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Inhalt

Bevor der Ich-Erzähler und seine Familie während ihres Italienurlaubes im fiktiven Ort Torre de Venere zeitweise der Faszination des manipulativen und herrschsüchtigen Zauberers Cipolla verfallen, wird eingangs die bedrohliche Atmosphäre des Badeorts exponiert. Die vier Konflikte im ersten Teil der Novelle verdeutlichen die ‚überhitzen‘ Gemüter der Italiener, ihren übersteigerten Patriotismus und ihre hohlen Ehrbegriffe. Der erste Affront besteht darin, dass der Familie des Erzählers im Grand Hotel kein gewünschter Tisch auf der Außenveranda gegeben wird, weil diese vom Hotelpersonal grundlos den besonderen Klienten des Hauses vorbehalten werden. Der zweite Konflikt entzündet sich am abklingenden Keuchhusten des Sohnes, der trotz ärztlicher Untersuchung zu Unrecht von einer Fürstin als ansteckend bezeichnet wird, woraufhin die Familie die Unterkunft wechselt und in die Pension Eleonora umzieht. Die dritte Irritation besteht im überzogenen Heldenjammerschrei eines Fuggièro, der am Strand harmlos von einem Taschenkrebs gezwickt wird. Die vierte Schikane und Diskriminierung schließlich mündet in ein polizeiamtliches Bußgeld dafür, dass die kleine Tochter der Familie für eine kurze Zeit nackt am Strand ihren Badeanzug im Wasser reinigt und dadurch aus Sicht der Einheimischen die „nationale Würde“ beleidigt. Diese Irritationen am Badeort fungieren als Vorausdeutung auf die Schreckensherrschaft des Zauberers Cipolla, die der Erzähler von Anfang an als unausweichliches Ereignis beschreibt. Folgt man der Sicht des Erzählers ist Cipolla geradezu die „Personifikation“ der bösartigen Stimmung. Der gemeinsame Nenner der Konflikte und Irritationen ist die Fremdenfeindlichkeit der Italiener, ihr übersteigerter Patriotismus und ihre irrationalen, überzogenen Reaktionen auf harmlose Vorfälle: Ihre irrationale Argumentation bereitet auf Cipollas Entwürdigungsprozesse und seine Dämonie vor. Ausgestattet mit einer symbolträchtigen Reitpeitsche und aufgeputscht durch seinen Konsum von Likör und billigen Zigaretten verkörpert Cipolla einen Machtmenschen mit Ressentiments. Seine Erscheinungsform (ein Mann schwer bestimmbaren Alters, mit einem zerrütteten Gesicht, strengen Augen, hässlichem Haar, schwarz gewichster Scheitelfrisur und einem gewichstes Schnurrbärtchen, mit gelblichen Händen, einem Siegelring und abgenutzten Zähnen sowie einer „asthmatische[n], aber metallische[n] Stimme“) verweist auf seine Scharlatanerie und auf den inneren Verfall eines dekadenten Künstlers. Seine Machtlegitimation bezieht er gleichsam vom Publikum, das seiner Sphäre des Magischen, Irrationalen und Triebhaften unterliegt und ihm keinen Widerstand entgegensetzt. Während des Zauberabends fordert er insbesondere stolze und vitale Männer als Versuchskaninchen für seine ‚Zaubertricks‘ heraus. Auf den Giovanotto, einen Fischerburschen mit „Modefrisur des erweckten Vaterlandes“, der dem Publikum ungewollt die Zunge herausstrecken muss, folgen arithmetische Übungen mit „zwei lümmelstarke[n] Burschen“, die als Ungebildete bloßgestellt werden. In einem Kartenspiel wird sodann der Willensentzug an einem „Freiheitskämpfer“ vorgeführt. Seine okkulten Fähigkeiten stellt der Zauberer beim Wahrsagen über das Leben der Frau Angiolieri zur Schau. Als „Hypnotiseur“ versetzt er den „Poveretto“ in einen Tiefschlaf, damit er als Sitzbank dient. Ferner treten eine ältere Dame in Trance auf, ein „Herr militärischen Ansehens“, der seinen Arm nicht mehr heben kann sowie die ihm nachschwebende Frau Angiolieri. Den Höhepunkt des Abends stellt die Verführung Marios dar, der den Zauberer anstelle seiner Angebeteten Silvestra in Trance unfreiwillig küssen muss. Auf diese große Erniedrigung und Missachtung der Privatsphäre hin erschießt Mario den Zauberer. Der träumerische, friedfertige, melancholische, introvertierte und als besonders kinderlieb eingeführte Mario hebt sich deutlich von der Aggressivität der selbstherrlichen, vorlauten und ehrverliebten Italiener ab und ist indes der einzige Zuschauer und Proband der dem Spuk des Zauberers ein Ende zu bereiten vermag.

Der Erzählerkommentar zum „befreiende[n] Ende“ wirft die Frage nach der Legitimität der Gewaltanwendung gegen einen beängstigenden Führertypus auf, womit zugleich die Grenzen der Kunst erkennbar werden, denn Cipolla ist nicht zuletzt auch eine Künstlerfigur.

Textausgabe:

Thomas Mann: Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis. Frankfurt am Main (Erstdruck 1930) 2010.

Mann: „Marion und der Zauberer“: Herunterladen [pdf][176 KB]