in dem Wis­sen, dass sich immer je­mand fin­det, der sei­ner­seits die ris­kan­tes­te und damit ein­träg­lichs­te Tran­che über­nimmt. Vor allem die Hedge­fonds gehen der­ar­ti­ge Ri­si­ken ein. Das Ganze geht gut, so­lan­ge alles gut geht. Klar ist dabei, dass alle mit den ur­sprüng­li­chen Kre­di­ten ver­bun­de­nen Ver­wer­tungs­rech­te an den Fi­nanz­strö­men, aber auch die ent­spre­chen­den Aus­fall­ri­si­ken auf die In­ha­ber die­ser RMBS („Re­si­den­ti­al Mort­ga­ge Ba­cked Se­cu­ri­ties“: an Im­mo­bi­li­en­kre­di­te ge­bun­de­ne Wert­pa­pie­re) über­ge­hen. Da je­doch die Zahl die­ser In­ha­ber so groß und schwan­kend ist, läuft das Ganze auf eine un­ge­heu­re Streu­ung des Glo­bal­ri­si­kos hin­aus. Wäh­rend die kre­dit­ge­wäh­ren­de Bank frü­her ihre Aus­fäl­le al­lein be­wäl­ti­gen muss­te, ist sie nun­mehr von die­sem Ri­si­ko völ­lig be­freit. Und die Kos­ten der Aus­fäl­le ver­tei­len sich auf un­zäh­li­ge In­ves­to­ren, wobei jeder In­ves­tor nur einen klei­nen Teil zu tra­gen hat, der für sein Ge­samt­port­fo­lio nur ein ver­schwin­den­des Ri­si­ko zu sein scheint. Warum sich also Sor­gen ma­chen, wo die Fi­nanz­welt mit dem „Schuld­ti­tel-Trick“ of­fen­bar die Qua­dra­tur des Krei­ses ge­fun­den hat und der­sel­be Trick auch noch auf der nächs­ten Ebene funk­tio­niert, bei den RMBS? Was Letz­te­re be­trifft, so be­nö­ti­gen die ris­kan­tes­ten Tran­chen al­ler­dings eine Spe­zi­al­be­hand­lung, damit sie leich­ter ab­zu­sto­ßen sind. Als Be­sit­zer von RMBS-Ti­teln emit­tie­ren man­che In­ves­to­ren einen neuen Typus han­del­ba­rer Wert­pa­pie­re, die so­ge­nann­ten CDO (Col­la­te­ra­li­sed Debt Ob­li­ga­ti­ons oder „ge­bün­del­te“ Schuld­ti­tel). Kon­zi­piert als „Schuld­schei­ne auf Schuld­schei­ne“, er­lau­ben diese CDOs eine wei­te­re Auf­split­te­rung des RMBS-Port­fo­li­os in un­ter­schied­lich ris­kan­te Tran­chen. Die obers­te, „In­vest­ment grade“ ge­nann­te Tran­che si­chert ihren In­ha­bern bei Zah­lungs­un­fä­hig­keit der Schuld­ner die ers­ten 20 bis 30 Pro­zent der Kon­kurs­mas­se aus den be­lie­he­nen Im­mo­bi­li­en. Dar­un­ter lie­gen eine mitt­le­re („Mez­za­ni­ne“) und eine un­te­re Tran­che. Die Be­sit­zer die­ser ri­si­ko­reichs­ten Pa­pie­re trifft bei Zah­lungs­un­fä­hig­keit der Schuld­ner der Schock der Plei­te mit vol­ler Wucht. Eine be­schö­ni­gen­de Be­zeich­nung für diese un­te­re Tran­che lau­tet „Equi­ty“ (Ver­mö­gens­ti­tel), aber die Spra­che des Mark­tes drückt es ehr­li­cher aus: „Toxic Waste“ also „Gift­müll“. Das ist durch­aus zu­tref­fend, denn bei die­sem De­ri­vat ist das Ri­si­ko gleich­sam ins Qua­drat er­ho­ben. So­lan­ge je­doch die Prei­se am Im­mo­bi­li­en­markt stei­gen und der Strom der Rück­zah­lun­gen nicht un­ter­bro­chen ist, fin­det sich immer ein Ab­neh­mer, und so­lan­ge das Aus­maß der „Ver­gif­tung“ noch nicht kon­kret zu­ta­ge tritt, zählt nur die enor­me Ver­zin­sung. Die ge­nann­ten Hedge­fonds, die neue Mit­tel zu ver­gleichs­wei­se nied­ri­gen Zins­sät­zen auf­neh­men kön­nen, in­ves­tie­ren be­wusst in mit hohem Ri­si­ko be­haf­te­te Wert­pa­pie­re. Diese kön­nen, so das zu­grun­de­lie­gen­de Kal­kül, nach Be­lie­ben ver­kauft wer­den und ent­spre­chend hohe Ge­win­ne ein­spie­len - so­lan­ge der Markt nur li­qui­de ist. Der „Gift­müll“ wird als Gold ge­han­delt. Die fan­tas­ti­schen Ge­winn­aus­sich­ten ka­schie­ren die ob­jek­ti­ven Ri­si­ken, die nie­mand sehen will. Und um die Melk­kuh so lange wie mög­lich am Leben zu er­hal­ten, be­schaf­fen die Im­mo­bi­li­en­mak­ler mas­sen­haft neues Fut­ter, also noch mehr Schuld­ner.

Phase drei: von der struk­tu­rel­len Ver­wund­bar­keit zu Plei­te und Panik. Die Ri­si­ko­streu­ung, die durch den Schuld­ti­tel-Trick ga­ran­tiert scheint, er­zeugt letzt­end­lich den Glau­ben, dass es gar keine Ri­si­ken mehr gibt. Das ist eine Il­lu­si­on. Und dies umso mehr, als der süße Rausch die Ak­teu­re zu immer wag­hal­si­ge­ren Ver­hal­tens­wei­sen ver­lei­tet. Der Ver­käu­fer von Im­mo­bi­li­en­kre­di­ten redet sich ein: Wenn ich sogar meine lau­sigs­ten Kre­di­te ab­sto­ßen kann, gehe ich rich­tig zur Sache und ver­lei­he noch mehr. Am an­de­ren Ende der Schul­den­ket­te sagt sich der Be­trei­ber des Hedge­fonds: Warum soll ich, so­lan­ge der De­ri­va­te­markt li­qui­de ist, nicht auch noch die mie­ses­ten Schuld­ver­schrei­bun­gen (CDO) über­neh­men, wo sie doch die pro­fi­ta­bels­ten sind? Na­tür­lich sind in die­sem Sys­tem die Ri­si­ken „ir­gend­wie“ ver­teilt, aber die schie­re Menge des „Streu­guts“ hat zu einem völ­lig un­kon­trol­lier­ten welt­wei­ten Wachs­tum ge­führt. Damit treibt die Ent­wick­lung der Fi­nanz­märk­te, für nie­man­den voll über­schau­bar, in eine kri­ti­sche Zone. Die struk­tu­rel­le Fra­gi­li­tät des skiz­zier­ten Spe­ku­la­ti­ons­ge­flechts er­reicht nun einen Punkt, an dem es auf eher be­lang­lo­se Ver­än­de­run­gen im öko­no­mi­schen Um­feld re­agiert. Ein Bei­spiel: Die schritt­wei­se An­he­bung der Zins­sät­ze durch die ame­ri­ka­ni­sche Zen­tral­bank um je­weils 0,25 Pro­zent er­scheint für sich ge­nom­men zu­nächst harm­los. Aber am an­de­ren Ende der Ri­si­ko­kur­ve stei­gen die Soll­zin­sen für den Im­mo­bi­li­en­kre­dit, den Mrs. Brim­mages 2005 auf­ge­nom­men hat, von 6,3 auf 11,25 Pro­zent und ihre mo­nat­li­chen Kre­dit­ra­ten von 414 auf 691 Dol­lar. Das Er­geb­nis ist Zah­lungs­un­fä­hig­keit. [3] Auf die­sel­be Weise wur­den im ers­ten Quar­tal 2007 14 Pro­zent der Sub­pri­me-Kre­dit­neh­mer in die In­sol­venz ge­trie­ben. Die schritt­wei­sen Zins­an­he­bun­gen der Zen­tral­bank sind ei­gent­lich als be­schei­de­ne An­pas­sungs­maß­nah­me ent­wor­fen, tat­säch­lich aber haben sie einen dop­pel­ten Sche­ren­ef­fekt. Zum einen ver­min­dern sie die Zahl der Neu­ver­trä­ge auf dem Im­mo­bi­li­en­markt, was die Prei­se fal­len lässt; zum an­de­ren sind die ver­schul­de­ten Haus­be­sit­zer au­ßer­stan­de, ihre mo­nat­li­chen Ab­zah­lungs­ra­ten zu be­die­nen, womit der Er­folg ihres Ei­gen­hei­mer­werbs ins­ge­samt ge­fähr­det ist. Tat­säch­lich be­deu­tet der Ver­kauf ihrer Im­mo­bi­lie in der Regel einen Wert­ver­lust nicht nur für sie selbst, son­dern auch für alle an­de­ren, denn durch die Baisse wird der dro­hen­de Preis­ver­fall noch be­schleu­nigt. Wie immer bei Fi­nanz­kri­sen muss ein auf Spe­zia­li­tä­ten fi­xier­ter „In­ves­tor“ als Ers­ter die Suppe aus­löf­feln. Doch sein Zu­sam­men­bruch wirkt als Si­gnal zur gro­ßen Wende. Im ak­tu­el­len Fall haben zwei fi­nan­zi­el­le Zu­sam­men­brü­che - je­weils an den Enden der Kette - die Märk­te auf­ge­schreckt. Zum einen war die In­vest­ment­bank Bear Stearns ge­zwun­gen, zwei ihrer wohl allzu „dy­na­mi­schen“, mit CDO „ge­dop­ten“ Fonds zu schlie­ßen. Zum an­de­ren muss­te der Im­mo­bi­li­en­fi­nan­zie­rer Ame­ri­can Home Mort­ga­ge (AHM) einen An­trag auf Gläu­bi­ger­schutz stel­len. [4] Das miss­glück­te Aben­teu­er des Im­mo­bi­li­en­fi­nan­ziers ver­un­si­chert die Märk­te stär­ker als das der In­vest­ment­bank, denn AHM ist im Be­reich Sub­pri­me nicht son­der­lich en­ga­giert. Das pro­vo­ziert die Frage: Wie steht es dann erst um an­de­re Un­ter­neh­men?

Phase vier: über­stürz­te Re­vi­si­on der Ri­si­ko­be­wer­tung. In die­ser Phase kommt es zu einer leich­ten Panik. Die „Toxic Was­tes“ rie­chen schon recht un­an­ge­nehm und näh­ren den Ver­dacht, dass auch die mit Best­no­ten (AA oder gar AAA) be­wer­te­ten „In­vest­ment grade“- Tran­chen der CDO fri­siert sein könn­ten. Doch wie konn­te es zu solch einer gi­gan­ti­schen Fehl­be­wer­tung der fi­nan­zi­el­len Ri­si­ken kom­men? Na­tür­lich hat das zu­nächst mit der prin­zi­pi­el­len Schwie­rig­keit einer ob­jek­ti­ven Be­wer­tung von De­ri­va­ten zu tun. So haben die Be­wer­tungs­agen­tu­ren hun­der­te von CDO- und RMBS-Tran­chen zu prü­fen und ein­zu­schät­zen. Doch diese Agen­tu­ren sind nicht mit flei­ßi­gen Ar­beit­neh­mern gleich­zu­set­zen, die unter der Last ihrer Auf­ga­ben stöh­nen. Ihren Haupt­um­satz er­zie­len sie mit den Geld­in­sti­tu­ten, die ihre zur Be­wer­tung vor­ge­leg­ten Titel in dem dar­ge­stell­ten Treib­haus­kli­ma emit­tiert haben. Die Agen­tur Moody's etwa er­ziel­te ihren Jah­res­um­satz von 2006 zu 40 Pro­zent mit der Be­wer­tung „struk­tu­rier­ter Pro­duk­te“. Und bevor die je­weils neuen be­wer­tet wer­den, ist es für beide Sei­ten zwei­fel­los güns­tig, wenn die zuvor auf den Markt ge­brach­ten Fi­nanz­pro­duk­te für „ge­sund“ er­klärt wur­den. Eine wei­te­re Über­le­gung macht klar, warum die Be­wer­tungs­agen­tu­ren es nie ver­stan­den haben, sich von der Eu­pho­rie des Mark­tes, die sie ei­gent­lich dämp­fen soll­ten, wirk­lich frei­zu­ma­chen, und dass sie im Ge­gen­teil diese Stim­mung ge­flis­sent­lich ge­för­dert haben. Wenn man der Fi­nanz­welt so na­he­steht und sich dazu noch aus ihren Ta­schen be­dient, kann man schwer­lich „Vor­sicht!“ rufen, wäh­rend alle an­de­ren noch fett ver­die­nen. Das Er­geb­nis ist be­kannt: Die Be­wer­tungs­agen­tu­ren ver­hal­ten sich auf ka­ta­stro­pha­le Weise pro­zy­klisch, wenn sie an­ti­zy­klisch sein soll­ten; sie las­sen der Hausse frei­en Lauf - und re­vi­die­ren, so­bald der Um­schwung ein­setzt über­stürzt ihre ur­sprüng­li­che Ein­schät­zung, was die Krise wie­der­um ver­schärft. Ver­mut­lich ste­hen wir erst am Be­ginn der Krise. Die künf­ti­gen Rück­zah­lungs­aus­fäl­le auf dem Hy­po­the­ken­markt lau­fen ge­räusch­los im Vor­zim­mer der so­ge­nann­ten „Teasing Rates“ auf. [5] Das heißt, dass die Haus­hal­te, die 2005 und 2006 in eine Hy­po­the­ken­klem­me ge­rie­ten, erst 2007 und 2008 zah­lungs­un­fä­hig wer­den - mit gra­vie­ren­den Fol­gen für die be­tref­fen­den Kre­dit­in­sti­tu­te. Da die Glo­ba­li­sie­rung die Fi­nanz­märk­te und mit ihnen die fi­nan­zi­el­le Ein­falt er­fasst, blei­ben die Fol­gen der Krise nicht auf die USA be­schränkt. Ge­wiss hat sich vor allem der US-Hy­po­the­ken­markt ins De­li­ri­um ge­stei­gert, aber die dar­aus „ab­ge­lei­te­ten“ In­stru­men­te in Form ge­bün­del­ter Schuld­ti­tel waren welt­weit für alle spe­ku­la­ti­ven Fonds ein reiz­vol­les An­ge­bot. Selbst die lange als lang­wei­lig und alt­mo­disch gel­ten­den, an ihren tris­ten Pri­vat­kun­den­ban­ken hän­gen­den Deut­schen ent­schie­den sich zur Jahr­tau­send­wen­de, auf die „ak­ti­ven Märk­te“ zu set­zen. Mit dem Er­geb­nis, dass 2007 eine Bank wie die IKB am Rande des Ab­grunds tau­melt, weil sie sich viel zu stark dem Sub­pri­me-Ri­si­ko aus­ge­setzt hat.

Phase fünf: die Aus­brei­tung der Ver­dachts­mo­men­te. Mit den ers­ten An­zei­chen der Krise be­schleu­nig­ten und durch­kreuz­ten sich auf den glo­ba­len Fi­nanz­märk­ten die Ak­tio­nen und Re­ak­tio­nen. Das emp­find­li­che Gleich­ge­wicht der De­ri­va­te hielt nur, so­lan­ge es von nie­man­dem auf die Probe ge­stellt wurde, das heißt, so lange alle vor­ga­ben, an die Li­qui­di­tät des De­ri­va­te­markts zu glau­ben. So­bald indes einer der be­tei­lig­ten Mak­ler unter Druck gerät und ver­sucht, sich durch Ver­kauf sei­ner CDO etwas Luft zu ver­schaf­fen, ent­steht eine la­ten­te Angst - und alle Käu­fer su­chen das Weite. Hat sich die Li­qui­di­tät erst ein­mal ver­flüch­tigt, gibt es prak­tisch keine for­mal markt­fä­hi­gen Ak­ti­va mehr. Von hoher Komik, aber auch zum Wei­nen ist die Mit­tei­lung der fran­zö­si­schen Bank­grup­pe BNP Pa­ri­bas, die am 9. Au­gust für drei ihrer (na­tür­lich „ur­dy­na­mi­schen“) Fonds die Rück­zah­lun­gen stopp­te: „Das Ver­schwin­den der Schuld­ver­brie­fun­gen in ei­ni­gen Markt­seg­men­ten der Ver­ei­nig­ten Staa­ten legt die Preis­bil­dungs­me­cha­nis­men lahm und führt zu einem quasi to­ta­len Wert­ver­fall der Fonds­ak­ti­va, un­ab­hän­gig von deren Qua­li­tät oder Ra­ting.“ [6] Diese Si­tua­ti­on hatte frei­lich BNP-Chef Bau­do­in Prot eine Woche vor­her nicht ge­hin­dert, ka­te­go­risch zu be­stä­ti­gen, dass die Li­qui­di­tät der drei Fonds ge­si­chert sei. Das macht deut­lich, dass die all­ge­mei­ne Ner­vo­si­tät auch Tran­chen in­fi­ziert, die als ab­so­lut si­cher gel­ten. Die An­ste­ckung macht also nicht auf hal­bem Wege Halt. Sie er­fasst nicht nur alle Ri­si­ko­klas­sen im Be­reich der RMBS und De­ri­va­te, son­dern greift auch auf Markt­seg­men­te über, die mit die­sen ei­gent­lich nichts zu tun haben (sieht man davon ab, dass sie sich auf die Kre­di­t­or­gie ein­ge­las­sen haben). Das gilt ins­be­son­de­re für den Sek­tor Pri­va­te Equi­ty, dem neu­er­dings pro­mi­nen­tes­ten Sek­tor der Fi­nanz­in­ves­ti­tio­nen. Diese Fonds ver­fol­gen die Stra­te­gie, als lu­kra­tiv ein­ge­schätz­te Un­ter­neh­men voll­stän­dig auf­zu­kau­fen, sie von der Börse zu neh­men, einer bru­ta­len Um­struk­tu­rie­rung zu un­ter­zie­hen und nach we­ni­gen Jah­ren mit hohem Pro­fit wie­der ab­zu­sto­ßen.

Diese Fonds ver­fü­gen über nur wenig Ei­gen­ka­pi­tal. Bei einem Fir­men­kauf ver­schul­den sie sich mas­siv und be­strei­ten die fi­nan­zi­el­len Ver­pflich­tun­gen aus dem über­nom­me­nen Un­ter­neh­men. Die dank die­ser Stra­te­gie er­ziel­ten Ge­win­ne schos­sen so ex­or­bi­tant in die Höhe, dass die Ban­ken sich um die Fi­nan­zie­rung sol­cher Trans­ak­tio­nen buch­stäb­lich schlu­gen. In eu­pho­ri­scher Er­war­tung per­ma­nen­ter Ge­win­ne boten die Ban­ken den neuen Pri­va­te-Equi­ty-Fonds skan­da­lös be­que­me Kre­dit­be­din­gun­gen.

Da gibt es zum Bei­spiel eine Fi­nan­zie­rungs­tech­nik, die man „Co­venant Lite“ nennt: Hier feh­len alle Klau­seln, die nor­ma­ler­wei­se die fi­nan­zi­el­len Ri­si­ken ab­de­ckend, wie sie jeder nor­ma­le Dar­le­hens­neh­mer un­ter­schrei­ben muss. Frei nach dem Motto: „Macht was ihr wollt, wir sind dabei.“ Ein Knül­ler sind auch die Kre­di­te mit der Be­zeich­nung PIK (Pay­ment In Kind) oder auch IOU (I Owe You). Hier wer­den die Zin­sen und die Schul­den­sum­me nicht in bar ge­tilgt, son­dern in Form von zu­sätz­lich auf­ge­nom­me­nen Kre­di­ten. Die auf diese Weise in Pri­va­te-Equi­ty-Fonds ge­lei­te­ten, tat­säch­lich aber aus­ste­hen­den Kre­dit­zah­lun­gen haben ein im­men­ses Vo­lu­men er­reicht. Trans­ak­tio­nen die­ser Art sind al­ler­dings au­ßer­or­dent­lich an­fäl­lig, wenn der Mo­ment des „Ab­sto­ßens“ kommt. Dabei geht es um den Wie­der­ver­kauf no­to­risch il­li­qui­der Ak­ti­va, und zwar nicht in Form ein­zel­ner Ak­ti­en­pa­ke­te, son­dern gan­zer Un­ter­neh­men. Wenn die­ses Ma­nö­ver erst­mals miss­glückt - weil ein Wie­der­ver­kauf un­mög­lich oder nur ver­zö­gert oder mit Ver­lust mög­lich ist - wird der ge­sam­te Pri­va­te-Equi­ty-Sek­tor eine böse Über­ra­schung er­le­ben. Der­zeit sind be­reits ein­ge­lei­te­te Fonds­über­nah­men nur noch mit Mühe ab­zu­schlie­ßen. Die Ban­ken, die lange Jahre prin­zi­pi­en­lo­se Kom­pli­zen waren, hal­ten sich plötz­lich stark zu­rück. Darin zeigt sich ein für Fi­nanz­kri­sen ty­pi­scher „Amal­ga­mef­fekt“. Nach­dem in einem Sek­tor plötz­lich Ri­si­ken auf­ge­taucht sind, den­ken die Ak­teu­re auch in an­de­ren Sek­to­ren über mög­li­chen Fol­ge­wir­kun­gen nach. So wie 1994 die me­xi­ka­ni­sche Ver­schul­dungs­kri­se pau­schal die „Schwel­len­märk­te“ in Ver­ruf brach­te und Zwei­fel über das ziem­lich ent­fernt lie­gen­de Thai­land auf­kom­men ließ, so hat die heu­ti­ge Im­mo­bi­li­en­kri­se Rück­wir­kun­gen für die Be­wer­tung von Pri­va­te Equi­ty. Das eine hat mit dem an­de­ren un­mit­tel­bar nichts zu tun - bis auf den Um­stand, dass es in bei­den Be­rei­chen mehr oder we­ni­ger ver­gleich­ba­re Ex­zes­se ge­ge­ben hat.

Phase sechs: der Ban­ken­schock. Wenn­gleich es den Ban­ken ins­ge­samt ge­lun­gen ist, ihre Im­mo­bi­li­en­kre­dit­port­fo­li­os durch die „Schuld­ti­tel-Stra­te­gie“ ab­zu­sto­ßen, er­lei­den die Ban­ken der­zeit Rück­schlä­ge an vie­len Fron­ten. Zu­nächst lie­ßen sie zu, dass die von ihnen ver­wal­te­ten Fonds mit De­ri­va­ten auf­ge­füllt wur­den, womit das Hy­po­the­ken­ri­si­ko, das man vor die Tür ge­setzt hatte, durchs Fens­ter wie­der her­ein­kam. Hinzu kommt die Ge­fahr wech­sel­sei­ti­ger An­ste­ckung, die ins­be­son­de­re vom pri­va­ten Be­tei­li­gungs­ka­pi­tal (Pri­va­te Equi­ty) aus­geht, des­sen Krise sie di­rekt be­trifft. In die­ser Si­tua­ti­on kennt die Ban­ken­auf­sicht kei­nen Spaß: Die In­sti­tu­te sind ge­hal­ten, bei der Do­ku­men­ta­ti­on ihrer Zah­len, sprich ihrer Sol­venz, die An­ga­ben über ihr Ei­gen­ka­pi­tal strikt von denen über ihre an­de­ren En­ga­ge­ments zu un­ter­schei­den. Wenn ne­ga­ti­ve Wert­kor­rek­tu­ren (auch la­ten­te) ans Licht kom­men - und sie könn­ten in be­trächt­li­cher Höhe er­fol­gen, weil die Ra­ting-Agen­tu­ren auf­ge­wacht sind und ihre Be­wer­tun­gen nach unten kor­ri­gie­ren -, sind die Ban­ken zu ent­spre­chen­den Rück­stel­lun­gen ver­pflich­tet. Zur Ver­tei­di­gung ihrer Bo­ni­täts­ra­te müs­sen sie dann die be­wil­lig­ten Kre­dit­sum­men in Re­la­ti­on zum Ei­gen­ka­pi­tal (ab­züg­lich Rück­stel­lun­gen) ver­rin­gern. Letzt­end­lich sind es, wie immer, die von der spe­ku­la­ti­ven Gier be­son­ders weit ent­fern­ten „rea­len“ Ak­teu­re, denen die Kre­dit­häh­ne zu­ge­dreht wer­den, weil die Ban­ken in allen Be­rei­chen we­ni­ger Geld aus­lei­hen, um ihre Bi­lan­zen auf­zu­bes­sern. Das trifft auch die Un­ter­neh­men der Re­al­wirt­schaft und ihre Be­schäf­tig­ten, die dann kaum be­grei­fen, womit sie das ver­dient haben.

Phase sie­ben: Hil­fe­ruf an die Zen­tral­ban­ken. Nach­dem un­se­re Fi­nanz­hel­den sich auf dem Hö­he­punkt des Booms zur Speer­spit­ze des Fort­schritts er­nannt und ent­spre­chend ar­ro­gant auf­ge­führt haben, sehen sie in der Krise ziem­lich alt aus. Jetzt wer­fen sie sich wei­nend an die Brust von „Vater Staat“, die sie noch be­schimpft haben, so­lan­ge sie glaub­ten, an­ge­sichts ihrer Fi­nanz­macht alle Gren­zen miss­ach­ten zu kön­nen. Nun soll die Zen­tral­bank sie vor der Plei­te be­wah­ren, indem sie die Leit­zin­sen senkt und für neue Li­qui­di­tät in den Märk­ten sorgt. Die Zen­tral­bank ist zwar nicht dem Staat gleich­zu­set­zen. Aber sie ist eine öf­fent­li­che, vom Markt un­ab­hän­gi­ge In­stanz, die man ver­ach­tet, so­lan­ge die Pro­fi­te flie­ßen, aber um Hilfe an­fleht, so­bald der Wind sich dreht. Die Szene ist sur­re­al und real zu­gleich: Jim Cra­mer, der beim Bör­sen­ka­nal CNBC - un­ter­malt von Hard­rock und mit Buz­zer und Bör­sen­ein­blen­dun­gen - in Hemds­är­meln eine po­pu­lä­re Sen­dung mit Fi­nanz­tipps be­treibt, ist dem Ner­ven­zu­sam­men­bruch nahe und brüllt auf US-No­ten­bank­chef Ben Bernan­ke ein: „Cut! Cut!“ [7] Als Bernan­ke den Ein­druck er­weckt, dass er es mit der Sen­kung der Leit­zin­sen nicht allzu eilig hat, schleu­dert Cra­mer ihm die schlimms­te aller Be­lei­di­gun­gen ent­ge­gen: Er habe nichts ka­piert, er sei ja nur ein „Aka­de­mi­ker“. [8] Auch die an­de­ren be­frag­ten Ex­per­ten, die bes­ser ge­klei­de­ten und nicht so vul­gär her­um­schrei­en­den Fonds­ver­wal­ter, sind mit Cra­mers Ur­teil ab­so­lut ein­ver­stan­den. Und wie sie jetzt alle Alan Green­span nach­wei­nen, der stets ohne jedes Zö­gern die Zin­sen „ge­kappt“ hat. Der war noch ein ech­ter Prak­ti­ker, un­be­las­tet von über­flüs­si­gen Stu­di­en, der muss­te nur den Hin­tern der Bes­tie be­füh­len und wuss­te so­fort, wann die Geld­po­li­tik Gas geben muss­te! We­ni­ger Un­ein­sich­ti­ge ge­ste­hen sich mitt­ler­wei­le al­ler­dings ein, dass Green­spans lang­jäh­ri­ge laxe Geld­po­li­tik zu den Ex­zes­sen der Fi­nanz­jon­gleu­re und zum Auf­pum­pen der Blase bei­ge­tra­gen hat, die jetzt am Plat­zen ist. Ben Bernan­ke scheint der­zeit noch davon aus­zu­ge­hen, dass die toll­kühns­ten Mak­ler die Fol­gen ihres Leicht­sinns zu tra­gen haben, und ver­ord­net eher do­sier­te Li­qui­di­täts­hil­fen. Doch soll­te man sich davon nicht täu­schen las­sen. Die­ser Stand­punkt des Zen­tral­bank­chefs ist nur halt­bar, so­lan­ge die Aus­fäl­le be­grenzt blei­ben. Soll­ten sie sich aus­wei­ten und eine „Sys­tem­kri­se“ her­auf­be­schwö­ren - oder einen Do­mi­no­ef­fekt aus­lö­sen, der zu einem all­ge­mei­nen Crash der Fi­nanz­märk­te führt -, dann wird eine mas­si­ve In­ter­ven­ti­on des Staa­tes un­ver­meid­lich. Dies ist üb­ri­gens bei allen üblen Ma­chen­schaf­ten der Fi­nanz­welt der­je­ni­ge As­pekt, der weit­aus am un­er­träg­lichs­ten ist. Durch die Struk­tu­ren des herr­schen­den Sys­tems er­mu­tigt, über­schrei­ten die maß­geb­li­chen Ak­teu­re immer wie­der die Schwel­le zur Krise. Dann ist der Zeit­punkt ge­kom­men, an dem die Auf­sichts­be­hör­den nicht mehr län­ger weg­se­hen kön­nen. Der Staat als „letz­ter Gläu­bi­ger“ ist ge­zwun­gen, für die Ha­sar­deu­re das Eisen, sprich den ver­lo­re­nen Ein­satz, aus dem Feuer zu holen. Die per­fek­te Gei­sel­nah­me.

Al­ter­na­ti­ve Ar­beits­auf­trä­ge:

  1. Ar­bei­ten Sie aus M20 die ein­zel­nen Pha­sen der Ent­ste­hung der Krise her­aus.
  2. Ver­glei­chen Sie die Pha­sen der Ent­ste­hung der eu­ro­päi­schen Krise mit der Sub­prime­kri­se.
  3. In Z. 28-35 wer­den ein­zel­ne ver­gan­ge­ne Kri­sen er­wähnt. In­for­mie­ren Sie sich über diese und stel­len Sie eine Syn­op­se zu­sam­men (mög­li­che Ka­te­go­ri­en: Dauer, Ur­sa­chen, Fol­gen, Be­trof­fe­ne, Re­ak­tio­nen...).
  4. Ge­stal­ten Sie an­hand von M20 eine Vi­sua­li­sie­rung in Form von Ex­plaini­ty (vgl. youtube-Vi­de­os).
  5. Er­läu­tern Sie die gra­phi­sche Dar­stel­lung zur Ent­ste­hung der eu­ro­päi­schen Krise.

[1] Pier­re-An­toi­ne Del­hom­mais, „Le Monde“, 9. Au­gust 2007.
[2] Hyman P. Mins­ky, „Sta­bi­li­zing an Un­sta­ble Eco­no­my“, Yale (Uni­ver­si­ty Press) 1986.
[3] „Mort­ga­ge Maze May In­crea­se For­clo­sures“, „The New York Times“, 6. Au­gust 2007.
[4] Diese Ver­fü­gung schützt die Un­ter­neh­men vor allzu un­ge­dul­di­gen Gläu­bi­gern (Zah­lungs­auf­schub für So­zi­al­schul­den). Sie ent­bin­det den Ar­beit­ge­ber von sei­nen Ver­pflich­tun­gen und ver­schafft ihm die Mög­lich­keit, Lohn­ver­ein­ba­run­gen neu zu ver­han­deln.
[5] Es han­delt sich um (für deren Händ­ler) at­trak­ti­ve Um­schul­dungs­pa­ke­te, wobei die Mak­ler ihre Kun­den nach der Regel „2 + 28“ kö­dern: zwei Jahre zu einem be­schei­de­nen Zins­satz, da­nach 28 Jahre zum vol­len Satz, der rich­tig schmerzt.
[6] Mit­tei­lung BN­PPa­ri­bas, 9. Au­gust 2007, Her­vor­he­bung durch den Autor.
[7] CNBC, 3. Au­gust 2007, „Jim Cra­mer - Cut Rates“.
[8] Ben Bernan­ke war lange Zeit Pro­fes­sor für Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten.

Aus dem Fran­zö­si­schen von Diet­mar Trem­penau

 

wei­ter: M21 bis M24

Ma­te­ria­li­en: Her­un­ter­la­den [pdf] [276 KB]