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Sta­ti­on 5: Ur­teils­kraft

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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

Grund­la­gen:

Die Grund­la­ge un­se­res Ar­gu­men­tie­rens bil­det der sog. „Syl­lo­gis­mus“, der aus Prä­mis­sen (Vor­aus­set­zun­gen) und einer Kon­klu­si­on (Schluss­fol­ge­rung) auf­ge­baut ist.

Der prak­ti­sche Syl­lo­gis­mus be­steht aus einem nor­ma­ti­ven Ober­satz (= 1. Prä­mis­se), einem de­skrip­ti­ven (nicht nor­ma­ti­ven) Un­ter­satz (= 2. Prä­mis­se) und einer nor­ma­ti­ven Kon­klu­si­on.

Bei der For­mu­lie­rung und Prü­fung von Ar­gu­men­ten ist dar­auf zu ach­ten, dass ver­deck­te nor­ma­ti­ve Prä­mis­sen for­mu­liert wer­den. Ein Schluss al­lein aus de­skrip­ti­ven Prä­mis­sen / Tat­sa­chen („Ist“-Satz) auf eine Hand­lungs­an­wei­sung („Soll“-Satz) be­geht einen Sein-Sol­len-Fehl­schluss.

Eine wei­te­re Form der prak­ti­schen Syl­lo­gis­men ist der prag­ma­ti­sche oder zweck­ra­tio­na­le Schluss. Zweck­ra­tio­nal han­delt eine Per­son, die ihr Han­deln nach einem ge­wähl­ten Ziel aus-rich­tet und dabei über­legt, wel­ches Mit­tel ge­eig­net ist, den Hand­lungs­zweck am bes­ten zu er­rei­chen. Man spricht des­halb auch von einer Zweck-Mit­tel-Ra­tio­na­li­tät.

 

Die Ar­beit der Ur­teils­kraft: Über­le­gungs­gleich­ge­wicht

Wenn wir eine ethisch-mo­ra­li­sche Ar­gu­men­ta­ti­on in der in den Lern­sta­tio­nen be­schrie­be­nen Weise über­prü­fen und uns dar­auf­hin ein ei­ge­nes, be­grün­de­tes Ur­teil bil­den, grei­fen wir auf eine Fä­hig­keit zu­rück, die in der Ge­schich­te der Phi­lo­so­phie immer wie­der ana­ly­siert wurde: un­se­re Ur­teils­kraft . So un­ter­sucht Aris­to­te­les z.B. in der Ni­ko­ma­chi­schen Ethik die Rolle der Phro­ne­sis beim tu­gend­haf­ten Han­deln. Auch Kant ver­sucht, die Funk­ti­on der Ur­teils­kraft näher zu be­stim­men:

„Ur­teils­kraft über­haupt ist das Ver­mö­gen, das Be­son­de­re als ent­hal­ten unter dem All­ge­mei­nen zu den­ken. Ist das All­ge­mei­ne (die Regel, das Prin­zip, das Ge­setz) ge­ge­ben, so ist die Ur­teils­kraft, wel­che das Be­son­de­re dar­un­ter sub­su­m­irt, [...] be­stim­mend. Ist aber nur das Be­son­de­re ge­ge­ben, wozu sie das All­ge­mei­ne fin­den soll, so ist die Urt­heils­kraft re­flek­tie­rend .“

(Kant, Kri­tik der Ur­teils­kraft,
http://​www.​zeno.​org/​Phi­lo­so­phie/​M/​Kant , Stand: 12.9.12)

Kant un­ter­schei­det also zwei Wei­sen, wie die Ur­teils­kraft ar­bei­tet:

Wenn wir in einem (prak­ti­schen) Syl­lo­gis­mus das Be­son­de­re (z.B. „So­kra­tes“) als ent­hal­ten unter dem All­ge­mei­nen (z.B. „Mensch“) den­ken wol­len, dann kann sich unser Nach­den­ken ent­we­der

vom All­ge­mei­nen zum Kon­kre­ten (top-down)

oder

vom Kon­kre­ten zum All­ge­mei­nen (bot­tom-up)

be­we­gen. Wel­che Rich­tung un­se­re Ur­teils­kraft ein­schlägt, hängt davon ab, was not­wen­dig ist, um zu einer Schluss­fol­ge­rung zu kom­men.

Die be­stim­men­de Ur­teils­kraft ord­net nach Kant den ein­zel­nen Fall unter eine all­ge­mei­ne Regel. Der Be­son­de­re wird also unter eine all­ge­mei­ne Regel sub­su­miert, der ein­zel­ne Fall als ein Fall einer gro­ßen Menge gleich­ge­ar­te­ter Fälle ver­stan­den. Wenn man nach­voll­zie­hen kann, was die all­ge­mei­ne Regel sagt, ist diese Sub­sum­ti­on für uns i.d.R. nicht so schwer. So stel­len Schü­ler z.B. fest, dass ein Leh­rer ge­lo­gen hat. Um die­ses Ver­hal­ten zu be­ur­tei­len, wird es unter eine all­ge­mei­ne Regel sub­su­miert, also:

Ober­satz: Es ist immer mo­ra­lisch falsch zu lügen.

Un­ter­satz: Der Leh­rer hat ge­lo­gen.

Schluss­fol­ge­rung: Der Leh­rer hat etwas Fal­sches getan.

Sehr viel schwe­rer hat es dem­ge­gen­über die re­flek­tie­ren­de Ur­teils­kraft . Sie muss zu neuem Tat­sa­chen­wis­sen (z.B. beim Klo­nen) erst die all­ge­mei­nen nor­ma­ti­ven Aus­sa­gen (Werte) su­chen, die uns eine Be­ur­tei­lung des neu auf­ge­tre­te­nen em­pi­ri­schen Wis­sens er­lau­ben. Dies kann zur Folge haben, dass die Dis­kus­sio­nen, in denen wir uns bei der Suche nach dem „All­ge­mei­nen“ ver­wi­ckeln, zu einem neuen oder mo­di­fi­zier­ten Ver­ständ­nis der grund-le­gen­den Werte und Nor­men führt.

Ein Bei­spiel hier­für stellt eine Dis­kus­si­on aus dem Be­reich der Me­di­zi­nethik dar: Mit der mo­der­nen Ge­rä­te­me­di­zin kön­nen Men­schen mit­tels Herz-Lun­gen-Ma­schi­nen künst­lich am Leben er­hal­ten wer­den. Be­deu­tet das Ab­stel­len die­ser Ge­rä­te die be­wuss­te Tö­tung eines Men­schen, gar Mord? Oder han­delt es sich hier­bei z.B. darum, dass die be­han­deln­den Ärzte die Au­to­no­mie des Wil­lens des Pa­ti­en­ten re­spek­tie­ren? Die Fra­gen, die sich hier stel­len, zie­len also dar­auf, die uns über­zeu­gen­de mo­ra­li­sche Norm zu fin­den, die uns die mo­ra­li­sche Be­ur­tei­lung die­ses Vor­ge­hens der Ärzte er­laubt.

Der Phi­lo­soph John Rawls hat dar­auf hin­ge­wie­sen, dass bei die­ser ar­gu­men­ta­ti­ven Suche oft­mals nicht nur der pro­ble­ma­ti­sche Fall einer mo­ra­li­schen Be­ur­tei­lung zu­gäng­lich ge­macht wird, son­dern sich da­durch, dass wir im Licht des pro­ble­ma­ti­schen Fal­les die mo­ra­li­schen Nor­men neu in­ter­pre­tie­ren, auch unser Ver­ständ­nis der zu­grun­de lie­gen­den mo­ra­li­schen Nor­men selbst wan­delt. Ab­ge­schlos­sen ist die­ser Über­le­gungs­pro­zess erst dann, wenn nach un­se­rer Auf­fas­sung Fall und Norm so zu­ein­an­der pas­sen (bzw. – nach Rawls – sich in einem „Gleich­ge­wicht“ be­fin­den), dass wir uns ein mo­ra­li­sches Ur­teil zu­trau­en kön­nen. 

Übung: Die Leis­tung des prak­ti­schen Syl­lo­gis­mus

Wie wir ge­se­hen haben, er­leich­tert die Dar­stel­lung von ethisch-mo­ra­li­schen Ar­gu­men­ta­tio­nen in der Form des prak­ti­schen Syl­lo­gis­mus die Prü­fung des Gel­tungs­an­spru­ches nor­ma­ti­ver Aus-sagen durch un­se­re Ur­teils­kraft in meh­re­ren Be­rei­chen.

Auf­ga­be:
Er­läu­tern Sie die Leis­tung der syl­lo­gis­ti­schen Ana­ly­se ethisch-mo­ra­li­scher Ar­gu­men­ta­tio­nen in den fol­gen­den Be­rei­chen:

Der prak­ti­sche Syl­lo­gis­mus kann dazu ver­hel­fen,  …

ja

nein

weil:

… (1) die lo­gi­sche Kor­rekt­heit einer Schluss­fol­ge­rung zu über­prü­fen;

 

 

 

 

… (2) den As­pekt zu iden­ti­fi­zie­ren, der ethisch um­strit­ten ist;

 

 

 

 

… (3) über das zen­tra­le Be­grün­dungs­pro­blem Klar­heit zu ge­win­nen;

 

 

 

 

… (4) im­pli­zi­te Prä­mis­sen auf­zu­de­cken;

 

 

 

 

… (5) die ver­wen­de­ten Be­grif­fe zu klä­ren;
 

 

 

 

 

… (6) den em­pi­ri­schen Sach­ver­halt kla­rer her­aus zu ar­bei­ten.

 

 

 

 

 

⇒ Die Lö­sun­gen zu die­ser Lern­sta­ti­on fin­den Sie im Down­load.

 

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Sta­ti­on 5: Ur­teils­kraft: Her­un­ter­la­den [doc][47 KB]

Sta­ti­on 5: Ur­teils­kraft: Her­un­ter­la­den [pdf][117 KB]