Die Filmhandlung III (Struktur und Thema)
Der Film „Halbnah“ folgt dem Muster des klassischen Erzählkinos, das von „der Reise eines Helden“ berichtet. Diese wird im filmischen Plot der geschlossenen Form als ein organisches Ganzes abgebildet, das in allen Details und Zusammenhängen leicht nachvollziehbar ist. Das wichtigste Mittel, um dies zu bewirken, ist die frühe Definition eines Ziels, das der Held im Verlauf seiner Reise konsequent verfolgt. Damit treibt er die Handlung voran, bis er schließlich das Ziel erreicht.
Eine zusätzliche Motivation erhalten die Helden durch eine Backstorywound, eine schmerzliche Erfahrung aus der Vergangenheit, die erklärt, weshalb die Figur so getrieben ist. Die Backstorywound ist meist schlicht und austauschbar, sie gehorcht der Logik der Erzählung und wird psychologisch nicht vertieft.
Geschlossenheit entsteht weiterhin durch die Prinzipien von Linearität und Kausalität. Jede Szene treibt die Handlung in Richtung des Ziels und es gibt einen für den Zuschauer ersichtlichen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung.
Ein weiteres Element der geschlossenen Erzählweise ist eine deutlich ausgeprägte Hierarchie der Haupt- und Nebenfiguren. Es gibt sieben Aktionsbereiche, an denen Charaktere teilhaben können und die ihre Funktion für die Erzählung bestimmen:
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Der Held ist auf der Suche nach seiner wahren Bestimmung, strebt ein Ziel an.
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Der Gegenspieler versucht ihn daran zu hindern.
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Der Schenker übermittelt dem Helden eine Gabe, die ihn entscheidend voranbringt.
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Die gesuchte Person belohnt den Helden, wenn er sein Ziel erreicht hat, oder ist selbst die Belohnung.
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Der Sender schickt den Helden auf den Weg.
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Der Helfer berät den Helden, stattet ihn mit Wissen aus.
(Stefan Munaretto: Wie analysiere ich einen Film? Das Standardwerk zur Filmanalyse. Hollfeld 2014. S. 26 f.)
Aufgabe:
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Prüfe, inwiefern der Kurzfilm „Halbnah“ dem klassischen Erzählkino zuzuordnen ist.
Untersuche, wo der Film davon abweicht, und nenne Gründe für die Abweichungen.
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Bestimme den Zusammenhang zwischen der Handlungsstruktur und der Thematik des Films. Berücksichtige dabei die bisherigen Ergebnisse zur Filmhandlung.
Lösungshinweise
Die Aufgaben dienen dazu, die Filmhandlung zu vertiefen und deutlich zu machen, dass die meisten Filme einem konventionellen narrativen Muster folgen, das den Aufbau der Handlung bestimmt. Der Kurzspielfilm „Halbnah“ kann in einigen Punkten dem klassischen Erzählkino zugeordnet werden. Motor der Handlung ist Max´ Suche nach der großen Liebe und damit nach dem Glück. Er ist der Held der Geschichte. Als Backstorywound könnte man seine Erfahrungen und sein Scheitern in den bisherigen Beziehungen sehen. Die Handlung folgt den Prinzipien von Linearität und Kausalität, es gibt nur einen Handlungsstrang, der konsequent auf das Ziel zustrebt. Das Figurenensemble ist sehr überschaubar, neben Max und Hannah als Hauptfiguren, spielt nur Karl als „Schenker“ und „Helfer“ eine tragende Nebenrolle. Hannah lässt sich als die „gesuchte Person“ beschreiben.
Abweichungen sind zum einen darin zu sehen, dass Max nicht dem klassischen Helden entspricht. Hier lässt sich mit den SuS diskutieren, welche Erwartungen sie an eine Heldenfigur haben und inwiefern Max davon abweicht. Die Gründe liegen darin, dass Max im Prinzip sein eigener Gegenspieler ist, der sich bei seiner Suche nach dem Glück selbst im Weg steht.
Die andere und sicher interessantere Abweichung ist im Filmende auszumachen und damit in der Frage, ob Max sein Ziel erreicht. Das Filmende bietet durch seine Offenheit ausreichend Diskussionspotenzial. Ob die SuS das von selbst erkennen oder ob entsprechende Überlegungen angestoßen werden müssen, bleibt abzuwarten. Das Ende könnte immerhin von den Schülern so verstanden werden, dass Max am Ziel ankommt, indem er die Möglichkeit erhält, seinen Fehler gutzumachen und sich mit Hannah zu versöhnen. Damit könnte das Ende als erwartetes Happy End gedeutet werden. Die Frage nach dem Happy End führt ins Zentrum des Filmverständnisses. Hier könnte man als Impuls in Anlehnung an den Roman „Agnes“ von Peter Stamm die These in den Raum stellen, dass Glück keine guten Geschichten macht, und damit die Überlegung anstoßen, was ein Happy End im Film bedeutet und wie es nach dem Happy End weiter geht. Hollywood spart – zumindest häufig – das Schwierige an Beziehungen aus. Der Film endet, sobald sich ein Paar – wenn auch nach etlichen Verwicklungen – gefunden hat. Ob Hannah und Max tatsächlich zusammen passen, was sie über ihre Liebe zum Film hinaus miteinander verbindet, wie sie ihre Diskrepanzen überwinden, bleibt fraglich. Auch der Filmtitel weist in diese Richtung, Hannah und Max sind sich eben nur „halbnah“.
In diesem Zusammenhang kann auch die Frage diskutiert werden, warum Max plötzlich auf die Idee kommt, mit Hannah ausgehen zu wollen, ebenso wie die, warum Hannah trotz ihrer anfänglichen Vorbehalte später einwilligt. Die Konzeption der Figuren legt jedenfalls nicht unweigerlich den Schluss nahe, dass einer harmonischen Partnerschaft nichts im Wege steht.
Der Zusammenhang zwischen Handlungsstruktur und Thematik des Films lässt sich so erklären, dass „Halbnah“ den Hollywoodfilm imitiert, indem er eine konventionelle Handlung entwirft. Das entspricht der Rolle und der Bedeutung, die der Film im Film einnimmt. Der Film konterkariert aber gleichzeitig den klassischen Liebesfilm, indem er offen endet und damit deutlich macht, dass ein Happy End im wirklichen Leben wesentlich komplexer und dass für Max das Ende erst der Anfang ist.
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