Hinweise zur Einordnung von Süskinds „Das Parfum“
nach der Typologie von Uwe Durst
(minimalistische Variante der Phantastik auf der Basis von Todorov):
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Uwe Durst unterscheidet zwischen dem Phantastischen im engeren Sinne und dem Wunderbaren. Das Phantastische im engeren Sinne wird definiert als das Wunderbare, dessen binnenfiktionale Existenz mit einem Fragezeichen versehen wird, so dass die Leser bis zum Schluss nicht wissen, ob das Wunderbare im Text (also in der erzählten Welt) tatsächlich existiert oder nicht. Wenn der Text das Wunderbare bestätigt, etwa indem ein auktorialer Erzähler und/oder mehrere Figuren das Wunderbare für gegeben halten, gilt das Wunderbare als (neues) Bezugssystem der erzählten Welt. Widerlegt der Text das Wunderbare (indem er es etwa als Wahn, Traum/ Vision oder Aberglaube entlarvt), dann gilt das realistische Bezugssystem.
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Das Wunderbare liegt vor, wenn es sich um ein im Text bestätigtes Bezugssystem handelt, in dem Magie, Andersweltfiguren wie z.B. Drachen vorkommen. Daher gehören Märchen, aber auch die üblichen Formen der Fantasy (z.B. „Krabat“, „Der kleine Hobbit“, „Herr der Ringe“, „Lied von Eis und Feuer“/ „A Game of Thrones“) dazu, zumal die Figuren die wunderbaren Gegebenheiten als selbstverständlich akzeptieren, spätestens, wenn sie damit konfrontiert werden.
Man kann zwei verschiedene Phänomene (nach Farah Mendlesohn) unterscheiden:
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Die „immersive fantasy“, in der die Figuren das Wunderbare als systemimmanent und natürlich gegeben akzeptieren (vgl. „Der Herr der Ringe“)
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Die „intrusion fantasy“, in welcher wunderbare Elemente konfrontativ in die realistisch erzählte Welt eindringen und diese verändern (siehe „A Game of Thrones“ – White Walkers und Drachen).
Der Befund für „Das Parfum“ lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
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Grenouille ist bereits durch seine konsequente, widernatürliche Geruchlosigkeit von Anfang an als wunderbares Element markiert, während seine Umgebung realistisch dargestellt und durch historische Versatzstücke (Spolien, wie z.B. die Orte und die Epoche) beglaubigt wird.
Die nicht mit einem Realismus kompatiblen Eigenschaften Grenouilles wachsen im Laufe der Zeit (z.B. irreale multiple Resistenz, Tod aller „Helfer“-Figuren als „Schicksal“, Manipulation von Krankheit, jahrelanges Überleben in einer Höhle) und es werden an deren Existenz keine Zweifel formuliert.
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Diese wunderbare Außergewöhnlichkeit Grenouilles wird mit seinem Genie-Charakter legitimiert und quasi für die Leser plausibel gemacht.
Funktion für die Interpretation: Daran anknüpfend kann man Grenouilles Doppelnatur als Opfer von Ausbeutung, aber auch als manipulative Täter-Natur ebenso problematisieren, wie seine Suche nach dem perfekten Parfum und den Zielen, die er damit verbindet: Will er mit Hilfe des perfekten Parfums endlich sichtbar für alle als herausgehobenes Genie brillieren oder will er endlich als normaler Mensch mit Eigengeruch geliebt und Teil der Masse sein ? – weswegen er damit hadert, dass das Parfum nur eine Maske und kein wirklicher Eigengeruch ist (siehe sein Dilemma bei der Hinrichtung/Orgie in Grasse).
Diese Doppeldeutigkeit bleibt in letzter Konsequenz nicht auflösbar, da Grenouille bis zum Schluss weder Eigengeruch hat noch das Lieben sowie soziales und moralisches Handeln gelernt hat, weil er es einerseits nicht vermittelt bekam, andererseits auch nicht lernen will (d.h., er handelt völlig amoralisch außerhalb eines sozialen und moralischen Systems). Aus diesem Befund kann man ablesen, dass Grenouille seine „Helfer-Figuren“, die ihn ausbeuten, manipuliert und Vorteile bzw. Wissen aus ihnen herauszieht, diese dann auch sterben, sobald er sie verlässt.
Das Wunderbare markiert somit funktional die Distanz zwischen Grenouille und den Figuren seiner Umgebung, die nicht aufhebbar ist, selbst wenn man unterstellt, dass alle Figuren in ihrer mangelhaften Moralität ähnlich sind. Gleichzeitig gilt das Phänomen „willing suspension of disbelief“, weil das Etikett des Außergewöhnlichen bzw. Genies für Grenouille verhindert, dass die Plausibilität der Figur angefochten wird.
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Da der auktoriale Erzähler Grenouilles wunderbare Eigenschaften bestätigt, wird der Realitäts-Charakter des Romans eigentlich unterwandert, aber ohne dass das weiter expliziert wird. Es kommt also zu keiner Konfrontation des Wunderbaren mit dem Realistischen (wie z.B. im ersten Roman der „Harry Potter“-Serie) bzw. zu keiner expliziten Anerkennung des Wunderbaren durch andere Figuren, die das Wunderbare als solches konstatieren (allenfalls ansatzweise intuitiv bei Pater Terrier und der Amme). Das Wunderbare ist für die anderen Figuren weitgehend verdeckt existent (vgl. Grenouilles „Unsichtbarkeit“) und außerdem subversiv.
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Das Wunderbare in „Das Parfum“ ist konstitutiv wichtig und wird zu einer Art „roter Faden“, ist also nicht als ein singuläres Ereignis und als untergeordnete Nebenhandlung von der Basishandlung sequentiell weitgehend isoliert, also ohne Konsequenzen für die restliche Handlung. Im Gegenteil: Das Wunderbare in Grenouilles Charakter hat Konsequenzen aus sich selbst heraus (Suche nach dem perfekten Parfum, Mädchenmorde etc.) und dominiert die Handlung, zumal die Hauptfigur fast durchgängig im Fokus von Erzähler und Handlung steht.
Uwe Durst nennt diesen Text daher „realitätssystemisch mobiler Text“ und ordnet ihn dem „magischen Realismus“ zu, denn der Text verneint einerseits seine ursprüngliche realitätssystemische Natur, indem die wunderbare Hauptfigur den Realismus der erzählten Welt systematisch unterläuft und in eine eigene „wunderbare Welt“ verwandelt, andererseits wird im Text dieser Verstoß gegen die Regeln des erzählten Realitätssystems nicht explizit markiert, zumal der Erzähler das nicht problematisiert und die anderen Figuren das Wunderbare an Grenouille mehr oder minder ungefragt und ohne Konfrontation akzeptieren (im Regelfall durchschauen sie es nicht oder können es zumindest nicht benennen). Also liegt zwar eine „intrusion fantasy“ vor, die aber als solche nicht erkannt und ungefragt eher wie eine „immersive fantasy“ behandelt wird. Da es sich um einen Roman handelt, der historisch die Epoche der Aufklärung behandelt, dient das ungefragt akzeptierte, in den Realismus eindringende Wunderbare als Teil der subversiven, antiaufklärerischen Strategie des Textes.
Mit anderen Worten: Der Roman tut über weite Strecken so, als wäre er weiterhin realistisch, ist aber bereits wunderbar, ohne das explizit zu thematisieren (also auch hier subversiv) und verdeckt das durch die Konstruktion eines „Genie-Mythos` “ für Grenouille, was die Leser im Regelfall als plausibel akzeptieren. Intertextuell gilt allerdings die Konvention des Wunderbaren gegenüber dem Realistischen, wodurch das Wunderbare erkennbar wird.
Mirjam-Kerstin Holl in Absprache mit Uwe Durst, Stand Mai 2018
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