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Inhalt

Die äußere Handlung des Romans lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Der 17-jährige Leo Auberg wird 1945 in ein russisches Arbeitslager deportiert, verbringt dort fünf Jahre und kehrt 1950 in seinen Heimatort zurück. Er findet Arbeit in einer Kistenfabrik, heiratet sodann seine ehemalige Mitschülerin Emma und beide ziehen nach Bukarest. 11 Jahre später reist er allein nach Graz und kehrt von dort nicht zurück. Während Emma sich wieder verheiratet, bleibt Leo in seinem weiteren Leben ohne soziale Bindung.

Angesichts der inneren Dimension des Geschehens sowie der Dominanz der dargestellten Lagererfahrungen rücken diese äußeren Eckpunkte der Handlung jedoch in den Hintergrund. Dies lässt sich bereits an der Gesamtstruktur des 64 Kapitel umfassenden Romans ablesen, die sich wie folgt darstellt:

Kapitel 1

Als eine Art Exposition enthält dieses Kapitel das Selbstverständnis Leos als jungem Mann, seine Wünsche an das Leben, seine seelische Last (der Homosexualität in einem intoleranten Umfeld), seine Vorgeschichte und unglückliche Lebenssituation, die ihm den Aufbruch in die Fremde willkommen heißen lässt. Der Blick richtet sich sodann auf das Kofferpacken nach dem Deportationsbescheid, auf seine Habseligkeiten und die Zwischenstation im Sammellager, bevor in einiger Ausführlichkeit die lange Zugfahrt im Viehwaggon sowie die Ankunft im Lager geschildert werden.

Kapitel 2 – 57

Das Überleben im Lager. Trotz weniger Zeitangaben, die die fortschreitende Dauer des Aufenthalts andeuten, z.B. Appell zum ersten Neujahr (Kap. 11), Jahrestag (Kap. 24), die mit 1942 datierte Postkarte (Kap. 42), das dritte Jahr (Kap. 46), Geld für Arbeit ab April 1949 (Kap. 56), vierter Frieden (Kap. 57), besteht das Erzählte nicht aus einem linearen, chronologisch strukturierten Kontinuum, sondern aus einem eher panoramatischen Reigen von narrativen Episoden, subjektiv gefärbten Schilderungen, ungeschönt realistischen Beschreibungen, Reflexionen und Kommentaren zum Alltag im Lager, ergänzt durch Erinnerungen an die Familie bzw. das Leben davor und vervollständigt durch punktuelles Ausgreifen auf die Erfahrungen der Zeit danach bis hin zur Erzählergegenwart 60 Jahre später.

Kapitel 58 – 64

Das Leben nach dem Lager. Leo ist zurück im Kreis der Familie, doch er wird mit seinem Leiden an den traumatischen Erfahrungen während der Lagerzeit alleingelassen: Er findet nicht mehr in die Gemeinschaft der Daheimgebliebenen zurück und isoliert sich immer weiter, bis er fast ganz verstummt. Als weitere äußere Stationen seines Lebens werden genannt: Ablenkung durch die Arbeit in der Kistenfabrik, Verheiratung mit Emma und Trennung durch die Reise allein nach Graz.

Hertha Müller zeichnet den harten Lageralltag und dessen individuelle Bewältigung aus Sicht des Ich-Erzählers Leo sehr facettenreich und minutiös. Gleichzeitig ermöglicht diese Art des Erzählens auch eine ästhetische Distanzierung von ihrem Sujet, die eine Distanzierung Leos von seinen Erlebnissen im Akt des Erzählens einschließt. Die Fixierung auf Einzelheiten lässt sich so auch als Überlebensstrategie lesen, um sich der aus der Entmenschlichung resultierenden Traumatisierung entgegenzustellen. Der Roman verweist bereits im Titel (Atemschaukel als Metapher für das wiegende Ein- und Ausatmen) auf diese Strategie der Reduktion auf überlebenswichtige Details.

Die dargestellte Lagerrealität ist durch folgende Faktoren bestimmt:

  1. Hunger und dessen Bekämpfung. Physisch: Da die einmal täglich zugeteilte Krautsuppe und die Brotration (800 Gr.) bei weitem nicht reichen, um satt zu werden, sucht Leo nach Möglichkeiten, den omnipräsenten Hunger halbwegs im Zaum zu halten. Er pflückt Meldekraut, um es aufzukochen und zu verspeisen, er sammelt und kaut Kartoffelschalen aus dem Müll; mitgebrachte Wertgegenstände, z.B. Bücher, werden auf dem Markt gegen Essbares eingetauscht; er erlegt Erdhunde, stiehlt Kartoffeln und tauscht Brotstücke mit anderen Insassen. Psychisch: Der ständig nagende Hunger führt zu Träumen vom Essen, wird durch Personifikation zu bannen versucht (vgl. Leitmotiv ‚Hungerengel‘), die eine dauerhafte gedankliche Auseinandersetzung ermöglicht. Er erzeugt ferner tröstliche Erinnerungen an das Familienleben zu Hause (vgl. der leitmotivische Satz der Großmutter Ich weiß, du kommst wieder als Trostformel) und löst schließlich kompensatorische Gegenstandsfixierungen aus (vgl. die Kuckucksuhr).

  2. Harte körperliche Arbeit. Wie die meisten seiner Mitinsassen muss Leo auf einer Baustelle Zementsäcke und Kalkbrocken schleppen (vgl. Kap. 4), Brennziegel holen (vgl. Kap. 8), Löcher graben und Schnee schippen (vgl. Kap. 11), Kohle schaufeln (vgl. Kap. 22), Schlackoblocksteine transportieren (vgl. Kap 30), Pech hacken, den Schlackekeller reinigen, im Kokswerk arbeiten und mit bloßen Händen Kartoffeln ausgraben (vgl. Kap. 39).

  3. Leitung und Insassen des Lagers. Das Lager in der Nähe der Stadt Nowo Gorlowka besteht aus fünf Arbeitsbataillonen à 50-800 Menschen. In Leos näherem Umfeld befinden sich fünf Baracken mit je 68 Betten. Die für alle Geschlechter gleiche Arbeitskleidung wird halbjährlich ausgetauscht; Kleidung, Betten und Körper sind von Wanzen und Läusen befallen, die durch seltene Heißduschen und Kahlscheren der Köpfe notdürftig bekämpft werden. An der Spitze von Leos Lager steht der Kommandant Schischtwanjonow, dessen Adjutant ist Leos russisch sprechender Landsmann Artur (Tur) Prikulitsch, der für seine Aufseher-Dienste Privilegien genießt und seine Machtstellung gegenüber den Insassen schamlos ausnutzt (vgl. die Aneignung von Leos rotem Seidenschal, Kap. 36). Auch Bea Zakel, die Freundin Turs, hat einige Vorteile, bleibt den Belangen Leos gegenüber aber aufgeschlossen. Ferner gibt es im Lager die Russin Fenja, die die Brotvergabe leitet, und den gutmütigen Fahrer Kobelian. Zu den Bezugspersonen in Leos näherem Umkreis zählen: Trudi Pelikan (Vertrauensperson, kommt aus demselben Ort wie er), Oswald Enyeter (Friseur und Ratgeber), Albert Gion (Arbeitskollege), Konrad Fonn (Akkordeonist), Karli Halmen (guter Freund), Paul und Heidrun Gast, Katharina Seidel genannt Planton-Kati (geistig zurückgeblieben, kann nicht für schwere Arbeiten eingesetzt werden). Namentlich erwähnt werden noch Corina Marcu (Rumänin, Zufallsopfer) und David Lommel (Zither-Lommel, als Jude darf er das Lager früh wieder verlassen).

  4. Die aus Leos Perspektive geschilderten Auswirkungen der Internierung , denen alle Insassen unterworfen sind, lassen sich folgendermaßen skizzieren: Es droht permanent der Tod durch Hunger bzw. Entkräftung (die Rede ist 330 Hungertoten, in Leos Umfeld trifft es Heidrun Gast, vgl. Kap. 46 f.), auch durch Arbeitsunfälle (vgl. Irma Pfeifers Sturz in die Mörtelgrube, Kap. 10), Krankheiten (vgl. Kap. 29), Gewalt (vgl. Brotgericht, Kap. 19) und Suizid (vgl. Peter Schiel, Kap. 15). Mit zunehmender Dauer des Aufenthalts stellt sich eine zunehmende Geschlechtslosigkeit durch Abmagerung ein (gleichwohl kommt es noch zu regelmäßigen Rendezvous weiblicher Insassen mit deutschen Kriegsgefangenen in einem verrotteten zwei Meter hohen Metallrohr, vgl. Kap. 16). Es drohen Vergiftungen durch Werkstoffe, denen die Insassen ungeschützt ausgesetzt sind (Pechdünste, Kohlestaub, Naphtalin, Anthrazen, vgl. Kap. 32, 37). Ferner stellen sich Dysästhesien und Wahnvorstellungen ein (vgl. Kap. 31) und es kommt zur Depersonalisierung und Ich-Schwäche bzw. Entfremdung von Körper und Emotionen.

    Die über bestimmte Leitmotive, Ereigniskontexte und Figurenkonstanten verknüpften Schilderungen, Berichte, Erinnerungsbilder und Erzählsequenzen vermitteln insgesamt ein Panorama der Entbehrung, der physischen und seelischen Not, deren erzählerische Bewältigung jedoch auch kompensatorische Sprachformen wie Sarkasmus und Ironie, kreative Metaphorik und Personifikationen, innovative Neologismen und sprachästhetisch ansprechend ausgeformte Gedankenspiele enthält, die als Ausdruck der Zuflucht Leos in eine eigene Sprache als nicht-tangierbares Refugium der Menschenwürde in einer schwer zu ertragenden, sprachlos machenden Realität zu verstehen sind.

    Textausgabe:

    Herta Müller: Atemschaukel. München 2009.

    Müller: „Atemschaukel“: Herunterladen [pdf][235 KB]