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Zu­satz­in­for­ma­ti­on 6

Phan­tas­tik und Wun­der­ba­res als Son­der­for­men des Fik­tio­na­len

Das rea­lis­ti­sche Er­zäh­len ori­en­tiert sich an den fik­tio­na­len li­te­ra­ri­schen Gat­tungs­kon­ven­tio­nen und deren Dar­stel­lungs­tech­ni­ken, wie sie von den üb­li­chen Ana­ly­se-In­stru­men­ta­ri­en im Li­te­ra­tur­un­ter­richt ab­ge­deckt wer­den (Dia­lo­ge bzw. Mo­no­lo­ge, Er­zäh­ler, Fi­gu­ren – ggf. mit In­nen­sicht etc.).

Das rea­lis­ti­sche Er­zäh­len kon­stru­iert er­zähl­te Wel­ten, die wie jede Fik­ti­on trotz em­pi­risch nach­weis­ba­rer „Spo­li­en“ ei­ge­nen Ge­set­zen un­ter­lie­gen (so un­ter­hal­ten sich z.B. Fi­gu­ren, die his­to­ri­sche Per­sön­lich­kei­ten sind, in Ro­ma­nen mit­tels fik­ti­ven Dia­lo­gen mit er­fun­de­nen Fi­gu­ren und un­ter­neh­men fik­ti­ve Hand­lun­gen mit er­fun­de­nen Fi­gu­ren).

Die Hand­lun­gen in einer rea­lis­tisch er­zähl­ten fik­ti­ven Welt ist je­doch nach­voll­zieh­bar plau­si­bel und nicht ir­ra­tio­nal, also lo­gisch er­klär­bar. Oft­mals wer­den Be­glau­bi­gungs­stra­te­gi­en ver­wen­det, um die rea­lis­ti­sche Pri­mär­welt als sinn­haft und rea­li­täts­nah zu be­stä­ti­gen:

  • Die Hand­lung wird durch „Spo­li­en“ (Fak­ten, ggf. Bild­ma­te­ri­al) be­glau­bigt

  • Die Hand­lung ist nach­voll­zieh­bar, schlüs­sig, lo­gisch plau­si­bel er­klär­bar, nicht sprung­haft und ir­ra­tio­nal. Hand­lungs­lü­cken („Leer­stel­len“) sind nicht er­kenn­bar oder wer­den wie beim De­tek­tiv­ro­man im Nach­hin­ein plau­si­bel ge­füllt.

  • Meh­re­re Fi­gu­ren tei­len die Sicht­wei­sen der Prot­ago­nis­ten und be­stä­ti­gen diese.

  • Prot­ago­nis­ten sind in sich schlüs­sig und han­deln mo­ti­viert. Die Er­zähl­in­stanz ist zu­ver­läs­sig, wi­der­spruchs­frei. Falls vor­über­ge­hen­de Un­schlüs­sig­kei­ten, In­sta­bi­li­tä­ten und Ir­ri­ta­tio­nen auf­tre­ten, wer­den diese schlüs­sig und plau­si­bel er­klärt (Vi­si­on, Traum, Droge, Krank­heit/Wahn etc. → Psy­cho­lo­gi­sie­rung → po­ten­ti­el­le Sys­tem­sprün­ge wer­den ra­tio­na­li­siert und rea­lis­tisch auf­ge­löst)

Doch neben den „rea­li­täts­na­hen“ fik­tio­na­len Wel­ten gibt es auch Fan­ta­sy, also die Kon­struk­ti­on des „Wun­der­ba­ren“ sowie das Pen­deln zwi­schen den bei­den Sys­te­men („Rea­lis­mus“ – „Wun­der­ba­res“). Die rea­lis­ti­sche er­zähl­te Welt gilt hier­bei als Pri­mär­sys­tem, zumal der Rea­lis­mus zudem die Haupt­strö­mung des Er­zäh­lens seit dem 19.​Jahrhun­dert aus­macht.

Ge­mein­hin wer­den ver­schie­de­ne Me­cha­nis­men – auf der Basis von Ar­bei­ten von TO­DO­ROV, NO­KO­LA­JE­WA und DURST – un­ter­schie­den (vgl. Deutsch Un­ter­richt: Fan­tas­ti­sche Li­te­ra­tur, Heft Au­gust 4-2104, S.6, v.a. die hier zu­grun­de ge­leg­te all­ge­mei­ne Ty­po­lo­gie):

Fan­tas­tik/ Phan­tas­tik als ge­schlos­se­nes Sys­tem, also die aus­schließ­lich wun­der­ba­re Welt: Diese se­kun­dä­re Welt des Wun­der­ba­ren kon­sti­tu­iert sich als ge­schlos­se­ne Text­wirk­lich­keit. D.h. die er­zähl­te Welt ist kom­plett wun­der­bar, ohne aus­führ­li­chen di­rek­ten Bezug zur em­pi­ri­schen, rea­lis­ti­schen Welt/ All­tags­welt, also auch ohne ein dich­tes Netz von „Spo­li­en“ als ein­ge­bau­te au­ßer­tex­tu­el­le Re­fe­ren­zen, wie es für Texte des Rea­lis­mus üb­lich ist. Oft­mals ent­hält diese Welt ma­gi­sche Ele­men­te.

Bei­spie­le sind Mär­chen als Text­sor­te sowie Fan­ta­sy-Li­te­ra­tur wie J.R.R. Tol­ki­en „Der Herr der Ringe“, „Der klei­ne Hob­bit“

Das Wech­sel­spiel – als Ver­mitt­lung oder Kon­takt - zwi­schen „rea­lis­ti­scher“ er­zähl­ter Welt (Pri­mär­sys­tem/ pri­mä­re er­zähl­te Welt/ Pri­mär­welt) und dem Wun­der­ba­ren als „phan­tas­ti­sche“ er­zähl­te Welt (Se­kun­där­sys­tem/ se­kun­dä­re er­zähl­te Welt/ Se­kun­där­welt). Die se­kun­dä­re Welt des fan­tas­ti­schen als par­al­lel exis­ten­te Ander(s)welt öff­net sich dem rea­lis­ti­schen Pri­mär­sys­tem, so dass ein­zel­ne Fi­gu­ren die „Pri­mär­welt“ ver­las­sen und die „Gren­zen des Na­tür­li­chen“ über­schrei­ten, um in „eine Phan­tom­welt ein­zu­tre­ten, die den Ge­set­zen der em­pi­risch er­fahr­ba­ren Wirk­lich­keit nicht mehr ge­horcht“ – die­sen Vor­gang nennt man Sys­tem­sprung (vgl. Deutsch Un­ter­richt: Fan­tas­ti­sche Li­te­ra­tur, S.6). Der Me­cha­nis­mus hat meh­re­re Va­ri­an­ten:

  1. Li­nea­rer Über­gang von der rea­lis­ti­schen Pri­mär­welt zur wun­der­ba­ren Se­kun­där­welt als ein­ma­li­ge Reise oder ir­re­ver­si­ble Ver­wand­lung einer Figur:

Bei­spie­le:

Franz Kafka „Die Ver­wand­lung“ → Gre­gor Samsa wacht in einer rea­lis­ti­schen Welt als kä­fer­ar­ti­ges „Un­ge­zie­fer“ auf und kon­fron­tiert seine Fa­mi­lie damit

Pa­trick Süs­kind „Das Par­fum“ zeigt zwar die Haupt­fi­gur Gre­nouil­le mit men­schen­ähn­li­chem Äu­ße­ren, je­doch wei­chen Ei­gen­schaf­ten sowie Ver­hal­ten der Haupt­fi­gur und auch die pan-de­ter­mi­nis­ti­sche Ver­knüp­fung der Fi­gu­ren („Schick­sal“) von der rea­lis­ti­schen Norm ab, ist damit ein wun­der­ba­rer Text im Sinne des sog. „ma­gi­schen Rea­lis­mus

  1. Zy­kli­sches Pen­deln zwi­schen rea­lis­ti­scher Pri­mär­welt und wun­der­ba­rer Se­kun­där­welt, weil Fi­gu­ren wie­der in die Pri­mär­welt zu­rück­keh­ren:

Bei­spiel:

Lewis Ca­roll „Alice im Wun­der­land“ → Alice flüch­tet vor ihrer un­er­wünsch­ten Ver­lo­bung und lan­det im Wun­der­land mit ma­gi­schen bzw. skur­ri­len Fi­gu­ren, um einen Macht­kampf zu ent­schei­den

Ran­som Riggs „Die Insel der be­son­de­ren Kin­der“ -> Jacob ver­sucht den selt­sa­men Tod sei­nes Groß­va­ters auf­zu­klä­ren und lan­det in einem Wai­sen­haus mit ma­gi­schen Be­woh­nern, die gegen Mons­ter kämp­fen

  1. Be­lie­big oft wie­der­hol­ba­rer Wech­sel zwi­schen Pri­mär- und Se­kun­där­welt (schlei­fen­för­mi­ge Va­ri­an­te):

Bei­spie­le:

J.K. Row­ling „Harry Pot­ter“ → Harry ent­deckt bei einem Zoo­be­such seine ma­gi­schen Kräf­te, lan­det in einer Zau­ber­schu­le, muss sich mit sei­ner nicht-ma­gi­schen Fa­mi­lie und ma­gi­schen Kon­tra­hen­ten her­um­schla­gen

Die Fort­set­zun­gen zur Ran­som Riggs „Die Insel der be­son­de­ren Kin­der“ (2011)

  1. Hand­lung in der Pri­mär­welt, ma­gi­sche Figur oder ma­gi­sches Er­eig­nis als Ir­ri­ta­ti­on und Un­schlüs­sig­keit (beim im­pli­zi­ten Leser) – stän­di­ges, am­bi­gues Pen­deln zwi­schen Rea­lis­ti­schem und Wun­der­ba­ren, meist ohne völ­lig klare, ra­tio­na­li­sier­ba­re Auf­lö­sung am Schluss:

Bei­spie­le:

Kai Meyer „Der Rat­ten­zau­ber“ → ein Kri­mi­nal­fall um die ver­schwun­de­nen Kin­der von Ha­meln wird ra­tio­nal auf­ge­löst, aber im Wahn/ unter Dro­gen ge­setzt sieht die Haupt­fi­gur zeit­wei­lig ma­gi­sche Phä­no­me­ne

ETA Hoff­mann „Der Sand­mann“ → Na­tha­na­el ver­fällt einer schein­bar be­leb­ten Puppe na­mens Olim­pia, die aber als Ma­schi­ne ent­larvt wird, und stirbt im Wahn

Kon­zep­ti­on von Gre­nouil­le in Süs­kinds „Das Par­fum“ als er­kenn­ba­re phan­tas­ti­sche Über­deh­nung der er­zähl­ten Rea­li­tät unter der Vor­ga­be von „Genie“ und „au­ßer­ge­wöhn­li­cher Au­ßen­sei­ter“

e) Die se­kun­dä­re Welt do­mi­niert mit ma­gi­schen Ele­men­ten, aber es gibt auch viele rea­lis­ti­sche Ele­men­te, etwa einer mit­tel­al­ter­li­chen Welt (Fan­ta­sy im en­ge­ren Sinne):

Bei­spiel:

G.R.R. Mar­tin „Das Lied von Eis und Feuer“ („A Game of Thro­nes“) → be­reits in der ers­ten Szene be­geg­nen die Fi­gu­ren den ma­gi­schen, bös­ar­ti­gen Wesen der „An­de­ren“, die das Reich Wes­te­ros be­dro­hen, wel­ches in einem Macht­kampf ver­sinkt – die ehe­ma­li­gen Kö­ni­ge sind ent­thront wor­den, da sie nicht mehr mit Hilfe ihrer Dra­chen ihre Macht si­chern konn­ten.

Viel­fach er­ge­ben sich durch das Wech­sel­spiel zwi­schen Pri­mär- und Se­kun­där­welt Mehr­deu­tig­kei­ten (Am­bi­gui­tä­ten) sowie Mög­lich­kei­ten zur Psy­cho­lo­gi­sie­rung und zu sym­bo­li­schen oder gar pa­ra­bo­li­schen Deu­tungs­ebe­nen.

Theo­re­ti­sche Ver­tie­fung: Uwe Durst: Theo­rie der phan­tas­ti­schen Li­te­ra­tur. Ak­tua­lis., korr. u. erw. Neu­ausg. Lit, Ber­lin 2007; ba­sie­rend auf I.​To­do­rov, zu­sam­men­ge­fasst bei: https://​de.​wi­ki­pe­dia.​org/​wiki/​Phan­tas­tik gute, über­sicht­li­che Dar­stel­lung: Marco Pre­s­tel: „Wun­der­sa­me Wirr­nis – eine (kurze) Ein­füh­rung in die Theo­rie der phan­tas­ti­schen Kin­der und Ju­gend­li­te­ra­tur“, Sym­po­si­on 29.-30.11.2010, Wien) https://​www.​ph-​lud­wigs­burg.​de/​fi­lead­min/​sub­sites/​2b-​dtsc-​t-​01/​user_​files/​pre­s­tel/​Vor­tra­g_​Wien.​pdf

Zur Dis­kus­si­on der Funk­ti­on und Wir­kung des Phan­tas­ti­schen:http://​www.​deu​tsch​land​funk​kult​ur.​de/​der-​reiz-​des-​fan​tast​isch​en.​950.​de.​html?​dram:​ar­ti­cle_​id=243230(Wolf­gang Schnei­der zu To­do­rovs Ein­füh­rung in die fan­tas­ti­sche Li­te­ra­tur, 11.04.2013)

 

Schau­bil­der und Zu­satz­in­for­ma­tio­nen Fik­tio­na­li­tät: Her­un­ter­la­den [doc][142 KB]

 

Wei­ter zu Hin­wei­se zur Ein­ord­nung von Süs­kinds „Das Par­fum“