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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

Die­ter Birn­ba­cher: Men­schen­wür­de – ab­wäg­bar oder un­ab­wäg­bar? In: Mat­thi­as Kett­ner (Hrsg.): Bio­me­di­zin und Men­schen­wür­de. Frank­furt a.M. 2004, S. 249 – 271.

I. Auf­riss der Pro­ble­ma­tik

  • Be­griff der „Men­schen­wür­de“: Dis­kre­panz zwi­schen der pa­the­ti­schen Auf­la­dung des Be­grif­fes in mo­ra­li­schen Dis­kur­sen in Deutsch­land und sei­ner re­la­ti­ven Un­be­stimmt­heit
  • Der Be­griff hat sich seit Kant ge­wan­delt: in der GMS noch in der au­to­no­men Selbst­ge­setz­ge­bung und dem Schutz der Frei­heit des ein­zel­nen fun­diert, soll die Be­ru­fung auf Men­schen­wür­de nun die „Na­tur­wüch­sig­keit“ des Le­bens schüt­zen.
  • Die man­geln­de Be­stimmt­heit des Men­schen­wür­de­be­griffs wird v.a. da­durch zum Pro­blem, dass nicht nur mo­ra­li­sche und po­li­ti­sche, son­dern auch ju­ris­ti­sche Kon­tex­te be­trof­fen sind, was zwangs­läu­fig Rechts­un­si­cher­hei­ten nach sich zieht.

=> gibt es we­nigs­tens einen iden­ti­schen „Be­deu­tungs­kern“?

 

II. Be­stands­auf­nah­me: Drei Be­grif­fe von Men­schen­wür­de

  • Grund­le­gen­de Ge­mein­sam­keit in der Be­griffs­ver­wen­dung:
    Der Gat­tung Mensch wird ein be­son­de­rer nor­ma­ti­ver Sta­tus zu­ge­schrie­ben;
    die­ser Sta­tus be­darf nicht not­wen­di­ger­wei­se me­ta­phy­si­scher Kon­tex­te, ist mit die­sen aber ver­ein­bar.
  • diese grund­le­gen­de Ge­mein­sam­keit hat drei Kon­se­quen­zen:
    1. Ein strik­ter Ega­li­ta­ris­mus
      Men­schen­wür­de kommt allen Men­schen zu, un­ab­hän­gig davon,ob alle Po­ten­tia­li­tä­ten rea­li­siert sind oder auch nur rea­li­siert wer­den kön­nen.
    2. Spe­zie­sis­mus:
      Men­schen­wür­de kommt allen An­ge­hö­ri­gen der Spe­zi­es zu und nur die­sen.
    3. Nicht­ab­stuf­bar­keit der Men­schen­wür­de
      Men­schen­wür­de kann nur als Gan­zes be­ses­sen wer­den;

aber: die Be­deu­tungs­ker­ne un­ter­schei­den sich ab­seits die­ser Ge­mein­sam­kei­ten.

 

III. „Men­schen­wür­de als En­sem­ble un­ab­wäg­ba­rer mo­ra­li­scher Rech­te

  • Der Trä­ger von Men­schen­wür­de „im star­ken Sinn“ ver­fügt über Rech­te, die an­de­ren Pflich­ten auf­er­le­gen;
  • dies sind min­des­tens:
    1. „Das Recht, von Wür­de­ver­let­zun­gen ver­schont zu wer­den“
    1. „Das Recht auf ein Mi­ni­mum an Hand­lungs- und Ent­schei­dungs­frei­heit“
    1. „Das Recht auf Hilfe in un­ver­schul­de­ten Not­la­gen“
    1. „Das Recht auf ein Mi­ni­mum an Le­bens­qua­li­tät im Sinne von Lei­dens­frei­heit“
    1. „Das Recht, nicht ohne Ein­wil­li­gung und in schwer­wie­gen­der Weise zu frem­den Zwe­cken in­stru­men­ta­li­siert zu wer­den“

    => aber: aus dem Be­griff folgt kein um­fas­sen­des Recht auf Leben.

 

IV. „Men­schen­wür­de im schwa­chen Sinne: Re­spek­tie­rung des Hu­ma­num“

  • kann nicht mit dem star­ken Be­griff gleich­ge­setzt wer­den, weil
    1. dies zu einer Zu­bil­li­gung zu weit­rei­chen­der Schutz­rech­te an Em­bryo­nen, Föten und Leich­na­men führt;
    1. die Rück­über­tra­gung der schwä­che­ren Schutz­rech­te die­ser drei Grup­pen auf ge­bo­re­ne Men­schen zu einer Re­la­ti­vie­rung der aus ihrer Men­schen­wür­de flie­ßen­den Rech­te führt;
    1. mo­ra­li­sche Rech­te nicht einem gram­ma­ti­schen Sub­jekt zu­ge­spro­chen wer­den kön­nen, dem keine rea­les Sub­jekt ent­spricht (Birn­ba­cher ver­tritt ohne nä­he­re Be­grün­dung die Auf­fas­sung, eine be­fruch­te­te Ei­zel­le oder ein Leich­nam sei kein sol­ches rea­les Sub­jekt);
    1. Nur we­ni­ge der Be­deu­tungs­ge­hal­te des star­ken Men­schen­wür­de­be­griffs kön­nen auf Vor- und Nach­pha­sen mensch­li­chen Le­bens an­ge­wandt wer­den; so könn­ten z.B. Leich­na­me und Em­bryo­nen nicht ihrer Frei­heit be­raubt wer­den.
  • von den fünf aus dem star­ken Men­schen­wür­de­be­griff fol­gen­den Rech­ten kön­nen nur zwei über­tra­gen wer­den:
    1. Die Ver­pflich­tung, Lei­den zu ver­mei­den (weil Föten emp­fin­dungs­fä­hig sind);
    1. Die Ver­pflich­tung, nie­man­den gra­vie­rend zu frem­den Zwe­cken zu in­stru­men­ta­li­sie­ren (weil dies bei Em­bryo­nen, Föten und Leich­na­men glei­cher­ma­ßen mög­lich ist).
    =>
    • im Ge­gen­satz zu dem aus dem star­ken Men­schen­wür­de­be­griff flie­ßen­den Pflich­ten sind die aus dem schwa­chen Be­griff fol­gen­den ab­wäg­bar;
    • dies wird auch em­pi­risch durch die Recht­spre­chung do­ku­men­tiert (ins­be­son­de­re die BVerfGUr­tei­le von 1975 und 1993, die den frü­hen Em­bryo bis zu 14 Tagen von star­ken Schutz­rech­ten aus­neh­men).

=> aber: auch aus dem schwa­chen Menschwür­de­be­griff folgt kein um­fas­sen­des Recht auf Leben

 

V. „Gat­tungs­wür­de“

  • Die­ser Be­griff spielt ers­tens in der Dis­kus­si­on um die po­ten­ti­el­le Er­zeu­gung von Misch­we­sen eine Rolle: bei einer sol­chen Vor­ge­hen kann es not­wen­di­ger­wei­se nicht um die Ver­let­zung der Würde eines In­di­vi­du­ums gehen, son­dern um das der Spe­zi­es Mensch, die of­fen­bar „rein­ge­hal­ten“ wer­den soll.
  • Re­le­vant scheint diese Per­spek­ti­ve zwei­tens im Zu­sam­men­hang mit re­pro­duk­ti­vem Klo­nen zu sein, denn es sei nicht nach­voll­zieh­bar, wie die Mo­da­li­tä­ten der Zeu­gung Aus­wir­kun­gen auf die in­di­vi­du­el­le Men­schen­wür­de des Klo­nes oder des Ge­klon­ten haben könn­ten.

=> beide Auf­fas­sun­gen be­ru­fen sich auf ein nicht näher be­grün­de­tes Prin­zip der „Wi­der­na­tür­lich­keit“

 

VI. Wie kann die nor­ma­ti­ve Ab­stu­fung der drei Men­schen­wür­de­be­grif­fe ethisch be­grün­det wer­den?

  • grund­sätz­li­che Schwie­rig­keit: un­ter­schied­li­chen Ethi­ken lie­gen un­ter­schied­li­che Auf­fas­sun­gen von Moral­ge­ne­se sowie un­ter­schied­li­che Im­ple­men­tie­rungs­wei­sen des „Men­schen­wür­de­be­griffs“ zu­grun­de, was wie­der­um zu je­weils an­de­ren Kon­se­quen­zen auf die un­ter­schied­li­chen Kon­zep­te von Men­schen­wür­de führt (Bspe: Kant ver­sus Na­tu­ra­lis­mus);
  • der „be­dürf­nis­ori­en­tier­te ethi­sche An­satz“ Birn­ba­chers ver­or­tet den Men­schen­wür­de­be­griff nicht auf der Ebene der ethi­schen Theo­rie, son­dern aus­schließ­lich auf der der All­tags­mo­ral und des Rech­tes;
  • im Rah­men die­ses An­sat­zes kommt es le­dig­lich dar­auf an, wel­che Funk­ti­on die Be­grif­fe der All­tags­mo­ral haben; die Ab­stu­fung der nor­ma­ti­ven Kraft folgt aus der un­ter­schied­li­chen Wich­tig­keit der Be­griffs­funk­tio­nen in „der Re­gu­lie­rung mensch­li­cher Pra­xis“.
  • Im Sinne die­ses An­sat­zes folgt:
    1. Der star­ke Men­schen­wür­de­be­griff dient dem Schutz ele­men­ta­rer mensch­li­cher Be­dürf­nis­se wie Frei­heit, Si­cher­heit etc.
    2. Der schwa­che Be­griff der in­di­vi­du­el­len Men­schen­wür­de be­zieht sich nicht pri­mär auf die Be­ein­träch­ti­gung der Ob­jek­te der In­stru­men­ta­li­sie­rung, son­dern vor allem auf die Fol­gen der In­stru­men­ta­li­sie­rung auf die Ge­füh­le Drit­ter.
    3. Der Be­griff der Gat­tungs­wür­de trägt dem we­ni­ger wich­ti­gen Be­dürf­nis nach „Rein­heit“ der Spe­zi­es Rech­nung.
    4. Die für diese Zu­ord­nun­gen grund­le­gen­den Ge­fühls­hal­tun­gen va­ri­ie­ren teil­wei­se kul­tu­rell und his­to­risch.

 

zu­rück: Die­ter Birn­ba­cher

wei­ter: Rai­ner Forst

 

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