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Herta Müller Atemschaukel (2009)

Empfehlung für das Leistungsfach

Kurzinformation

Portrait-Aufnahme von Herta Müller am 25.10.2022 im_DLA Marbach

Herta Müller am 25.10.2022 im DLA Marbach von LadyDisdain13 (Own Work) [CC BY-SA 4.0 Deed] via Wikimedia

Der 17-jährige Leo Auberg, Angehöriger der rumäniendeutschen Minderheit in Siebenbürgen, wird gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen mit vielen anderen in ein russisches Arbeitslager verschleppt. Während der fünf Jahre seiner Internierung kämpft er mit den Auswirkungen der unmenschlichen Bedingungen des Lagerlebens: harte körperliche Arbeit, ständiger Hunger durch Mangelernährung, Entwürdigungen durch die Lagerleitung und deren Helfer, Krankheiten durch mangelnde Hygiene. Er trägt sowohl physische als auch seelische Schäden davon, die ihn nach der Entlassung für den Rest seines Lebens zum Heimatlosen machen, d.h. er kann nach der Heimkehr weder mit seinen Mitmenschen noch mit der erlangten Freiheit etwas anfangen und bleibt aufgrund seiner Lagererfahrungen stets isoliert. Zwar erzählt er seine Lagerzeit aus der Distanz von 60 Jahren (als alter Mann in seiner Wahlheimat Graz), doch ist das erzählende Ich fast durchgängig mit dem erlebenden Ich so verschmolzen, dass die Lagererfahrungen, die das Erzählte dominieren, dem Leser als unmittelbar erlebte Wirklichkeit erscheint.

Die Entstehung des Romans beruht auf dem Bedürfnis der Autorin, Licht ins Dunkel des Deportationstraumas ihrer Mutter zu bringen, d. h. sich mit deren Verschweigen des Unaussprechlichen nicht abzufinden und den Versuch zu unternehmen, die belastenden Erfahrungen der Lagerzeit literarisch darzustellen. Während die Mutter sich nicht in der Lage sah, über das Erlebte viele Worte zu verlieren, fand Müller in Oskar Pastior einen ehemaligen Lagerinsassen, dem es gelang, die sein Trauma begründenden Lagererfahrungen bis in sprachlich griffige Einzelheiten hinein mitzuteilen. Auf der Basis mündlicher Erzählungen Pastiors, seinen im Lager entstandenen Notizbüchern und eines gemeinsamen Besuchs der Überreste des Lagers auf dem Gebiet der heutigen Ukraine (im Jahre 2004) entstand ein international hochgelobtes Romanprojekt, das ein literarisch selten beleuchtetes Kapitel der Nachkriegsgeschichte aufgreift und am konkreten Einzelfall eindrücklich zu Bewusstsein bringt: die massenweise Verschleppung der deutschsprachigen Minderheit in Rumänien (und anderswo), der seinerzeit im Zeichen der ‚Kollektivschuld der Deutschen‘ hunderttausende Menschen im Alter von 17-45 Jahren zum Opfer gefallen sind.

In der sehr anschaulichen Darstellung des Lageralltags und der damit einhergehenden Entbehrungen weist Müllers Roman jedoch auch über die Grenzen des Einzelfalls hinaus und erweitert den Blick auf das Konzept des Lagers in seiner totalitären Verfasstheit als Substrat inhumaner, diktatorischer Machtausübung.

Textausgabe:

Herta Müller: Atemschaukel. München 2009.

Müller: „Atemschaukel“: Herunterladen [pdf][235 KB]

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