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Stufe 1

In­fo­box

Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

                                                                                                     
Ein­zel­ar­beit: Suche die pas­sen­den Text­bau­stei­ne/Ar­gu­men­ta­tio­nen  für die Lü­cken.

Darf man an­de­ren Men­schen nie ein Leid zu­fü­gen?

In­halt­li­che Vor­ent­las­tung des Tex­tes sinn­voll: Schü­ler for­mu­lie­ren zu­nächst selbst auf diese Frage eine Ant­wort, am bes­ten schrift­lich. Nach Lek­tü­re und Ein­setz­ar­beit wird ver­gli­chen.

Un­ru­hig ging Ma­nu­el auf dem Schul­hof umher. Er hatte kei­nen Blick für das Ge­to­be um ihn herum, son­dern war in quä­len­de Ge­dan­ken ver­tieft. Die letz­ten Ge­sprä­che mit sei­nen Freun­den hat­ten ihn in Zwei­fel und Un­si­cher­heit ge­stürzt. Davor hatte er immer ge­glaubt, sich rich­tig zu ver­hal­ten, und es war ihm auch nie schwer­ge­fal­len. Wenn sich eine Schwie­rig­keit auf­tat, so wurde sie ohne wei­te­res be­ho­ben, indem er sich an ir­gend­ei­nen guten Rat­schlag er­in­ner­te oder an ein Ge­spräch mit El­tern oder Schul­freun­den. Was aber in den letz­ten Tagen auf ihn ein­ge­stürmt war, be­gann ihm über den Kopf zu wach­sen. Zum ers­ten Mal däm­mer­te ihm die Er­kennt­nis, dass ein mo­ra­lisch rich­ti­ges Ver­hal­ten zu den schwie­rigs­ten Din­gen über­haupt ge­hö­ren könn­te.

Un­ver­mit­telt rich­te­te sich seine Auf­merk­sam­keit auf das Ge­sche­hen im Schul­hof. Eine Grup­pe von klei­nen Jun­gen hatte in sei­ner Nähe Ball ge­spielt. Plötz­lich war Raul, ein grö­ße­rer, kräf­ti­ger Junge, quer übers Spiel­feld ge­lau­fen, hatte den Ball ab­ge­fan­gen und rann­te mit sei­ner Beute davon. Jetzt lie­fen die Klei­nen er­bost hin­ter ihm her und schrien: »Gib uns den Ball zu­rück! Gib uns den Ball zu­rück!« Raul aber stieß den Jun­gen, der ihm am nächs­ten war, zu Boden und schoss den Ball quer über den Hof.

Ma­nu­el fand das gar nicht lus­tig und schal­te­te sich ein.

»He, lass den Quatsch! Sowas kannst du doch nicht ma­chen!«

»Und warum nicht?«, frag­te Raul mit her­aus­for­dern­der Miene.

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Raul wür­dig­te ihn kei­ner Ant­wort, spuck­te ver­ächt­lich aus und ging davon.

»Du musst dich nicht är­gern«, ver­such­te Al­va­ro Ma­nu­el gut zu­zu­re­den. »Die­ser Bur­sche hat so­wie­so einen Dach­scha­den. Er hält sich of­fen­bar für Rambo per­sön­lich!«

Aber Ma­nu­el war erst­mal durch nichts zu be­ru­hi­gen.

Abends sprach er mit sei­nen El­tern über die Fra­gen, die sich in­zwi­schen in ihm an­ge­staut hat­ten.

»Papa, sag mal, was meinst du? Ist nicht eine Sache auf jeden Fall und unter allen Um­stän­den mo­ra­lisch schlecht, näm­lich den Mit­men­schen Leid zu­zu­fü­gen?«

Sein Vater ließ sich mit der Ant­wort etwas Zeit. »Was soll ich sagen, Ma­nu­el? Das ist nicht so klar.«

»Wieso denn nicht?«

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»Woran denkst du?«, frag­te Ma­nu­el nach. Wor­auf­hin die Mut­ter sich in das Ge­spräch ein­schal­te­te:

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»Ein gutes Bei­spiel«, sagte Ma­nu­els Vater. Und auch Ma­nu­el muss­te das zu­ge­ben.

»Not­wen­di­ge Lei­den«, er­klär­te der Vater, »sind also zum ei­ge­nen Bes­ten, und dazu ge­hö­ren immer die Lei­den, die dir von den Ärz­ten be­rei­tet wer­den, um dich zu hei­len. Denk nur an die Zahn­ärz­te!«

Ma­nu­el schüt­tel­te sich beim blo­ßen Ge­dan­ken an das Ge­räusch des Boh­rers und sagte la­chend zu sei­nem Vater:

»Wenn dir ein­mal die Zähne weh­tun, schi­cke ich dich auch gleich zu so einem Zahn­arzt, es ist ja nur zu dei­nem Bes­ten, Papa!«

»Herz­li­chen Dank für deine auf­rich­ti­ge An­teil­nah­me an mei­nem Ge­sund­heits­zu­stand, Ma­nu­el! Aber bei uns Er­wach­se­nen liegt der Fall an­ders, wir sind schon groß und dür­fen al­lein ent­schei­den, was für uns falsch und rich­tig ist!«

Gut­ge­launt sprach die Fa­mi­lie bald über an­de­re Dinge, und auch Ma­nu­el war für ei­ni­ge Zeit ab­ge­lenkt. Dann aber kam ihm ein Ge­spräch mit Se­bas­ti­an und Al­va­ro über die Ge­walt­ver­herr­li­chung in den Kriegs­fil­men in den Sinn. Wie oft hatte er da ge­se­hen, dass Ge­fan­ge­ne ge­quält und ge­fol­tert wur­den! Hier han­del­te es sich of­fen­sicht­lich um völ­lig un­nö­ti­ges Lei­den. Und Raul, der den Kin­dern ihren Ball weg­ge­nom­men hatte, äh­nel­te der nicht den Mi­li­tärs, die Kriegs­ge­fan­ge­ne miss­han­deln? Hatte er nicht des­halb so all­er­gisch auf Raul re­agiert?

»Papa, du kennst doch auch diese Kriegs­fil­me, in denen die Ge­fan­ge­nen ge­fol­tert wer­den. Warum ist das ei­gent­lich schlecht, so etwas zu tun?«

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Ma­nu­el ließ sich mit die­ser Ant­wort nicht ab­spei­sen und ent­geg­ne­te so­fort: .......................................................................................................................................................................................................................................
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Er war selbst ver­blüfft, wie leicht er in­zwi­schen Schein­ant­wor­ten kor­ri­gie­ren konn­te.

Sein Vater war ins­ge­heim ein wenig stolz auf Ma­nu­el, denn na­tür­lich war seine Ant­wort nicht dazu an­ge­tan, die Schwie­rig­keit der Frage auf­zu­lö­sen.

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»Könn­te man es viel­leicht ein nicht not­wen­di­ges Lei­den nen­nen, das ihnen zu­ge­fügt wird?« (Ma­nu­el)

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»Aber je­den­falls wäre eine sol­che Miss­hand­lung doch von an­de­rer Art als das Lei­den, das uns die Ärzte und Zahn­ärz­te zu­fü­gen, meinst du nicht auch?« (Ma­nu­el)

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»Und Fol­te­run­gen, Papa?«

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Ma­nu­el sah den Ab­scheu im Ge­sichts­aus­druck sei­nes Va­ters und schwieg eine Zeit­lang. Dann sagte er »Du hast Recht, Papa«, al­ler­dings ohne rech­te Über­zeu­gung. Sein Vater merk­te schnell, dass es da noch eine Un­klar­heit gab, und fügte hinzu:

»Schau, Ma­nu­el, die Wäch­ter, die auf die Kriegs­ge­fan­ge­nen auf­pas­sen, soll­ten sich bei ihren Hand­lun­gen je­der­zeit fra­gen, was sie denn bei ver­tausch­ten Rol­len emp­fin­den wür­den. Würde es ihnen Spaß ma­chen, ge­fol­tert zu wer­den? So­bald sie er­ken­nen, dass das für sie selbst schlecht wäre, wer­den sie be­grei­fen, dass es bei an­de­ren auch nicht an­ders ist.«

Diese Ant­wort er­leich­ter­te Ma­nu­el er­heb­lich. Hatte er nicht un­längst etwas ganz Ähn­li­ches zu Raul ge­sagt, als der den Klei­nen ihren Ball weg­ge­nom­men hatte: >Was wür­dest du sagen, wenn dich je­mand är­gern würde, der so­viel grö­ßer ist als du?<

Am nächs­ten Tag saß Ma­nu­el ge­mein­sam mit Ca­mil­la auf einer Bank im Schul­hof und frag­te sie ziem­lich un­ver­mit­telt:

»Fin­dest du nicht auch, dass es schwie­rig ist, zu ver­ste­hen, was ei­gent­lich mo­ra­lisch schlech­tes Han­deln ist? Ir­gend­wie haben wir uns frü­her nie rich­tig Ge­dan­ken ge­macht.« Und er be­rich­te­te von sei­nem gest­ri­gen Ge­spräch mit den El­tern über das zum ei­ge­nen Bes­ten not­wen­di­ge Lei­den.

Da er­in­ner­te sich Ca­mil­la an etwas, was ihre Mut­ter neu­lich er­zählt hatte.

»Meine Mut­ter hat eine alte Freun­din, Re­bek­ka, die nie­mals ge­hei­ra­tet hat. Ein ein­zi­ges Mal war sie kurz davor. Sie hatte einen Freund, den sie lieb­te. Er moch­te sie zwar auch, aber er war nicht in sie ver­liebt, und ir­gend­wann hei­ra­te­te er dann eine an­de­re Frau. Re­bek­ka hat unter die­ser Tren­nung un­säg­lich ge­lit­ten und ist nie wie­der eine neue Be­zie­hung ein­ge­gan­gen. Hat nun ihr Freund da­mals rich­tig ge­han­delt, als er die an­de­re hei­ra­te­te? Er hätte sich doch fra­gen müs­sen, wel­ches Leid er damit Re­bek­ka zu­füg­te, meinst du nicht?«

Ma­nu­el fing an zu über­le­gen. Ganz of­fen­sicht­lich hatte Re­bek­ka wegen der Ent­schei­dung ihres Freun­des sehr ge­lit­ten. Au­ßer­dem war of­fen­sicht­lich die Zu­fü­gung die­ses Leids nicht zu ihrem ei­ge­nen Bes­ten ge­sche­hen. Trotz­dem schien der Freund nicht un­mo­ra­lisch ge­han­delt zu haben.

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Er wuss­te nicht, wie er diese Fra­gen be­ant­wor­ten soll­te.

Text­bau­stei­ne/Ar­gu­men­ta­tio­nen zum Ein­set­zen:

(A) »Um Got­tes wil­len! Das ist noch schlim­mer! Ein Kriegs­ge­fan­ge­ner lei­det ja oh­ne­hin schon. Wenn man den jetzt noch fol­tert, be­deu­tet das zu­sätz­li­ches Lei­den und dar­über hin­aus auch noch Er­nied­ri­gung. Er wird be­han­delt, als wenn er kein mensch­li­ches Wesen mehr wäre.«

(B) »Es gibt im Fall der Miss­hand­lung von Kriegs­ge­fan­ge­nen in­ter­na­tio­na­le Ab­kom­men, die ein sol­ches Ver­hal­ten un­ter­sa­gen.«

(C) »Schau doch, als du klein warst, hat­test du ein­mal eine schwe­re Man­del­ent­zün­dung, und dein Hals war schon fast zu­ge­schwol­len. Da muss­ten wir dir schnell ein Me­di­ka­ment geben, damit die Sache nicht noch schlim­mer wurde.

Das ging aber nur noch mit einer In­jek­ti­on, schlu­cken konn­test du kaum mehr. Frei­lich hat­test du da­mals vor den Sprit­zen eine Hei­den­angst. Die In­jek­ti­on haben wir trotz­dem ma­chen müs­sen, aber sie be­deu­te­te für dich und sogar für uns ein Lei­den, denn es war wirk­lich nicht an­ge­nehm, dich so quä­len zu müs­sen. Trotz­dem meine ich, dass das ein not­wen­di­ges Lei­den war, weil du nur auf die­sem Wege wie­der ge­sund wer­den konn­test.«

(D) Damit wurde aber auch der Maß­stab frag­lich, den sich Ma­nu­el für schlech­tes Han­deln zu­recht­ge­legt hatte. Hatte der Freund von Re­bek­ka grau­sam ge­han­delt? War er für ihr Lei­den ver­ant­wort­lich?

(E) »Zu­nächst ein­mal gibt es Lei­den, die ge­ra­de­zu not­wen­dig sind.«

(F) »Na klar, aber die Frage ist doch, warum diese Ab­kom­men das Ver­hal­ten un­ter­sa­gen«

(G) »Weil das schlecht ist! Was wür­dest du denn sagen, wenn dich je­mand är­gern würde, der so­viel grö­ßer ist als du?«

(H) »Na gut, Ma­nu­el. Dann lass mich noch mal nach­den­ken ... Es ist doch wohl so, dass die Kriegs­ge­fan­ge­nen wehr­los sind und kei­nen Scha­den mehr an­rich­ten kön­nen. Sie dann zu miss­han­deln, ist schlicht und ein­fach ein Akt der Grau­sam­keit.«

(I) »Je nach­dem. Die Wäch­ter wür­den viel­leicht sagen, dass die Miss­hand­lun­gen nötig sind, damit die Ge­fan­ge­nen sich fügen.«

(J) »Das muss ich zu­ge­ben. Und dar­aus müs­sen wir schlie­ßen, dass das Wört­chen >not­wen­dig< noch nicht aus­ge­reicht hat, um zu de­fi­nie­ren, was schlech­tes Han­deln be­deu­tet. Wir müss­ten viel­mehr sagen, dass im Bei­spiel der Kriegs­ge­fan­ge­nen ein Lei­den ver­ur­sacht wird, das nicht zu ihrem ei­ge­nen Bes­ten not­wen­dig ist, und dass des­halb diese Miss­hand­lun­gen un­mo­ra­lisch sind.

Text­quel­le:
Ernst Tu­gend­hat, Celso López, Ana María Vi­cu­na: Wie sol­len wir han­deln? - Schü­ler­ge­sprä­che über Moral. Stutt­gart 2000 (= Re­clam UB 18089), S. 39 – 44
Mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung des Re­clam-Ver­lags


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