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Inhalt

Der Roman beginnt mit dem Eintritt in eine andere Welt. Ein namenloses zwölfjähriges Mädchen, dessen Eltern sich erst kürzlich getrennt haben, versteckt sich nach dem Ende einer Vorstellung der „Augsburger Puppenkiste“ weinend in der hintersten Ecke des Theaterfoyers. Das über vierhundert Jahre alte ehemalige Heilig-Geist-Spital, die traditionelle Spielstätte des Marionettentheaters, ist verwinkelt und birgt viele Geheimnisse. Eines davon entdeckt das Mädchen unerwartet, denn es findet eine geheime Wandtür, hinter der sich eine Wendeltreppe emporwindet. Das Mädchen gelangt über diese Treppe auf den Dachboden des Theaters. Beim Aufstieg ereignet sich Wundersames. Mit jeder Treppenstufe, die das Mädchen erklimmt, verringert sich seine Körpergröße. Als es den Fuß auf die letzte Stufe setzt, ist es auf die Größe einer Marionette geschrumpft. Vor ihm öffnet sich ein dunkler Raum, der nur spärlich durch die inzwischen eingeschaltete Lichtfunktion seines Smartphones erhellt wird. Erst nach und nach wird das Mädchen der enormen Ausmaße des Dachraumes gewahr. In der schwachen Beleuchtung zeichnen sich große Gestelle ab, an denen tausende Marionetten aus bekannten Produktionen der Augsburger Puppenkiste hängen. Von Prinzessin Li Si aus „Jim Knopf“ bis zum Kleinen König Kalle Wirsch sind alle versammelt. Auf das Kind wirken die Marionetten wie seinesgleichen. Die Sinneseindrücke überlagern sich, sodass der ganze Dachboden von Puppen belebt erscheint. Unvermittelt tritt eine ältere Frau aus dem Dunkeln hervor. Bei der Frau handelt es sich um Hannelore „Hatü“ Oehmichen (1931-2005), die Schöpferin der Figuren. Sie ist vor langer Zeit gestorben, aber in den über sechstausend Marionetten auf dem Dachboden des Heilig-Geist-Spitals bleiben ihre Originalität und Kreativität lebendig. Episodenhaft erfährt das Mädchen von Hatüs Jugend, die unmittelbar mit der Entstehung der „Augsburger Puppenkiste“ verknüpft ist. Die Erzählung setzt im Jahr 1939, in der unmittelbaren Vorkriegszeit, ein. Hatü ist acht Jahre alt. Ihr Alltag verläuft recht unbeschwert, auch wenn sie sich dem Zugriff des NS-Staats nicht entziehen kann. Dafür sorgt ihre Zwangsmitgliedschaft im BDM, vor allem aber der Schulunterricht des „Urwaldheini“ genannten Klassenlehrers, eines strammen Nationalsozialisten. Eine Vorahnung, dass eine Zeitenwende bevorsteht, erhält sie, als ihr Vater, Walter Oehmichen, der bislang die Position des Spielleiters des Augsburger Stadttheaters innehatte, zur Wehrmacht eingezogen wird. Die Familie, die gerade im Urlaub weilt, als der Einberufungsbefehl zugestellt wird, begreift sofort die Tragweite des Schreibens. Ein Krieg steht unmittelbar bevor. Bald muss der Vater, gekleidet in Soldatenuniform, die Familie verlassen. Nach dem Ausbruch des Kriegs wird das Leben für alle Menschen in Augsburg schwierig. Ganz besonders zu leiden hat jedoch die jüdische Bevölkerung Augsburgs. Hatü erfährt dies eindrücklich, als sie zusammen mit ihrer Freundin Vroni eine jüdische Klassenkameradin besuchen will. Die beiden Mädchen geraten in eines der Augsburger „Judenhäuser“, wo man die letzten noch in der Stadt verbliebenen Juden zusammengepfercht hat. Dem von Hatü und ihrer Freundin gesuchten Mädchen ist gerade noch Flucht gelungen. Für diejenigen, die sich noch in der Stadt befinden, gibt es kaum noch Hoffnung. Hatü selbst wird wenige Wochen später Zeugin, wie die Bewohner der Judenhäuser auf LKWs verladen und deportiert werden. Das „Judenhaus“, das man mit einem blauen Davidstern markiert hat, wird von den Nachbarn geplündert. Als sich im Winter 1941/42 das Kriegsgeschehen in Europa wendet, kehrt Hatüs Vater unerwartet von der Front zurück. Er startet ein angesichts der Kriegszeit nahezu wahnwitziges Projekt, denn er gründet ein Marionettentheater: den „Puppenschrein“. Das kleine Theater gibt einige wenige Vorstellungen in der Wohnung der Oehmichens und es hat auch einen größere Auftritte vor Kriegsverwundeten. Als dann in der Bombennacht vom 24. zum 25. Februar 1944 große Teile der Augsburger Innenstadt, auch die Wohnung der Oehmichens, durch alliierte Bombenangriffe zerstört werden, fällt es den Flammen zum Opfer. Beim Blick auf die brennenden Stadt zitiert Hatüs Schwester Ulla leise die Liedzeile „Hänsel und Gretel verirren sich im Wald“, eine Metapher für die Unbehaustheit der Mädchen. Selbst die Märchenwelt, die für die Kinder in der Zeit des Puppenschreins noch eine Ablenkung vom Krieg war, wird nun überlagert durch die Schrecken der Gegenwart. Hatü muss bei der Szene, in der die Hexe in den Ofen gestoßen wird, an die Krematorien der Konzentrationslager denken, von denen Ulla und Hatü die Erwachsenen heimlich sprechen hören. Für Hatüs Generation bleibt diese Ambiguität der Kindheitserinnerung, die ihre Unschuld verloren hat, prägend. Dafür steht die Kasperl-Figur auf dem Dachboden, deren schreckliche Geschichte, selbst beim Mädchen mit dem Smartphone noch Unbehagen und Ängste hervorruft. Nach der Bombennacht ändert sich das Leben der Familie. Der Vater wird ein zweites Mal einberufen und bleibt bis zum Kriegsende fort. Nach der Besetzung Augsburgs durch die Amerikaner im April 1945 bangt die Familie um ihre Lebensgrundlage. Walter Oehmichen, der schnell aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft entlassen wird, darf seine Tätigkeit als Oberspielleiter an den Augsburger Bühnen nicht wieder aufnehmen. Wegen seiner herausgehobenen Position im Theaterleben zur NS-Zeit gilt er als belastet. Eine Fortsetzung seiner Karriere am Schauspielhaus wird ihm verwehrt. Nicht nur wegen des De-Facto-Berufsverbots, sondern auch, weil er Marionetten für die authentischeren „Schauspieler“ hält, entschließt sich Oehmichen zur Neugründung des Marionettentheaters unter dem Namen „Augsburger Puppenkiste“. Die erste Vorstellung findet in einer amerikanischen Militärkaserne mit einem Mäuseballett nach dem Vorbild der Disney-Figuren statt. Es dauert aber noch drei Jahre, bis die Marionettenbühne den offiziellen Spielbetrieb aufnehmen kann. Den vielen Herausforderungen des Aufbaus eines professionellen Theaters in prekären Umständen stellt sich neben den Familienmitgliedern eine Truppe sehr junger kreativer Menschen im Alter von 17 bis 20 Jahren. Spielort wird das Heilig-Geist-Spital, ein Barockgebäude, das den Krieg unversehrt überstanden hat. In der Zeit der Theatergründung perfektioniert Hatü ihre Fähigkeit zum Schnitzen von Marionetten. Sie hat während dieser Zeit auch die Sozialisationsaufgaben der meisten Heranwachsenden wie die ersten Erfahrungen von Liebe und Sexualität, das Zerbrechen einer engen Freundschaft (mit Vroni) und die schrittweise Emanzipation vom Vater zu bewältigen. Dabei hilft ihr, dass neben ihr eine Reihe junger kreativer Menschen als Sprecher, Autoren, Bühnentechniker oder Puppenspieler ins Ensemble des Vaters aufgenommen werden. Produziert werden nicht nur Kinderstücke, sondern auch anspruchsvolles Theaterprogramm für Erwachsene wie eine Faust-Bearbeitung oder Adaptionen der Dramen von Sartre und Camus. Der Erfolg bleibt nicht aus, auch weil der ehemalige Theatergrande Walter Oehmichen gut vernetzt ist und Auftritte außerhalb Augsburgs organisieren kann. Auf Initiative der jüngeren Mitglieder des Ensembles wird das Repertoire um aktuelle Kinder- und Jugendliteratur wie Saint-Exupérys Der kleine Prinz erweitert. Schnell wird auch das neue Medium Fernsehen auf den Erfolg der Puppenkiste aufmerksam. Am 21.1.1953, nur zwanzig Tage nach der ersten offiziellen Sendung des deutschen Fernsehens, strahlt der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) eine Live-Produktion von „Peter und der Wolf“ aus. Die Resonanz ist überwältigend. In der Folgezeit entstehen – unter professionellen Bedingungen – weitere Kinderstücke fürs Fernsehen, deren bekannteste die Marionettenadaption von Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (1960) des damals noch unbekannten Michael Ende ist. Hatü besucht ihn in seiner Münchner Wohnung und führt ihm die Marionette von Lukas dem Lokomotivführer vor. Nach dem Gespräch mit dem jungen Autor endet die Erzählung von Hatüs Lebensgeschichte, die immer wieder von der Rahmenerzählung unterbrochen worden ist. Das Mädchen mit dem Smartphone kehrt wieder zu seinem Vater ins Theaterfoyer zurück. Der Abstieg durch das Treppenhaus hat es wieder auf seine alte Körpergröße wachsen lassen.

Textausgaben:

Thomas Hettche: Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste. Taschenbuch. München 2022

Thomas Hettche: Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste. Köln 2020

Hettche: „Herzfaden“: Herunterladen [pdf][173 KB]