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Mar­tha Nuss­baum

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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.


Die Idee der Men­schen­wür­de in der Po­li­ti­schen Phi­lo­so­phie von Mar­tha Nuss­baum [1]

Für Mar­tha Nuss­baum hat Phi­lo­so­phie und Phi­lo­so­phie­ren einen kla­ren Pra­xis­be­zug. Ihr geht es in An­knüp­fung an Aris­to­te­les um die Ent­wick­lung von Kri­te­ri­en für ein gutes mensch­li­ches Leben. Dabei geht sie von einem „An­satz der Fä­hig­kei­ten“ aus, den sie ge­mein­sam mit Amar­tya Sen in ihrer Be­ra­tungs­tä­tig­keit  für UN-Ent­wick­lungs­pro­jek­te ent­wor­fen hat. Sie geht dabei von der Frage aus, worin die mensch­li­chen Grund­fä­hig­kei­ten oder Grund­funk­tio­nen be­ste­hen. Erst die  Mög­lich­keit zu einem Min­dest­maß der Ent­fal­tung aller die­ser an­thro­po­lo­gi­schen Kon­stan­ten schaf­fen po­li­tisch ge­rech­te Ver­hält­nis­se (po­li­ti­sche Ge­rech­tig­keit) und die Mög­lich­keit zu einem Leben in Würde, weil die Men­schen qua Mensch­sein An­spruch auf diese Ent­fal­tungs­mög­lich­kei­ten haben. Nuss­baum pos­tu­liert zehn mensch­li­che Grund­funk­tio­nen als not­wen­di­ge Be­din­gung für ein dem Men­schen an­ge­mes­se­nes und damit sei­ner wür­di­ges Leben.

In ihrer phi­lo­so­phie­ge­schicht­li­chen Her­lei­tung des Be­griffs der Men­schen­wür­de geht sie von der Stoa und Kant aus, um dann ihren ei­ge­nen An­satz unter Be­ru­fung auf Aris­to­te­les und den jun­gen Marx davon ab­zu­gren­zen.

Für die grie­chi­schen und rö­mi­schen Stoi­ker mache die Ver­nunft  im Sinne prak­ti­scher Ver­nunft als Fä­hig­keit zur mo­ra­li­schen Ent­schei­dung, das Wert­vol­le bzw. Wür­di­ge jedes ein­zel­nen Men­schen aus. Sie sei nach Mei­nung der Stoi­ker, so Nuss­baum, die Teil­ha­be am Gött­li­chen in jedem Men­schen. Dabei käme es nicht auf so­zia­le oder ma­te­ri­el­le Le­bens­be­din­gun­gen oder das Ge­schlecht an, alle Men­schen wür­den sich in ihrem gren­zen­lo­sen mo­ra­li­schen Wert glei­chen.

Die­sen An­satz sieht Nuss­baum auch in der neu­zeit­li­chen auf­klä­re­ri­schen Po­si­ti­on Kants fort­be­ste­hen, die den Men­schen auf­grund sei­ner Ver­nunft­fä­hig­keit als Zweck an sich er­ach­tet, wes­halb die Ach­tung sei­ner Würde darin be­steht, dass er nie­mals bloß als Mit­tel be­han­delt wer­den darf.

Nuss­baum er­kennt zwar durch­aus an, dass die Stoi­ker und Kant darin rich­tigl lie­gen, dass im Men­schen ein letzt­lich un­ver­äu­ßer­li­cher Wert exis­tiert un­ab­hän­gig von allen äu­ße­ren Le­bens­be­din­gun­gen. Den­noch greift für sie die Be­schrän­kung des mensch­li­chen Werts auf seine Ver­nunft­fä­hig­keit zu kurz.

Unter Be­ru­fung auf die aris­to­te­li­sche Tra­di­ti­on und den frü­hen Marx geht sie davon aus, dass mensch­li­che Fä­hig­kei­ten für ihr Ge­dei­hen und für ihre Aus­übung eine ge­eig­ne­te ma­te­ri­el­le und po­li­ti­sche Um­welt be­nö­ti­gen.In die­sem Sinne möch­te sie die Vor­stel­lung von Men­schen­wür­de über die Ver­nunft­be­ga­bung hin­aus auf die wei­te­ren von ihr pos­tu­lier­ten Fä­hig­kei­ten aus­deh­nen.Nach Nuss­baum haben die Men­schen ihren Wert und Ihre Würde in ihren Fä­hig­kei­ten, auf­grund derer sie ver­schie­de­ne For­men von Ak­ti­vi­tä­ten aus­üben oder an­stre­ben kön­nen. Aber ge­ra­de die Ent­wick­lung die­ser Fä­hig­kei­ten zu tat­säch­li­chen Be­tä­ti­gungs­mög­lich­kei­ten sind von äu­ße­ren Fak­to­ren an­hän­gig.

Nuss­baum un­ter­schei­det hier­bei grund­le­gen­de Fä­hig­kei­ten (für die un­aus­ge­bil­de­ten Fä­hig­kei­ten), in­ne­woh­nen­de Fä­hig­kei­ten (für aus­ge­bil­de­te Fä­hig­kei­te) und  kom­bi­nier­te Fä­hig­kei­ten (Kom­bi­na­ti­on von aus­ge­bil­de­ten Fä­hig­kei­ten und ge­eig­ne­ten Ver­hält­nis­sen, um sie auch tat­säch­lich aus­üben zu kön­nen).

Sie ver­an­schau­licht dies am Bei­spiel  nicht ge­währ­ter Mei­nungs­frei­heit in einem re­pres­si­ven Re­gime: Eine ge­bil­de­te Per­son, die zur frei­en Mei­nungs­äu­ße­rung und zur Bil­dung von In­ter­es­sen­grup­pen fähig ist, im Sinne einer aus­ge­bil­de­ten in­ne­woh­nen­den mensch­li­chen Fä­hig­keit, kann diese Fä­hig­keit aber auf­grund der po­li­ti­schen Ver­hält­nis­se nicht aus­üben. Wenn schon die Bil­dungs­mög­lich­kei­ten ein­ge­schränkt wären, dann be­stün­de der Wi­der­spruch zwi­schen grund­le­gen­den und in­ne­woh­nen­den Fä­hig­kei­ten. Für ein mensch­li­ches Leben in Würde sind dem­nach nicht nur die Vor­aus­set­zun­gen für die Ent­fal­tung der grund­le­gen­den Fä­hig­kei­ten wich­tig, son­dern auch die Pra­xis ihrer Aus­übung.

An­hand zwei­er wei­te­rer Bei­spie­le ver­deut­licht Nuss­baum ihren Ge­dan­ken, dass die An­la­ge zu Fä­hig­kei­ten al­lein die Würde des Men­schen nicht be­schrei­ben kann, wie es die Stoi­ker und Kant be­züg­lich der Ver­nunft­fä­hig­keit  sehen. Äu­ße­re Hin­der­nis­se, die die Ent­fal­tung und die Pra­xis die­ser Fä­hig­kei­ten ein­schrän­ken, stel­len eine ekla­tan­te Ver­let­zung der Würde des Men­schen dar.

Im Fall eines un­ge­recht­fer­tig­ten Frei­heits­ent­zugs muss ge­fragt wer­den, warum dies schlecht ist für eine gute Per­son, wenn an­ge­nom­men wird, dass dies nicht den Wert und die Würde einer Per­son her­ab­setzt. Nach Nuss­baum lässt sich dies nur damit er­klä­ren, dass die un­fair ein­ge­sperr­te Per­son da­durch ge­schä­digt wird, dass sie ihre guten Fä­hig­kei­ten nicht ver­wen­den kann. Nur wenn wir davon aus­ge­hen, dass die wert­vol­len Fä­hig­kei­ten der Ent­wick­lung und Pra­xis be­dür­fen, kön­nen wir er­klä­ren, dass un­ge­recht­fer­tig­ter Frei­heits­ent­zug als Schä­di­gung emp­fun­den wird.

Und wei­ter fragt Nuss­baum, warum wir eine Ver­ge­wal­ti­gung als eine Ver­let­zung der Men­schen­wür­de er­ach­ten, ob­wohl doch nie­mand Ver­nünf­ti­ges mehr eine Ver­ge­wal­ti­gung als eine Ent­wer­tung oder Be­fle­ckung einer Frau be­trach­tet. Eine Ver­ge­wal­ti­gung, so Nuss­baum,  ver­letzt das Leben einer Frau in sei­ner kör­per­li­chen, psy­chi­schen und emo­tio­na­len Di­men­si­on und be­ein­flusst ihre Mög­lich­kei­ten zur Aus­übung ihrer Fä­hig­kei­ten. Da­durch werde ihr zwar nicht die Würde ge­nom­men aber er­heb­lich ver­letzt, weil ein Leben in Würde be­hin­dert wird.

Ein Leben ohne Mög­lich­kei­ten der Ent­wick­lung und Aus­übung der be­deu­ten­den mensch­li­chen Fä­hig­kei­ten stellt für Mar­tha Nuss­baum ana­log zur un­ge­recht­fer­tig­ten Frei­heits­be­rau­bung und zur Ver­ge­wal­ti­gung eine Ver­let­zung der Men­schen­wür­de dar. Somit nimmt sie die Mög­lich­keit, ein den grund­le­gen­den Fä­hig­kei­ten an­ge­mes­se­nes Leben füh­ren zu kön­nen in ihren Be­griff von Men­schen­wür­de auf.

Au­to­ren­text der ZPG-Grup­pe. Die Dar­stel­lung ba­siert auf fol­gen­den Schrif­ten von Mar­tha Nuss­baum:

  • Men­schen­wür­de und po­li­ti­sche An­sprü­che, in: Zeit­schrift für Men­schen­rech­te, 2010 Nr.1, S.80-97.
  • Ge­rech­tig­keit oder Das gute Leben, Frank­furt/M. 1999.

 


Die Grund­fä­hig­kei­ten des Men­schen (Nuss­baums Liste aus: M.​Nuss­baum, Ge­rech­tig­keit oder Das gute Leben, Frank­furt/M. 1999, S. 17f.)

  1. Die Fä­hig­keit, ein vol­les Men­schen­le­ben bis zum Ende zu füh­ren; nicht vor­zei­tig zu ster­ben oder zu ster­ben, bevor das Leben so re­du­ziert ist, dass es nicht mehr le­bens­wert ist.
  2. Die Fä­hig­keit, sich guter Ge­sund­heit zu er­freu­en; sich an­ge­mes­sen zu er­näh­ren; eine an­ge­mes­se­ne Un­ter­kunft zu haben; Mög­lich­kei­ten zu se­xu­el­ler Be­frie­di­gung zu haben; sich von einem Ort zu einem an­de­ren zu be­we­gen.
  3. Die Fä­hig­keit, un­nö­ti­gen Schmerz zu ver­mei­den und fried­vol­le Er­leb­nis­se zu haben.
  4. Die Fä­hig­keit die fünf Sinne zu be­nut­zen, sich etwas vor­zu­stel­len, zu den­ken und zu ur­tei­len.
  5. Die Fä­hig­keit, Bin­dun­gen zu Din­gen und Per­so­nen au­ßer­halb unser selbst zu haben; die­je­ni­gen zu lie­ben, die uns lie­ben und für uns sor­gen, und über ihre Ab­we­sen­heit trau­rig zu sein; all­ge­mein ge­sagt: zu lie­ben, zu trau­ern, Sehn­sucht und Dank­bar­keit zu emp­fin­den.
  6. Die Fä­hig­keit, sich eine Vor­stel­lung vom Guten zu ma­chen und kri­tisch über die ei­ge­ne Le­bens­pla­nung nach­zu­den­ken.
  7. Die Fä­hig­keit für an­de­re und be­zo­gen auf an­de­re zu leben, Ver­bun­den­heit mit an­de­ren Men­schen zu er­ken­nen und zu zei­gen, ver­schie­de­ne For­men von fa­mi­liä­ren und so­zia­len Be­zie­hun­gen ein­zu­ge­hen.
  8. Die Fä­hig­keit, in Ver­bun­den­heit mit Tiere , Pflan­zen und der gan­zen Natur zu leben und pfleg­lich mit ihnen um­zu­ge­hen.
  9. Die Fä­hig­keit, zu la­chen, zu spie­len und Freu­de an er­hol­sa­men Tä­tig­kei­ten zu haben.
  10. Die Fä­hig­keit, sein ei­ge­nes Leben und nicht das von je­mand an­de­rem zu leben.
    10 a. Die Fä­hig­keit, sein ei­ge­nes Leben in sei­ner ei­ge­nen Um­ge­bung und sei­nem ei­ge­nen Kon­text zu leben

[1] Bio­gra­phi­sche Notiz zu Mar­tha C. Nuss­baum
Jahr­gang 1947, 1975 Pro­mo­ti­on in Alt­phi­lo­lo­gie in Har­vard, da­nach dort Do­zen­tin für Phi­lo­so­phie und Alt­phi­lo­lo­gie, 1984 bis 1989 Pro­fes­so­rin  an der Brown Uni­ver­si­ty (Rhode Is­land) . Von 1987 bis 1993 For­schungs­be­ra­te­rin am World In­sti­tu­te for De­ve­lop­ment Eco­no­mics Re­se­arch in Hel­sin­ki, einer UN-Ein­rich­tung. Dort be­fass­te sie sich mit Ent­wick­lungs­pro­jek­ten und Fra­gen der Le­bens­stan­dard­mes­sung. Seit 1994 ist sie Pro­fes­so­rin für Phi­lo­so­phie, Recht und Ethik an der Uni­ver­si­tät von Chi­ca­go. Sie gilt als re­nom­mier­tes­te Ver­tre­te­rin eines neo­aris­to­te­li­schen An­sat­zes in der prak­ti­schen Phi­lo­so­phie.

Wich­tigs­te in Deutsch er­schie­ne­ne Werke:
Ge­rech­tig­keit oder Das gute Leben, Frank­furt/M. 1999.
Kon­struk­tio­nen der Liebe, des Be­geh­rens und der Für­sor­ge, Frank­furt/M. 2002.
Quel­le: Uni­ver­si­tät von Chi­ca­go http://​www.​law.​uchi­ca­go.​edu/​fa­cul­ty/​nuss­baum/

 

Ar­beits­auf­trag zur Tex­ter­schlie­ßung:

  1. Ordne die fol­gen­den Über­schrif­ten je­weils den Ab­schnit­ten im Text zu:
    • Wür­de­be­griff der Stoa
    • Dif­fe­ren­zie­rung des Be­griffs „Fä­hig­kei­ten“
    • Un­be­rech­tig­ter Frei­heits­ent­zug und Ver­ge­wal­ti­gung als Bei­spie­le für Wür­de­ver­let­zung
    • Ver­hält­nis Men­schen­wür­de und Ge­rech­tig­keit
    • Nuss­baums Kri­tik am Wür­de­be­griff der Stoa
    • Nuss­baums Grund­idee
    • Ver­hält­nis Stoa und Kant
  2. Ver­fas­se einen er­läu­tern­den Kom­men­tar zu den je­wei­li­gen Ab­schnit­ten, indem Du den Ge­dan­ken in ei­ge­nen Wor­ten pa­ra­phra­sierst.
  3. For­mu­lie­re eine knap­pe De­fi­ni­ti­on:
    Mar­tha Nuss­baum de­fi­niert Men­schen­wür­de …

 

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