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Didaktische Hinweise & Vernetzung

Didaktische Hinweise

Eine Unterrichtseinheit zum Roman ‚Atemschaukel‘ könnte noch vor der Lektüre mit einer Hinführung zu den historischen Hintergründen des Themas ‚Zwangsarbeiterlager nach dem Zweiten Weltkrieg‘ beginnen (vgl. dazu Edith Konradt 2010, 30-33). In den Blick genommen werden könnten hierbei auch die verschiedenen Erinnerungskulturen, die sich anhand der Unterscheidung zwischen ‚hard memory‘ und ‚soft memory‘ einteilen ließen (vgl. Brigid Haynes 2013, 17-20). Als ‚soft memory‘ werden Erinnerungen des kollektiven Gedächtnisses einer Zivilgesellschaft an historische Verbrechen bezeichnet, die nicht in einen allgemeinen Diskurs eingeflossen sind. Über deren Bewertung ist kein Konsens entstanden; eine konsequente Aufarbeitung gibt es nicht. Ein Beispiel hierfür ist laut Alexander Etkind der Umgang Russlands mit den sowjetischen Straf- und Arbeitslagern (Gulags) nach dem Zweiten Weltkrieg und darüber hinaus. Dagegen werden Erinnerungen an historische Verbrechen, die in der Öffentlichkeit auf breiter Basis diskutiert und wissenschaftlich aufgearbeitet worden sind, die zu einer konsensualen Verurteilung geführt und sich in Gedenkstätten, Museen und Denkmalen kristallisiert haben, als ‚hard memory‘ bezeichnet. Ein Beispiel hierfür ist die kritische Aufarbeitung des Holocaust und der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten im Nachkriegsdeutschland. Darüber hinaus könnte auch der Prozess der Entstehung des Romans kurz beleuchtet werden. Hierbei könnte die akribische Recherche Müllers und ihre Sicherung der realen Erfahrungen des befreundeten Dichters Oskar Pastior verdeutlicht werden. Insgesamt könnte der Roman im Vorfeld als exemplarische Fiktionalisierung zehntausendfach erlebten Leids durch Arbeitslager in der europäischen Nachkriegszeit eingeordnet werden. Eine Kooperation mit dem Fach Geschichte böte sich an.

Die konkrete Textbegegnung könnte mit einer gemeinsamen Lektüre und Bearbeitung des Eingangskapitels beginnen, da hier der Protagonist in seiner inneren und äußeren Lebenssituation vorgestellt sowie die Zwangsrekrutierung, Leos Vorbereitungen (Kofferpacken) und die Fahrt ins Lager dargestellt werden. Besonderes Augenmerk könnte dabei auf seine Habseligkeiten, sein Verhältnis zur Familie sowie den leitmotivisch wiederkehrenden Überlebenssatz der Großmutter („Ich weiß, du kommst wieder.“) gelegt werden. Nach diesem gemeinsamen Einstieg in die Lektüre kann der eigenständige Leseprozess der Schülerinnen und Schüler beginnen. Unterrichtlich relevante Aspekte, die ggf. durch lektürebegleitende Arbeitsaufträge vorentlastet werden könnten, sind:

  • Beschreibung des Lagers: Topografie, Abläufe, Personal, Arbeiten

  • Personenkonstellation und Charakterisierung Leos sowie einzelner Bezugspersonen

  • Interpretation ausgewählter Erzählsequenzen: z.B.

    Vom Fahren (Kap. 8) – Verlassen des Lagers mit Kobelian

    Schwarzpappeln (Kap. 11) – nächtlicher Appell unter Todesangst

    Taschentuch und Mäuse (Kap. 12) – Geschenk einer einsamen russischen Mutter, Mäusebabys auf dem Kopfkissen

    Der Kriminalfall mit dem Brot (Kap. 19) – Brotdiebstahl und Bestrafung

    10 Rubel (Kap. 27) – Geldfund auf dem Markt

    Der weinrote Seidenschal (Kap. 36)

    Kartoffelmensch (Kap. 39)

  • Beschreibung und funktionale Deutung von Leitmotiven:

    gegenständlich: Taschentuch, Koffer, Kuckucksuhr, roter Seidenschal, Herzschaufel;

    gedanklich: Satz der Großmutter, Hungerengel, Herzschaufel, ‚Hasoweh‘, Traum vom Ritt auf dem weißen Schwein

  • Ermittlung und Beschreibung der Bedrohungen im Lager: Hunger, schwere Arbeit, mangelnde Hygiene, Dehumanisierung

  • Beschreibung und Deutung der Überlebensstrategien:

    physisch: Tauschgeschäfte, Kartoffelschalen, Meldekraut etc.

    sprachlich-gedanklich: Personifikationen, Erinnerungen, Träume, Ironisierung. Neologismen

  • der Kollaborateur Tur Prikulitsch: Charakterisierung, Beurteilung, Ermordung

  • die lebenslangen Folgen des Lageraufenthalts (Kap. 59-64): Traumatisierung und PTB

    vgl. hierzu Birgit Neumann: Trauma und Literatur. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. von Ansgar Nünning, Stuttgart, 728-731

  • Rezeption und Reflexion: Darstellbarkeit des Unsagbaren

    Impuls: Rezension von Iris Radisch ‚Gulag-Romane lassen sich nicht aus zweiter Hand schreiben. Herta Müllers Buch ist parfümiert und kulissenhaft‘. In: ‚Die Zeit‘ vom 20.08.2009, 43; vgl. dazu auch: Olivia Spiridon 2009, 43; Bettina Banasch 2020, 57.

Nach der unterrichtlichen Behandlung des Romans könnte darauf eingegangen werden, dass Herta Müller 2009 den Nobelpreis für Literatur verliehen bekommen hat, obwohl sie an der Peripherie des deutschen Sprachraums angesiedelt ist und viele Deutsche weder die Orte ihrer Erzählungen (Banat, Siebenbürgen) kennen noch sich für die Geschichte deutschstämmiger Minderheiten in Südosteuropa interessieren. Ein Verdienst des Romans Atemschaukel ist es, diesen eher vergessenen Teil der europäischen Geschichte in literarischer Form erstmals und dauerhaft zu der Aufmerksamkeit verholfen zu haben, die ihm gebührt. Die jüngst erschienenen Romane von Iris Wolf tragen dazu bei, dass dieses Erbe im Gedächtnis der literarischen Öffentlichkeit präsent bleibt.

Vernetzung

  • Nachkriegsliteratur ab 1945

  • Hans-Ulrich Treichel: Der Verlorene

  • Iris Wolf: Die Unschärfe der Welt / Lichtungen

  • Gulag-Romane, z.B. Alexander Solschenizyn: Archipel Gulag

  • Deportationsberichte (Hermann Rehner: Wir waren Sklaven. Tagebuch eines nach Russland Verschleppten 1945-1956. Bukarest 1993. / Oliver Sill: Von Opfern und Tätern – autobiografische Schriften über die Deportation. In: Georg Weber e. a.: Die Deportation als biografisches Ereignis und literarisches Thema . Bd. 2, Köln, Weimar, Wien, 413-626)

  • Herta Mueller und Oskar Pastior auf ArteTV

  • Dokumentation: Herta Müller mit Oskar Pastior in der Ukraine

Textausgabe:

Herta Müller: Atemschaukel. München 2009.

Müller: „Atemschaukel“: Herunterladen [pdf][235 KB]