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Literaturwissenschaftl. Einordnung & Deutungsperspektiven

In seinem Lebensabriß (1930) weist Thomas Mann darauf hin, dass er einen drei Jahre zurückliegenden Ferienaufenthalt der Familie Mann in Forte dei Marmi bei Viareggio in seiner Novelle Mario und der Zauberer literarisch verarbeitet, die 1930 erscheint. Neben diesen biographischen Hinweisen – Thomas Mann trägt in seiner Familie den Spitznamen „der Zauberer“ – erinnert Cipolla an den bereits aus Thomas Manns Frühwerk vielfach bekannten Helden der Schwäche, einen dekadenten Künstlertypus, der sich am Leben rächen will, weil er sich vom Leben benachteiligt fühlt (ein Motiv, das man bei Cipolla an seiner verwachsenen Gestalt erkennt). Seine Opfer sind stellvertretend überwiegend die von der Natur Begünstigten, d.h. junge, vitale Männer wie Mario, die er zugleich zu begehren scheint (vgl. den homoerotischen Hinweis auf den von Zeus begehrten Ganymed, vgl. Kämper-van den Boogaart 2001).

Thomas Mann wurde mitunter ein seismographisches Gespür für Triebfedern des Faschismus attestiert, wie er es seinen späten Kommentaren zu dieser Novelle in On myself von 1941 suggeriert. Auf ethisch-moralischer Ebene lässt sich die Problematik einer pervertierten Aufklärung samt ihren Prämissen wie die Würde, die Vernunftfähigkeit und Willensfreiheit des Menschen erkennen, ein Interpretationsansatz, den Thomas Mann zunächst in brieflichen Dokumenten von 1930 der politischen Lesart vorzieht. Bemerkenswert ist, dass Cipolla selbst als Aufklärer auftritt, wenn er beispielsweise die Kulturlosigkeit Torre di Veneres und ihrer ungebildeten Vertreter anprangert, während er zugleich die Errungenschaften der Aufklärung durch seine Infragestellung der Willensfreiheit angreift.

Mit faschistischen Ansätzen erklärbar ist die Verwischung von Opfer- und Täterrollen von Seiten Cipollas, der vorgibt, ein Instrument des Willens des Publikums zu sein und der behauptet, dass Befehlen und Gehorchen letztlich einer Wurzel entsprängen, weswegen er selbst leide.

Es lässt sich diskutieren, inwiefern der Erzähler selbst Züge eines manipulativen Zauberers trägt. Denn der Ich-Erzähler manipuliert die Leserinnen und Leser, wenn er mittels eingeschobener Reflexionspassagen suggeriert, dass die aufgeheizte Atmosphäre in Torre den Magier Cipolla anziehe, um das Geschehen bis zum „befreiende[n] Ende“ als Kausalkette zu plausibilisieren: Von der symbolischen „Schreckensherrschaft der Sonne“ über die überhitzt-patriotisch gefärbten Strandszenarien und über die inszenierten Demütigungen durch den Zauberer bis zum Befreiungsschlag Marios, wodurch sich die ‚aufgeladene Stimmung’ wie in einem Gewitter entlade.

Hinter der Thematik des Merkwürdigen wird eine raffinierte Komposition erkennbar, die den ersten Teil der Novelle (das Strandleben in Torre di Venere) mit dem 2. Teil (Cipollas Zauber-Abend) verbindet. Inwiefern der intellektuelle Erzähler hierbei seine Unfähigkeit abzureisen, mithin seine Unfähigkeit zum Widerstand, verschleiert, da Cipolla ihn abzustoßen und zu faszinieren scheint, bleibt zu diskutieren. Der Erzähler ist schließlich mitunter fasziniert vom Zauberer, was sich u.a. dadurch zeigt, dass er das Geräusch der Reitpeitsche Cipollas nachahmt und bei den ‚Experimenten‘ des Zauberers mitfiebert. Folgt man dem Titel der Novelle, wird Mario als Individuum und Gegenspieler zum Cipolla, der den manipulativen Herrscherverkörpert, eingeführt. Blickt man auf die ‚bezaubernde‘ Erzählweise, kommt als weiterer Gegenspieler des Zauberers der Erzähler selbst in Betracht. Allerdings scheint er Cipolla nicht gewachsen zu sein, was zugleich sein fatalistischer Tenor belegt. Dem Erzählen der irritierenden Ereignisse könnte jedoch auch eine therapeutische Funktion zugeschrieben werden, da die chronologische Verarbeitung des ‚Ungeheuerlichen’ durch den Erzähler dem Ganzen nachträglich einen Sinn zu geben sucht. Jedenfalls kündigen viele Indizien von Beginn an den Auftritt Cipollas an. So spiegelt sich die fremdenfeindliche und bedrohliche Atmosphäre in Torre de Venere in der Stimmung des Zauberabends und wird durch Cipolla verkörpert. Dies ist auch die Sichtweise des Erzählers. Laut Erzähler scheint sich nämlich im Zauberer „das eigentümlich Bösartige der Stimmung auf verhängnishafte und übrigens menschlich sehr eindrucksvolle Weise zu verkörpern und bedrohlich zusammenzudrängen“.

Inwiefern der für die Erzählweise erstaunlich unmotivierte Schluss mit Marios Widerstand und seinem Erschießen Cipollas allerdings als Befreiungsschlag mit Rekurs auf den Mythos ausgleichender Gerechtigkeit überzeugen kann, ist ebenfalls diskutabel. Cipollas Hochmut und seine unüberlegte Grenzüberschreitung, die im Ausleben seiner geheimen homoerotischen Wünsche (das Küssen Marios) gesehen werden kann, könnte ihm zum Verhängnis werden, so dass er sich selbst durch seine ausgelebten geheimen Triebe aufhebt. Marios Motivation für den Befreiungsschlag scheint eher emotional und privat motiviert, weniger politisch. Gleichwohl wird in Cipolla auch eine Verkörperung Mussolinis gesehen.

Textausgabe:

Thomas Mann: Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis. Frankfurt am Main (Erstdruck 1930) 2010.

Mann: „Marion und der Zauberer“: Herunterladen [pdf][176 KB]