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Literaturwissenschaftl. Einordnung & Deutungsperspektiven

Lieutnant Gustl erschien im Jahr 1900 als Weihnachtsbeilage in der ‚Neuen Freien Presse‘. Das Bild, das die Erzählung von einem österreichischen Offizier zeichnet, rief deutliche Gegenreaktionen hervor. Drohbriefe, Beschimpfungen und Richtigstellungen (z.B. in der ‚Deutschen Zeitung‘ oder in der ‚Reichspost‘) wurden in einem überwiegend aggressiven Ton vorgetragen, der an Gustls Invektive dem Bäckermeister gegenüber erinnert und Schnitzler in seiner Diagnose nachträglich bestätigte. Von einem Ehrengericht wurde ihm wegen seiner verunglimpfenden Darstellung des Militärs zudem der Rang eines Reserveoffiziers aberkannt, was eine Degradierung zum einfachen Sanitätssoldaten des Landsturms gleichkam.

Die Erzählung weist zentrale Merkmale einer Novelle auf: unerhörte Begebenheit, geradliniger Aufbau ohne Nebenhandlungen, Konzentration auf die Hauptfigur, keine Entwicklung derselben, überraschende Wende. Zudem zeigt sie eine klar gegliederte Handlung (1) sowie eine strukturgebende Raum- (2) und Zeitgestaltung (3):

(1) Handlungsschritte: Oratoriumsbesuch → Ehrverlust durch Vorfall vor der Garderobe / Selbstmordentschluss → Gang zum Prater als Verarbeitung und Reflexion des Geschehenen und Galgenfrist → Zäsur: Schlaf → Rückweg und Kaffeehaus → befreiende Nachricht und Weiterleben ohne Konsequenzen

(2) Raumstruktur: Stationen seines Wegs durch das nächtliche Wien: Vom Musikvereinsaal am südlichen Rand der Innenstadt über die Ringstraße gehend hält sich Gustl noch an die mal feudale, mal bürgerliche Einfriedung der Altstadt, deren Begrenzung er über den Donaukanal verlässt, um sich stadtauswärts Richtung Prater zu bewegen, eine damals unzivilisierte Gegend. In diesem schutzlosen, verwilderten Raum, in dem die Konventionen seines Standes nicht gelten, spitzt sich sein inneres Drama zu und ihn ergreifen Todesängste. Auf dem Weg zurück in die Innenstadt passiert er einige Eckpunkte der gesellschaftlichen Ordnung: die Uhr des Nordbahnhofs bietet zeitliche Orientierung, die „Tegetthoff-Säule“ exponiert ein militärisches Idol, an dem er sich aufrichten kann, die Kirche bietet seelische Zuflucht und der Burghof als Symbol der staatlichen Autorität Stabilität für sein Selbstbild. Der Weg hinaus ins Kulturlose sowie die anschließende Rückkehr in die Sicherheit gebenden Gefilde, die seine ideologischen Normen repräsentieren, korrespondieren mit Gustls innerem Leidensweg in die innere Destabilisierung und alles überlagernde Todesangst mit anschließender Restitution eines halbwegs intakten Selbstbewusstseins nach der Hinnahme des unausweichlichen Selbstmords.

(3) Zeitstruktur: Mit Gustls Blick auf die Uhr im Konzertsaal („Erst viertel auf zehn“, 7) beginnt das erzählte Geschehen, das sich bis ca. 6.00 Uhr erstreckt Es handelt sich um die Nacht vom 4. zum 5. April. Diese letzte Nacht eines Todgeweihten folgt einem ausgewiesenen Zeitplan: Nach dem Vorfall läuft Gustl erst einmal eine gute Stunde planlos die Straße entlang, bevor er eine Uhr schlagen hört („… elf …“, 19); noch eine Stunde später sitzt er in der Praterallee auf einer Bank („ Es muss Mitternacht vorbei sein …“, 30). Nach seinem kurzen Schlaf auf der Bank ist es drei Uhr. Auf der Bahnhofsuhr, die Gustl wenig später passiert, ist es halb vier und bevor er das Kaffeehaus betritt, stellt er fest, dass „halb-dreiviertel“ sechs (41) ist. Wenn auch das objektive Zeitgerüst klar nachvollziehbar ist, so unterscheidet sich Gustls subjektives Zeitempfinden aufgrund seiner inneren Orientierungslosigkeit bisweilen stark. Ihm entgleist die reale Zeit, dehnt sich und dreht sich um den einen Moment, der sein inneres Leben auf den Kopf gestellt hat. Erst nach der erlösenden Neuigkeit findet er wieder in die Ordnung der militärischen Zeiteinteilung zurück (“In einer Viertelstund‘ geh‘ ich hinunter in die Kasern‘, um halb acht sind die Gewehrgriff‘ und um halb zehn ist Exerzieren.“, 45).

Für die Demontage eines mittelmäßigen Charakters erweist sich der innere Monolog als das ideale erzählerische Mittel: Angeregt durch Edouard Dujardins Roman »Les lauriers sont coupés« (1888) setzt Schnitzlers Erzähltechnik ein für die Wiener Moderne zentrales literarisches Programm um: die in Hermann Bahrs gleichnamigem Essay eingeforderte ‚Neue Psychologie‘ als Reaktion auf den Naturalismus. Laut Bahr seien dreierlei Aspekte wesentlich. Der Literat verfahre erstens ‚deterministisch‘, d.h. die Reaktionen eines Individuums milieubedingt erklärend, zweitens ‚dialectisch‘, d.h. den Umschlag eines Gedankens bzw. Gefühls in ein anderes ungefiltert darstellend, und drittens ‚decompositiv‘, d.h. ohne erzählerisch beschönigende Integrationsinstanz. Eine einfache Geschichte ließe sich so mit einer neuen „Intensität der Wahrheit“ erzählen. In Schnitzlers Novelle ist somit eine Erzählform gefunden, die in der vermeintlichen Desorganisation von Bewusstseinsinhalten ganz nah an die Figurenpsyche heranrückt. Hinter diesen chaotischen Bewusstseinsvorgängen bleibt freilich eine verdeckte Erzählinstanz wirksam, die Regie führt, damit die textuellen Ordnungsmuster wahrnehmbar bleiben. Typische Merkmale eines solchen Erzählverfahrens sind: Parataxe, Ellipse, Satzbrüche, Auslassungspunkte, Imperative, Invektive, Fragesätze, Leitmotive, Wiederholungen (Zählungen ergeben im gesamten Text 243 Fragen, 283 Ausrufe und 810 Auslassungspünktchen), zudem eine geistige Anspruchslosigkeit des Bewusstseinsträgers, Sinneseindrücke und Erinnerungsfragmente.

Textausgaben:

Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Konstanze Fliedl. Berlin 2011

Taschenbuch-Ausgabe / E-Book. Hrsg. von Konstanze Fliedl. Stuttgart 2002, 2014

Schnitzler: „Lieutnant Gustl“: Herunterladen [pdf][170 KB]