Zur Hauptnavigation springen [Alt]+[0] Zum Seiteninhalt springen [Alt]+[1]

Lösung

Infobox

Diese Seite ist Teil einer Materialiensammlung zum Bildungsplan 2004: Grundlagen der Kompetenzorientierung. Bitte beachten Sie, dass der Bildungsplan fortgeschrieben wurde.


Originaltext: Jürgen Habermas „Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Kapitel: Menschenwürde vs. Würde des menschlichen Lebens

In eigenen Worten nachformulierter Text („Dolmetschen“) – Lösungsvorschlag

Nur auf der Grundlage einer weltanschaulich imprägnierten Beschreibung von Tatbeständen, die in pluralistischen Gesellschaften vernünftigerweise umstritten [alle Hervorhebungen im Original, B.S.], kann es gelingen, zu einer eindeutigen Bestimmung des moralischen Status zu gelangen – sei es im Sinne der christlichen Metaphysik oder des Naturalismus. Niemand zweifelt am intrinsischen Wert des menschlichen Lebens vor der Geburt – ob man es nun „heilig“ nennt oder eine solche „Sakralisierung“ des Selbstzweckhaften ablehnt

Die Bestimmung des moralischen „Wertes“ eines Embryos ist problematisch, weil es keine vermeintlich neutralen Formulierungen zur Beschreibung gibt. Gemeint ist: ich kann einen Embryo zwar z.B. als einen noch nicht voll ausgebildeten Menschen bezeichnen oder als Teil der Schöpfung, der einen eigenen, vom Menschen unabhängigen Zweck hat. Aber welche Formulierung auch gewählt wird, keine ist so, dass sie von allen Bürgerinnen und Bürgern vernünftigerweise akzeptiert werden könnte. Dabei sind sicherlich alle Menschen der Auffassung, dass auch ungeborenes Leben immer schon einen Wert in sich besitzt.

Im normativen Streit einer demokratischen Öffentlichkeit zählen letztlich nur moralische Aussagen im strengen Sinne. Nur weltanschaulich neutrale Aussagen über das, was gleichermaßen gut ist für jeden, können den Anspruch stellen, für alle aus guten Gründen akzeptabel zu sein.

Wenn die Öffentlichkeit sich über Werte und Normen verständigt, soll sie sich auf neutrale Aussagen beschränken, weil nur solche aus rationalen Gründen (und nicht irgendwelchen anderen, die es auch gibt) von allen Mitgliedern der Gesellschaft akzeptiert werden können.

Die Gemeinschaft moralischer Wesen, die sich ihre Gesetze selber geben, bezieht sich in der Sprache von Rechten und Pflichten auf alle Verhältnisse, die der normativen Regelung bedürfen; aber nur die Mitglieder dieser Gemeinschaft können sich gegenseitig moralisch verpflichten und voneinander normenkonformes Verhalten erwarten.

Nur die Mitglieder einer Gemeinschaft, die sich über Rechte und Pflichten verständigt, können sich überhaupt gegenseitig zu irgendetwas ethisch verpflichten.

[...] Wie ich zeigen möchte, ist „Menschenwürde“ im streng moralischen und rechtlichen Verstande an diese Symmetrie der Beziehungen gebunden. Sie ist nicht eine Eigenschaft, die man von Natur aus „besitzen“ kann wie Intelligenz oder blaue Augen; sie markiert vielmehr diejenige „Unantastbarkeit“, die allein in den interpersonalen Beziehungen reziproker Anerkennung, im egalitären Umgang von Personen miteinander eine Bedeutung haben kann.

Hier kommt nun der Begriff „Menschenwürde“ ins Spiel: Menschenwürde ist keine Art von Eigenschaft, die man einfach besitzt. Es gibt sie nur in der eben genannten Gemeinschaft von Menschen, die sich gegenseitig verpflichten können.

[...] Was den Organismus erst mit der Geburt zu einer Person im vollen Sinne des Wortes macht, ist der gesellschaftlich individuierende Akt der Aufnahme in den öffentlichen Interaktionszusammenhang einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt. [...] Keineswegs ist das genetisch individuierte Wesen im Mutterleib, als Exemplar einer Fortpflanzungsgemeinschaft, „immer schon“ Person. Erst in der Öffentlichkeit einer Sprachgemeinschaft bildet sich das Naturwesen zugleich zum Individuum und zur vernunftbegabten Person.

Zu einer richtigen Person wird der Mensch erst dadurch, dass er in diese Kommunikationsgemeinschaft eintritt, was ein ungeborenes Kind eben nicht kann.

Im symbolischen Netzwerk der reziproken Anerkennungsbeziehungen kommunikativ handelnder Personen wird das Neugeborene als „einer“ oder „eine von uns“ identifiziert und lernt nach und nach, sich selbst zu identifizieren – und zwar gleichzeitig als Person überhaupt, als Teil oder Mitglied seiner sozialen Gemeinschaft(en) und als unverwechselbar einzigartiges, zugleich moralisch unvertretbares Individuum. [...]

Innerhalb der Kommunikationsgemeinschaft ist das Neugeborene nicht nur Teil dieser Gemeinschaft. Es beginnt sich zu entwickeln und zwar ganz allgemein seine Identität, aber auch, indem es sich gleichermaßen als Mitglied dieser Gesellschaft als auch als ein Individuum begreift.

[...] Vor dem Eintritt in öffentliche Kommunikationszusammenhänge genießt das menschliche Leben als Bezugspunkt unserer Pflichten Rechtsschutz, ohne selber Subjekt von Pflichten und Träger von Menschenrechten zu sein. [...] Darüber hinaus behält auch das vorpersonale Leben diesseits eines Stadiums, in dem es in der zugeschriebenen Rolle einer zweiten Person angeredet werden kann, einen integralen Wert für das Ganze einer ethisch verfassten Lebensform.

Das heißt aber nicht, dass ein noch nicht geborener Mensch keinerlei Rechte hätte. Er hat Rechte, weil die Mitglieder der Mitglieder der Gemeinschaft ihm gegenüber Pflichten haben. Auch wenn es sozusagen nicht selbst sprechen kann, kann es doch als „Du“ schon angeredet werden, und damit ist es auch ein Teil einer ethischen Gemeinschaft. Der Unterschied besteht darin, dass das Ungeborene, eben weil es noch nicht Teil einer verstehenden Gemeinschaft ist, nicht selbst Subjekt von Pflichten und eben auch nicht von Menschenwürde sein kann.

In dieser Hinsicht bietet sich die Unterscheidung zwischen der Würde des menschlichen Lebens und der jeder Person rechtlich garantierten Menschenwürde an – eine Unterscheidung, die sich übrigens in der Phänomenologie unseres gefühlsbeladenen Umgangs mit Toten spiegelt.

Hier kann man ansetzen und sagen: Um diesen Unterschied zu bezeichnen, kann man sagen: jedes menschliche Wesen hat Würde, aber nur ein Mitglied der Kommunikationsgemeinschaft hat Menschenwürde, die auch rechtlich garantiert ist. So gehen wir auch mit Verstorbenen um: sie haben für uns Würde, aber es würde wenig Sinn ergeben, ihnen Menschenwürde zuzusprechen. Habermas hat wohl auch vor Augen, dass wir Toten z.B. nicht alle Menschenrechte zusprechen würden (darauf geht er an späterer Stelle noch ein).

[...] Jenseits der Grenzen einer strikt verstandenen Gemeinschaft moralischer Personen erstreckt sich keine Grauzone, in der wir normativ rücksichtslos handeln und ungehemmt hantieren dürfen. Andererseits verlieren moralisch gesättigte juristische Begriffe wie „Menschenrecht“ und „Menschenwürde“ durch eine kontraintuitive Überdehnung nicht nur ihre Trennschärfe, sondern auch ihr kritisches Potential. Menschen rechts verletzungen dürfen nicht zu Verstößen gegen Wert vorstellungen ermäßigt werden. [...]

Nochmals: auch mit menschlichem Leben, das noch nicht Teil der Kommunikationsgemeinschaft ist, darf nicht willkürlich alles getan werden, aber der Unterschied zwischen beiden muss klar bleiben. Wenn wir nämlich, auch entgegen unserer grundsätzlichen Gefühlslage, nun begännen, Menschenwürde und –rechte auf ungeborenes Leben oder Tote zu übertragen, dann würden damit Menschenrechtsverletzungen letztlich verharmlost, da es sich nur um Verstöße gegen bestimmte Wertvorstellungen handelte.

 

zurück: Habermas

weiter: Otfried Höffe

 

Lösung: Herunterladen [doc][729 KB]

Lösung: Herunterladen [pdf][26 KB]