Allgemeines zu den Übungen und ihrer Anwendbarkeit
Die vorliegenden Beispiele dienen der vom BP 9/10 vorgesehenen Fruchtbarmachung linguistischer Kommunikationstheorien für das Verstehen literarischer und pragmatischer Texte. Dabei hat sich Verf. dafür entschieden, drei Ansätze zu verbinden: Die Funktionen der Sprache nach Bühler und Schulz von Thun, Watzlawicks Axiom der symmetrischen und komplementären Kommunikation sowie die Sprechakttheorie (Austins und Searles). Sie kann nicht nur als weiteres, für den Unterricht ergiebiges Beispiel für „Kommunikationsmodelle“ (im weiten Sinne) gelten, sondern Sprechakte werden im BP ausdrücklich in Verbindung mit Bühler, Watzlawick und S. v. Th. erwähnt (vgl. 3.3.2.2 (2))1 und ihre Bestimmung wird bei der Dramenanalyse eingefordert (vgl. 3.3.1.1 (10)). In einem Beispiel (Aufgabe 2.4) werden zudem die für Literaturinterpretation eher weniger ergiebigen, aber z.B. in psychotherapeutischen Gesprächssituationen sehr wichtigen Grice'schen Konversationsmaximen als weiteres „Kommunikationsmodell“ angeführt.
Das Organon-Modell Bühlers sowie dessen Erweiterung durch Schulz von Thun sind so bekannt und leicht zugänglich, dass sie hier keiner weiteren Erläuterung bedürfen. Deshalb soll lediglich knapp auf den Nutzen der Sprechakttheorie eingegangen werden: Die Analyse von Sprechakten (Illokutionen und Perlokutionen i.S. Austins) ist ein effizientes Mittel, um von der Paraphrase zur Abstraktionsleistung zu gelangen, da sie Implizites (nämlich die Intention und die Wirkung von Figurenrede) explizit macht und dabei automatisch konkrete Äußerungen unter Oberbegriffe für sprachliches Handeln ordnet. Der dabei entstehende Erkenntnisgewinn fällt je nach Offensichtlich-keit von Intention und Wirkung kleiner oder größer aus und selbstverständlich ist damit noch keine vollständige Interpretation vollzogen, aber meistens ist damit schon ein wichtiges Stück Arbeit geleistet, manchmal sogar der härteste Teil (vgl. z.B. Aufg. 2.1). In jedem Fall ist die Analyse des sprachlichen Handelns der logische Ausgangspunkt für weiterführende Interpretationsfragen wie die nach Beweggründen einer Figur für dieses sprachliche Handeln (z.B. Gefühlszustände, Konflikte), nach einer impliziten Figurencharakteristik (Was sagt es über eine Figur aus, wenn sie sich so verhält?) usw. (vgl. dazu z.B. die Aufgaben und Anmerkungen zu 2.5).
Die Anwendung der Theorie ist insbesondere fruchtbar für die Dialoganalyse im Drama (wo sie vom BP 9/10 auch ausdrücklich verortet wird) und für dialogische Passagen epischer Texte, aber auch im Falle eines auktorialen Erzählers, der über chronologisches Erzählen hinausgeht (Kommentar, Andeutungen/Antizipationen, Ironie, Ansprache an den Leser usw.). Nicht zuletzt hilft sie aber auch beim Interpretieren von Lyrik. Hier sind neben Gedichten mit dominant appellativen (Liebeswerbung, spottende, anklagende Gedichte usw.) oder darstellenden Sprechakten (Gedankenlyrik) insbesondere „sprecherorientierte“ Illokutionen (Engel 2009, S.236f.) wie das Ausdrücken von Trauer, Verzweiflung, Euphorie usw. zu nennen.2
Besonders bei ‚darstellenden‘ und ‚ausdrückenden‘ Illokutionen ist zu beachten, dass die Bestimmung der illokutionären „Kraft“ („ausdrücken“) i.S. von Austins Schüler J. Searle für die Interpretation nicht aussagekräftig genug ist, sondern um den „propositionalen Gehalt“3 („Empörung“, „Ratlosigkeit“) ergänzt werden muss, dies gilt aber grundsätzlich auch bei ‚appellativen‘ Illokutionen.
Damit kann als Faustformel gelten:
Im Ausgang hiervon können ergänzt werden:
+ (beabsichtigte) Perlokution der Äußerung
+ Beweggründe für das Vollziehen der Illokution
Bei den Listen geeigneter Illokutionsverben (2.6 und 4.3) ist die vorgeschlagene Grobgliederung der Illokutionen entlang der drei Funktionen des sprachl. Zeichens nach Bühler natürlich recht grob. Im Sinne einer didaktischen Reduktion wird aber auf weitere Differenzierungen wie die genauere Unterteilung von Sprechaktklassen von Austin selbst (z.B. Kommissiva)4 über Searle (Repräsentativa, Deklarativa usw.)5 bis J. Habermas (Regulativa, Kommunikativa usw.)6, den Vorschlag K. Poppers, eine eigene argumentative Funktion einzuführen7, oder die Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Sprechakten8 verzichtet. Den drei Seiten des Bühler‘schen Dreiecks werden vielmehr – Bühlers eigenen bekannten Beispielen (z.B. befehlen, beschimpfen) folgend9 – Klassen von Illokutionsverben zugeordnet, bei denen typischerweise die appellative, die darstellende und die ausdrückende Sprachfunktion überwiegt, wobei – wiederum im Sinne Bühlers – durch die Präzisierung „dominant“ eben gerade nicht ausgeschlossen ist, dass z.B. im dominant appellativen Befehlen auch einiges an Ausdruck eigener Nervosität des Befehlenden mitschwingen könnte usw. Dabei ist es nicht zwingend nötig, immer ein klares Dominanzphänomen herauszuarbeiten, wie am Beispiel der Illokution „kritisieren“ deutlich wird (vgl. 5.5).
Hingegen ist es für die Analyse eines Textes allemal von Nutzen, festzustellen, ob er (stellenweise) überwiegend appellativ, ausdrückend (z.B. – wie bereits bei Bühler erwähnt10 – in der Lyrik) oder argumentativ-darstellend ist, weil dies auf der Makroebene z.B. Hinweise auf die Beziehung zwischen den Figuren oder die intendierte Wirkung eines pragmatischen Textes (Perlokution im Sinne Austins) liefert.
Zum Einsatz im Unterricht: Es empfiehlt sich, in Kl. 9 mit Bühler / Schulz von Thun zu beginnen und die SuS den drei Funktionen Bühlers verschiedene „Sprechakte“ zuordnen zu lassen, ohne den Terminus „Illokution“ zu gebrauchen oder über Sprechakte als solche zu reflektieren (z.B. eine Warnung als dominant appellativen, eine Klage als dominant ausdrückenden Sprechakt bestimmen usw.) Die explizite Anwendung der Sprechakttheorie ist nach Erfahrungen d. Verf. in Kl. 10 wesentlich erfolgversprechender. Der abgedruckte Auszug aus Austins Standard-Werk „How to do things with words“ hat sich als machbarer Grundlagentext erwiesen, auf den im Unterricht bis zum Abitur immer wieder zurückgegriffen werden kann. Searles Regeln für Sprechakte sind anspruchsvoll, also nicht für Kl. 9 geeignet.
1 Exemplarisch für diese Verbindung ist der Versuch, Listen von Illokutionsverben zu erstellen, in denen Klassen der Illokutionen den bei ihnen dominanten Bühler‘schen Sprachfunktionen zugeordnet werden.
2 Es existieren eigene Illokutionsverben wie „(be)klagen“, „jubeln“, „jammern“, aber keines für „Schmerz ausdrücken“, „Hoffnung ausdrücken“ usw.
Fachdidaktische Anmerkungen und Lösungshinweise: Herunterladen [docx][38 KB]
Fachdidaktische Anmerkungen und Lösungshinweise: Herunterladen [odt][61 KB]