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Literaturwissenschaftl. Einordnung & Deutungsperspektiven

Als zentrales Thema von Kaisers Dramatik, das er auch in Von morgens bis mitternachts aufgreife, sieht Huder die Frage nach der „Möglichkeit der ,Erneuerung des Menschen‘“. (Huder 1964) Diese Frage wird anhand eines Experiments durchgespielt, in dem die Kaufkraft des Geldes ausgelotet wird. Das Experiment scheitert jedoch, da das ,wirkliche Leben‘ nicht für Geld zu haben ist. Das Drama spiele das Zeitalter des Kapitalismus in einem einzigen Tag durch bzw. sei die „Deutung der modernen, käuflichen Warenwelt als ganzer“ (Vietta et al. 1975). Dabei kann die Bank, in der der Kassierer arbeitet, als zentrale Institution einer modernen Gesellschaft gesehen werden, in der Werte beliebig austauschbar sind und auch das Individuum entpersonalisiert ist. So wird auch der Kassierer nur über seine Funktion definiert und bleibt als Individuum abstrakt und namenlos.

Sein Versuch eines Aus- und Aufbruchs trägt vitalistische Züge, wie sie für eine Strömung des Expressionismus, die bis in die 20er Jahre andauerte, charakteristisch sind und die von Nietzsches Lebensphilosophie beeinflusst sind.

Nach der Begegnung mit der vornehmen Dame begibt sich der Kassierer auf eine Jagd nach der „Ware, die man mit dem vollen Einsatz kauft“. Bei der Darstellung der Stationen, die er dabei durchläuft, wird die aristotelische Einheit der Zeit gewahrt, wie auch im Titel deutlich wird. Die Orte variieren dagegen und insgesamt sind die verschiedenen Stationen gemäß der Offenheit des Stationendramas nur lose miteinander verknüpft.

Weder bei der eigenen Familie noch beim Sechstagerennen, im Ballhaus oder dem Lokal der Heilsarmee findet der Kassierer die erhoffte Befreiung und Erneuerung seiner Existenz. Wie Oehm ausführt, wird die Wanderschaft des Kassierers lediglich durch die Negation der je erreichten Position vorangetrieben: Die Familienidylle wird als „[v]ertraulicher Zauber“ (M. 33) der Kleinbürgerlichkeit entlarvt. Von der nächsten Station, dem Sechstagerennen im Sportpalast, erhofft sich der Kassierer die Entgrenzung in der Ekstase und wird auch hier enttäuscht, als sich das Publikum von der Anwesenheit der Hoheit in der Loge disziplinieren lässt. Im Ballhaus schaut er hinter die Fassade der ,Masken‘ und erkennt ihre Vulgarität im Sektkonsum und die körperliche Deformation in Form des Holzbeins einer Pierrette. Von der Kaufkraft des Geldes enttäuscht, wendet er sich in dem Lokal der Heilsarmee dem nicht materiellen Wert des eigenen Seelenfriedens zu, den er durch Buße zu erlangen hofft, muss jedoch mitanschauen, wie sich Geldsucht und Habgier unter den Anhängern der Heilsarmee breitmachen, als er das Geld in die Menge wirft. Als letzte Möglichkeit, eine sinnhafte Existenz zu begründen, erscheint ihm die Liebe, die er in einer Anspielung auf die Paradies-Szene in der Genesis beschwört: „Mädchen und Mann. Uralte Gärten aufgeschlossen“. Doch das Mädchen, von dessen Liebe er sich Rettung erhofft, verrät ihn an die Polizei, um das ausgesetzte Kopfgeld zu kassieren. Sie erweist sich dadurch als ebenso manipulierbar wie die anderen Menschen, denen der Kassierer begegnet. So sieht er keinen Ausweg mehr als die Selbsttötung. Bereits zu Beginn seines Auf- bzw. Ausbruchs deutet die Begegnung mit dem Gerippe, das er in der schneebedeckten Baumkrone zu erkennen glaubt, das letale Ende an. Am Ende wird der Kassierer erneut mit dem Gerippe konfrontiert und erschießt sich in einer Ecce-Homo-Pose, die auch als Parodie Nietzsches gesehen werden kann, selbst.

Die Möglichkeit der Erneuerung des Menschen mit der Hilfe von Geld ist gescheitert. Alles erscheint als käuflich, nur nicht das, wonach der Kassierer sucht. Anstelle der Möglichkeit einer Menschheitserneuerung, die der messianische Expressionismus anstrebt, tritt in dem Drama die Ich-Dissoziation. In seiner vergeblichen Suche nach einem Sinn in der Welt erscheint der Kasserer als „[e]in Miniatur-Faust, der sich zu Tode rennt.“ (Diebold, zit. n. Huder 1964)

Textausgabe:

Georg Kaiser: Von morgens bis mitternachts. Stück in zwei Teilen. Fassung letzter Hand. Hg. v. Walther Huder, Anmerkungen von Ernst Schürer. Stuttgart 1964 (1994)

Kaiser: „Morgens bis mitternachts“: Herunterladen [pdf][168 KB]