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Literaturwissenschaftl. Einordnung & Deutungsperspektiven

Der Keller schließt als zweiter Band der Autobiographie inhaltlich an die Erzählung Die Ursache. Eine Andeutung an, die die Schulzeit des Ich-Erzählers zum Thema hat. Charakteristisch für Bernhards autobiographische Schriften ist das Spiel mit Realität und Fiktion, das – bei allen Parallelen – eine einfache Gleichsetzung des Werks mit dem Leben des Autors verhindert. Die Möglichkeit autobiographischen Schreibens wird in der Erzählung selbst verhandelt und angezweifelt: „Das Beschriebene macht etwas deutlich, das zwar dem Wahrheitswillen des Beschreibenden, aber nicht der Wahrheit entspricht, denn die Wahrheit ist überhaupt nicht mitteilbar.“ Auf die dem Keller zugrundeliegende Kritik an der traditionellem Autobiographie, die einen einheitsstiftenden Entwurf anstrebt, geht etwa Kramer ein, wenn er auf die Vermischung von Erinnerung und Fiktion und die Widersprüche und Gegensätze in der Erzählung hinweist. Ähnlich wie die traditionelle Biographie dient dem Ich-Erzähler das Schreiben dazu, der eigenen Existenz „auf die Spur“ zu kommen, was allerdings durch die Überzeugung, dass alles Geschriebene Lüge ist, wieder unterminiert wird.

Andreas Maier, dessen Debütroman Wäldchestag stilistisch sehr stark an Bernhards Prosa angelehnt ist, kritisiert ausgerechnet die Widersprüche und Stilisierungen in Bernhards Autobiographie und verkennt dabei, worauf Süselbeck hinweist, sowohl die Literarizität des Werks als auch die Tatsache, dass Gewissheiten (wie der Wahrheitsbegriff) philosophisch und literaturhistorisch fragwürdig geworden sind, was in literarischen Formen wie dem Zitieren, einer Antithetik und dem hyperbolisches Schreiben seinen Ausdruck findet.

Überhaupt dominiert – wie für Bernhard typisch – eine skeptische, negative Grundhaltung: Hat der klassische Bildungsroman den Entwicklungs- und Reifeprozess der jungen Protagonisten und ihre Eingliederung in die Gesellschaft zum Thema, so weist bereits der Untertitel kontrafaktisch auf die Zweifel an der Möglichkeit eines positiven Lebensentwurfs hin: Die Lehrzeit im Keller wird rein negativ als eine „Entziehung“ von den Zwängen des Gymnasiums definiert anstatt einer „Erziehung“ zu einem als sinnhaft empfundenen Leben. Die Erzählung ist daher eindeutig als Parodie am Bildungsroman angelegt (vgl. auch Kramer); an die Stelle der Bildung tritt die Ausbildung im Keller.

Der Keller selbst wird dabei zur lebensrettenden Zwischenstation des Ich-Erzählers, und die Scherzhauserfeldsiedlung, in der er gelegen ist, stellt den Gegensatz zu den Räumen und Orten einer vom Ich-Erzähler verhassten bürgerlichen Existenz wie der am Gymnasium dar. Hier kommt es zu Begegnungen des Ich-Erzählers mit den Ausgestoßenen der Gesellschaft, die seine Existenz als nützlich erfahrbar machen. Allerdings werden die Bewohner der Scherzhauserfeldsiedlung bei aller Sympathie für diese dennoch nicht verklärt und ihre Brutalität und Rohheit werden nicht verschwiegen. Zwar wird auf die Schicksale einzelner Bewohner eingegangen, dabei treten jene aber weniger als eigenständige Charaktere in Erscheinung, sondern die subjektive Perspektive des Ich-Erzählers wird nicht durchbrochen und entscheidend sind ausschließlich die Reflexionen der Begegnungen für die eigene Existenz. Die Erzählung kann daher nur bedingt als sozialkritisch motiviert gelesen werden.

Die Lehrzeit im Keller ist nicht frei von Ambivalenzen und tritt als positiver Lebensentwurf nicht an die Stelle einer grundsätzlichen negativen existentiellen Grundhaltung. Die Existenzbegründung ex negativo, indem der Ich-Erzähler sich „in die entgegengesetzte Richtung“ orientiert – was als Leitmotiv auch auf der formalen Ebene die antithetische Struktur der Erzählung widerspiegelt – beinhaltet bei aller Negativität letztlich doch eine lebensbejahende Haltung, die auch in dem Folgeband Der Atem. Eine Entscheidung zentral ist, wenn sich der schwer lungenkranke Protagonist für das Leben entscheidet. Mittermayer und Marquardt betonen in diesem Zusammenhang die Theatermetaphorik, die der Ich-Erzähler selbst in Bezug auf sein Leben verwendet und nach deren Logik nicht nur sein Leben, sondern auch sein Schreiben und schließlich auch der Keller selbst zur Bühne werden: Die Inszenierung seiner Lebensgeschichte ermöglicht dem Ich-Erzähler eine Distanznahme und Ironie, die dem Bedrohlichen der Existenz seinen Schrecken nimmt und das erzählende Ich eine Rolle spielen lässt, über die es selbst verfügt. Das Schreckliche der Existenz erscheint somit gleichzeitig als Tragödie und angesichts der Lächerlichkeit vor allem auch als Komödie.

Der Keller ist für den Ich-Erzähler somit mehr als nur eine Ausbildungsstelle; er initiiert seine Selbstfindung und Selbstreflexion und dient letztlich der Sicherung und Begründung der eigenen Existenz, die in dem lebensbejahenden Bewusstsein der „Gleichgültigkeit“, in dem alle Dinge und Menschen gleichwertig sind, wie sie sind, mündet.

Textausgabe:

Thomas Bernhard: Der Keller. Eine Entziehung. Salzburg 1998 (1979).

Bernhard „Der Keller“: Herunterladen [pdf][182 KB]