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Zusatzinformation 1

Die Konzeption des „Helden“ als Vergleichsmöglichkeit für Fiktionalität und ihre Leistung

1. Der „klassische“ Held

A.) Der männliche Held als Kämpfer

Vorzugsweise Helden der antiken Sagen und Epen, mittelalterlichen Ritterepen/ -sagen. Ihre Haupteigenschaften sind verbunden mit Mut, Tapferkeit, Standesehre, die sich auch und z.T. vorwiegend durch Erfolg im ehrenhaften Kampf zeigt. Die moderne Version existiert in Form des „durchgestylten“ Superhelden.

Durch magische Sondereigenschaften und Hilfsgegenstände öffnet sich die Heldenkonzeption für das Märchen (zuweilen verbunden mit milderen Formen der Gewaltdarstellungen) und das Phantastisch-Wunderbare, z.B. in Form der Fantasy-Literatur.

Im Regelfall ist das verbunden mit dem Protagonist-Antagonist-Schema und dem Gut-Böse-Schema. Der Held macht meistens eine Heldenreise als Initiationsritus durch (siehe „Parzival“ - passend zur Ausbildung der Ritter via Pagen- und Knappe, die mit dem Kampf gegen feindliche Mächte als Hindernisse und Herausforderungen verbunden ist. Die feindlichen Mächte können prinzipiell auch abstrakt als „Schicksal“ oder psychologisch als innerer Konflikt bzw. Trauma-Bewältigung konzipiert sein, was v.a. in modernen Umsetzungen der Fall ist.

Klassische Umsetzung z.B. bei „Erec und Enite“ – ein Ritter, der sich nur noch um Frau und Häusliches kümmert, verliert seine Ehre (das „Verliegen“) und muss diese durch Kämpfe wiedergewinnen. Die Frau ist nur Beiwerk (das sog. „token“, z.B. im Rahmen eines „love interest“) bzw. Opfer („damsell in distress“) – im Falle von „Erec und Enite“ muss Enite mit zu den Kämpfen, um sich als treue Ehefrau zu bewähren.

moderne Varianten und die toxische Seite des „klassischen“ Helden

Eine Umsetzung wie bei „Erec und Enite“ würde heutzutage als frauenfeindlich und gewaltverherrlichend kritisiert werden, weil der Maßstab des Helden humane, soziale und demokratische Formen angenommen hat. Daher werden Elemente des traditionellen alten Heldenbegriffs als Gewalt, Egoismus, Hybris bzw. arrogante Selbstüberhebung und als sexistischer Trend, also als toxisch und falsch uminterpretiert.

Nach wie vor dominiert jedoch weiterhin der Trend, dass der Held als scheinbarer Außenseiter und verkappter Berufener in seine Heldenrolle hineinwachsen muss und deshalb Entwicklungen durchläuft, die weitgehend dem Schema der Heldenreise folgen - in Jugendbüchern ist das häufig eine normal und durchschnittlich wirkende Hauptfigur, die zuerst einmal wenig Privilegien besitzt, aber plötzlich neue Begabungen und Berufungen verliehen bekommt (vgl. Jugendbücher, z.B. Klassiker wie „Alice im Wunderland“, „Der kleine Hobbit“, „Harry Potter“).

B.) Die Heldin zwischen Weiblichkeits- und Männlichkeitsvorstellungen

Bereits in den antiken Sagen gibt es Heldinnen, die ähnlich eigenständig wie männliche Helden agieren können, sie sind aber eher in der Minderheit. Sie haben zudem wie die Männer einen hohen sozialen Status und sind im Regelfall Göttinnen (siehe z.B. Hera und Aphrodite im „Trojanischen Krieg“). Aber hier zeigen sich schon traditionelle Grenzen, denn die Heldin Helena, die durch eigenmächtige Partnerwahl den „Trojanischen Krieg“ auslöst, wird in dieser Hinsicht eher als „schwache“, eitle Frau markiert.

Die moderneren Varianten einer eigenständigen Heldin unterliegen einem Dilemma: Soll die weibliche Heldin dem männlichen Muster folgen? Damit wäre sie also ein kämpferisches Mannweib („Mary Sue“-/ „Flintenweib“-Phänomen bzw. Superwoman), somit eine Reproduktion des „klassischen“ männlichen Helden, nur ggf. mit mehr Sexappeal (als männliche Projektionsfläche), wie neuere Hollywood-Blockbuster zeigen.

Alternativ kann die Heldin als typisch weibliche, sentimentale Heldin inszeniert werden, die emanzipiert agiert, aber im Rahmen von Weiblichkeitsidealen verbleibt - damit jedoch wieder potentiell an Emanzipation verlieren kann. Typisch dafür sind seit dem 18.Jahrhundert die Heldinnen der Jane-Austen-Romane, die sich emanzipiert und mit weiblichen Mitteln gegen ein scheinbar unabwendbares Schicksal (z.B. soziale Degradierung) auflehnen, ihren eigenen Partner in freier Wahl erkämpfen, danach aber wieder weitgehend in klassische Frauenrollen zurückkehren und auf diese Weise zur Projektionsfläche von männlichen Idealen zu werden. Moderne Varianten finden sich z.B. in Form der Padmé Amidala aus den „Star Wars“-Filmen der 90iger Jahre, die von der mutigen Politikerin zur häuslichen Mutter konvertiert.

Daher sind komplex gebaute moderne Heldinnen immer ein Versuch, den beiderseitigen Klischees zu entgehen, was beinahe der Quadratur des Kreises gleichkommt: Hübsch, aber nicht zu sexy; clever und forsch, aber nicht zu aggressiv; selbstständig und emanzipiert, aber sozial, gegenüber Männern aufgeschlossen und ohne radikal-feministische Trends.

Der Antiheld (Verlierer, „Underdog“)

Antihelden sind als Gegenbewegung zum „klassischen“ Helden sowie häufig auch zu den „klassischen“ Handlungsstrukturen zu verstehen.

Georg Büchners „Woyzeck“ ist der notorische und hilflose Außenseiter, der im Grunde keine Chance für eine Entwicklung bekommt, da die Umwelt und die Umstände ihn daran hindern. Ähnliches lässt sich über Kafkas Gregor Samsa aus „Die Verwandlung“ sagen. Der Antiheld ist im Regelfall sozial degradierter „Underdog“ und damit oft Teil einer anschaulich dargestellten Sozialkritik.

Um die Darstellung des Antihelden und seiner Situation zu motivieren, können neben Darstellungen des sozialen Umfelds und der Vorgeschichte der Figur auch Psychologisierungen dienlich sein.

Dementsprechend gibt es keinen „klassischen“ Entwicklungs- und Spannungsbogen, der dem klassischen, geschlossenen Drama bzw. der Heldenreise entspricht, sondern eine Reihung von Szenen, die die Ausweglosigkeit der Situation des Antihelden in oft spiralförmiger Eskalation oder endloser Monotonie darstellen. Experimentelle fiktionale Texte, wie z.B. das naturalistische Drama, aber v.a. das expressionistische Stationendrama (wie Kaiser „von morgens bis mitternachts“) führen diese Tradition ebenso fort wie bestimmte Werke aus Brechts epischem Theater, in denen Problematik kommentiert wird (siehe der „Gute Mensch von Sezuan“ - Shen Te/Shui Ta stellt keine echte Entwicklung dar).

Der (post-/spät-)moderne brüchige oder sogar subversive Held

Im Grunde ergeben sich hier Auseinandersetzungen mit den Konzeptionen von Held und Antiheld, die verschiedene Mixturen im Sinne eines Mischcharakters ermöglichen, der oft auch zwischen „Gut“ und „Böse“ pendelt, in sich im Sinne einer (psychologisierbaren) Ich-Krise brüchig und widersprüchlich ist, ggf. sogar instabil und gefährdet.

Dazu gehören Figuren wie Goethes Faust, Nathanael aus Hoffmanns „Der Sandmann“, in gewissem Grade Hauke Haien aus Storms „Der Schimmelreiter“ oder als filmische Variante die Figur des Hulk aus dem gleichnamigen Film bzw. Kylo Ren/Ben Solo aus der neuen Star Wars-Trilogie seit 2015.

Die Sinnsuche dieser Figuren ist durch Probleme, Widersprüche und Rückschläge geprägt, die potentiell bereits in der fiktionalen Darstellung reflektiert werden können, im Sinne der Heldenreise lässt sich hier das Problem des gefallenen Helden und sein potentieller Weg zur Erlösung („redemption arc“ - das Finden von neuen Aufgaben, geliebten Partnern, Verzeihung durch die Gemeinschaft etc.) adaptieren und variieren – oft mit Hin- und Her-Pendeleien zwischen dem „guten“ und dem „schlechten“ Weg, da die Heldenreise samt optimierender Entwicklung des Helden gestört ist.

Diese Variationen ermöglichen zudem mehr Handlungsalternativen und „Plot Twists“ sowie eine psychologisch komplexere, glaubwürdigere und plausiblere Darstellung der Figuren, so dass sich das auch für realistische Sozialdramen/Sozialromane eignet, zumal der Kampf nicht nur mit äußeren Kräften, sondern vorzugsweise im Helden selbst stattfindet. Extrem innovative Texte wagen jedoch die Abkehr vom „klassischen“ Entwicklungsschema des Helden in Form von metafiktionalen Kommentaren sowie multiplen, pluralen Handlungssträngen etc.

Sonderfall des subversiven Helden: Grenouille aus Süskinds „Das Parfum“ ist insofern ein erstaunlicher Fall, da der sich selbst zum gottgleichen (Duft-)Helden stilisierende, aber eigentlich antiheldische Außenseiter völlig bösartig und unsympathisch ist sowie über Fertigkeiten verfügt, die sonst kaum jemand nachvollziehen kann, und daher die These unterläuft, dass die Leser gerne Helden folgen, die sie sympathisch oder bemitleidenswert finden und in die sie sich irgendwie hineinversetzen können (Empathie). Die Figur wirkt gerade in ihrer übertrieben pathetischen Selbststilisierung als Held sowie in der (durch intertextuelle Anleihen) besonders geformten Sprache als Parodie der Vorbilder, die sie herbeizitiert. Der auktoriale Erzähler kommentiert zudem ironisch bis kritisch denunzierend Grenouille als geistig und moralisch unfähigen Parasiten.

 

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