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Hin­wei­se zur Ein­ord­nung von Süs­kinds „Das Par­fum“

nach der Ty­po­lo­gie von Uwe Durst

(mi­ni­ma­lis­ti­sche Va­ri­an­te der Phan­tas­tik auf der Basis von To­do­rov):

  • Uwe Durst un­ter­schei­det zwi­schen dem Phan­tas­ti­schen im en­ge­ren Sinne und dem Wun­der­ba­ren. Das Phan­tas­ti­sche im en­ge­ren Sinne wird de­fi­niert als das Wun­der­ba­re, des­sen bin­nen­fik­tio­na­le Exis­tenz mit einem Fra­ge­zei­chen ver­se­hen wird, so dass die Leser bis zum Schluss nicht wis­sen, ob das Wun­der­ba­re im Text (also in der er­zähl­ten Welt) tat­säch­lich exis­tiert oder nicht. Wenn der Text das Wun­der­ba­re be­stä­tigt, etwa indem ein auk­to­ria­ler Er­zäh­ler und/oder meh­re­re Fi­gu­ren das Wun­der­ba­re für ge­ge­ben hal­ten, gilt das Wun­der­ba­re als (neues) Be­zugs­sys­tem der er­zähl­ten Welt. Wi­der­legt der Text das Wun­der­ba­re (indem er es etwa als Wahn, Traum/ Vi­si­on oder Aber­glau­be ent­larvt), dann gilt das rea­lis­ti­sche Be­zugs­sys­tem.

  • Das Wun­der­ba­re liegt vor, wenn es sich um ein im Text be­stä­tig­tes Be­zugs­sys­tem han­delt, in dem Magie, An­ders­welt­fi­gu­ren wie z.B. Dra­chen vor­kom­men. Daher ge­hö­ren Mär­chen, aber auch die üb­li­chen For­men der Fan­ta­sy (z.B. „Kra­bat“, „Der klei­ne Hob­bit“, „Herr der Ringe“, „Lied von Eis und Feuer“/ „A Game of Thro­nes“) dazu, zumal die Fi­gu­ren die wun­der­ba­ren Ge­ge­ben­hei­ten als selbst­ver­ständ­lich ak­zep­tie­ren, spä­tes­tens, wenn sie damit kon­fron­tiert wer­den.

Man kann zwei ver­schie­de­ne Phä­no­me­ne (nach Farah Mend­le­sohn) un­ter­schei­den:

  1. Die „im­mer­si­ve fan­ta­sy“, in der die Fi­gu­ren das Wun­der­ba­re als sys­tem­im­ma­nent und na­tür­lich ge­ge­ben ak­zep­tie­ren (vgl. „Der Herr der Ringe“)

  2. Die „in­tru­si­on fan­ta­sy“, in wel­cher wun­der­ba­re Ele­men­te kon­fron­ta­tiv in die rea­lis­tisch er­zähl­te Welt ein­drin­gen und diese ver­än­dern (siehe „A Game of Thro­nes“ – White Wal­kers und Dra­chen).

Der Be­fund für „Das Par­fum“ lässt sich fol­gen­der­ma­ßen zu­sam­men­fas­sen:

  • Gre­nouil­le ist be­reits durch seine kon­se­quen­te, wi­der­na­tür­li­che Ge­ruch­lo­sig­keit von An­fang an als wun­der­ba­res Ele­ment mar­kiert, wäh­rend seine Um­ge­bung rea­lis­tisch dar­ge­stellt und durch his­to­ri­sche Ver­satz­stü­cke (Spo­li­en, wie z.B. die Orte und die Epo­che) be­glau­bigt wird.

Die nicht mit einem Rea­lis­mus kom­pa­ti­blen Ei­gen­schaf­ten Gre­nouil­les wach­sen im Laufe der Zeit (z.B. ir­rea­le mul­ti­ple Re­sis­tenz, Tod aller „Hel­fer“-Fi­gu­ren als „Schick­sal“, Ma­ni­pu­la­ti­on von Krank­heit, jah­re­lan­ges Über­le­ben in einer Höhle) und es wer­den an deren Exis­tenz keine Zwei­fel for­mu­liert.

  • Diese wun­der­ba­re Au­ßer­ge­wöhn­lich­keit Gre­nouil­les wird mit sei­nem Genie-Cha­rak­ter le­gi­ti­miert und quasi für die Leser plau­si­bel ge­macht.

Funk­ti­on für die In­ter­pre­ta­ti­on: Daran an­knüp­fend kann man Gre­nouil­les Dop­pel­na­tur als Opfer von Aus­beu­tung, aber auch als ma­ni­pu­la­ti­ve Täter-Natur eben­so pro­ble­ma­ti­sie­ren, wie seine Suche nach dem per­fek­ten Par­fum und den Zie­len, die er damit ver­bin­det: Will er mit Hilfe des per­fek­ten Par­fums end­lich sicht­bar für alle als her­aus­ge­ho­be­nes Genie bril­lie­ren oder will er end­lich als nor­ma­ler Mensch mit Ei­gen­ge­ruch ge­liebt und Teil der Masse sein ? – wes­we­gen er damit ha­dert, dass das Par­fum nur eine Maske und kein wirk­li­cher Ei­gen­ge­ruch ist (siehe sein Di­lem­ma bei der Hin­rich­tung/Orgie in Gras­se).

Diese Dop­pel­deu­tig­keit bleibt in letz­ter Kon­se­quenz nicht auf­lös­bar, da Gre­nouil­le bis zum Schluss weder Ei­gen­ge­ruch hat noch das Lie­ben sowie so­zia­les und mo­ra­li­sches Han­deln ge­lernt hat, weil er es ei­ner­seits nicht ver­mit­telt bekam, an­de­rer­seits auch nicht ler­nen will (d.h., er han­delt völ­lig amo­ra­lisch au­ßer­halb eines so­zia­len und mo­ra­li­schen Sys­tems). Aus die­sem Be­fund kann man ab­le­sen, dass Gre­nouil­le seine „Hel­fer-Fi­gu­ren“, die ihn aus­beu­ten, ma­ni­pu­liert und Vor­tei­le bzw. Wis­sen aus ihnen her­aus­zieht, diese dann auch ster­ben, so­bald er sie ver­lässt.

Das Wun­der­ba­re mar­kiert somit funk­tio­nal die Dis­tanz zwi­schen Gre­nouil­le und den Fi­gu­ren sei­ner Um­ge­bung, die nicht auf­heb­bar ist, selbst wenn man un­ter­stellt, dass alle Fi­gu­ren in ihrer man­gel­haf­ten Mo­ra­li­tät ähn­lich sind. Gleich­zei­tig gilt das Phä­no­men „wil­ling sus­pen­si­on of dis­be­lief“, weil das Eti­kett des Au­ßer­ge­wöhn­li­chen bzw. Ge­nies für Gre­nouil­le ver­hin­dert, dass die Plau­si­bi­li­tät der Figur an­ge­foch­ten wird.

  • Da der auk­to­ria­le Er­zäh­ler Gre­nouil­les wun­der­ba­re Ei­gen­schaf­ten be­stä­tigt, wird der Rea­li­täts-Cha­rak­ter des Ro­mans ei­gent­lich un­ter­wan­dert, aber ohne dass das wei­ter ex­pli­ziert wird. Es kommt also zu kei­ner Kon­fron­ta­ti­on des Wun­der­ba­ren mit dem Rea­lis­ti­schen (wie z.B. im ers­ten Roman der „Harry Pot­ter“-Serie) bzw. zu kei­ner ex­pli­zi­ten An­er­ken­nung des Wun­der­ba­ren durch an­de­re Fi­gu­ren, die das Wun­der­ba­re als sol­ches kon­sta­tie­ren (al­len­falls an­satz­wei­se in­tui­tiv bei Pater Ter­ri­er und der Amme). Das Wun­der­ba­re ist für die an­de­ren Fi­gu­ren weit­ge­hend ver­deckt exis­tent (vgl. Gre­nouil­les „Un­sicht­bar­keit“) und au­ßer­dem sub­ver­siv.

  • Das Wun­der­ba­re in „Das Par­fum“ ist kon­sti­tu­tiv wich­tig und wird zu einer Art „roter Faden“, ist also nicht als ein sin­gu­lä­res Er­eig­nis und als un­ter­ge­ord­ne­te Ne­ben­hand­lung von der Ba­sis­hand­lung se­quen­ti­ell weit­ge­hend iso­liert, also ohne Kon­se­quen­zen für die rest­li­che Hand­lung. Im Ge­gen­teil: Das Wun­der­ba­re in Gre­nouil­les Cha­rak­ter hat Kon­se­quen­zen aus sich selbst her­aus (Suche nach dem per­fek­ten Par­fum, Mäd­chen­mor­de etc.) und do­mi­niert die Hand­lung, zumal die Haupt­fi­gur fast durch­gän­gig im Fokus von Er­zäh­ler und Hand­lung steht.

Uwe Durst nennt die­sen Text daher „rea­li­täts­sys­te­misch mo­bi­ler Text“ und ord­net ihn dem „ma­gi­schen Rea­lis­mus“ zu, denn der Text ver­neint ei­ner­seits seine ur­sprüng­li­che rea­li­täts­sys­te­mi­sche Natur, indem die wun­der­ba­re Haupt­fi­gur den Rea­lis­mus der er­zähl­ten Welt sys­te­ma­tisch un­ter­läuft und in eine ei­ge­ne „wun­der­ba­re Welt“ ver­wan­delt, an­de­rer­seits wird im Text die­ser Ver­stoß gegen die Re­geln des er­zähl­ten Rea­li­täts­sys­tems nicht ex­pli­zit mar­kiert, zumal der Er­zäh­ler das nicht pro­ble­ma­ti­siert und die an­de­ren Fi­gu­ren das Wun­der­ba­re an Gre­nouil­le mehr oder min­der un­ge­fragt und ohne Kon­fron­ta­ti­on ak­zep­tie­ren (im Re­gel­fall durch­schau­en sie es nicht oder kön­nen es zu­min­dest nicht be­nen­nen). Also liegt zwar eine „in­tru­si­on fan­ta­sy“ vor, die aber als sol­che nicht er­kannt und un­ge­fragt eher wie eine „im­mer­si­ve fan­ta­sy“ be­han­delt wird. Da es sich um einen Roman han­delt, der his­to­risch die Epo­che der Auf­klä­rung be­han­delt, dient das un­ge­fragt ak­zep­tier­te, in den Rea­lis­mus ein­drin­gen­de Wun­der­ba­re als Teil der sub­ver­si­ven, an­ti­auf­klä­re­ri­schen Stra­te­gie des Tex­tes.

Mit an­de­ren Wor­ten: Der Roman tut über weite Stre­cken so, als wäre er wei­ter­hin rea­lis­tisch, ist aber be­reits wun­der­bar, ohne das ex­pli­zit zu the­ma­ti­sie­ren (also auch hier sub­ver­siv) und ver­deckt das durch die Kon­struk­ti­on eines „Genie-My­thos` “ für Gre­nouil­le, was die Leser im Re­gel­fall als plau­si­bel ak­zep­tie­ren. In­ter­tex­tu­ell gilt al­ler­dings die Kon­ven­ti­on des Wun­der­ba­ren ge­gen­über dem Rea­lis­ti­schen, wo­durch das Wun­der­ba­re er­kenn­bar wird.

Mir­jam-Kers­tin Holl in Ab­spra­che mit Uwe Durst, Stand Mai 2018

 

Schau­bil­der und Zu­satz­in­for­ma­tio­nen Fik­tio­na­li­tät: Her­un­ter­la­den [doc][142 KB]

 

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