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M 11 - M 12 De­mo­kra­ti­sche Le­gi­ti­ma­ti­on?

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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

M 11 Jür­gen Ha­ber­mas: Eu­ro­pean Go­ver­nan­ce ohne de­mo­kra­ti­sche Le­gi­ti­ma­ti­on?

Die Re­gie­rungs­chefs haben sich dar­auf fest­ge­legt, je­weils im ei­ge­nen Land einen Ka­ta­log von Maß­nah­men zur Fi­nanz-, Wirt­schafts-, So­zi­al- und Lohn­po­li­tik umzuset­zen, die ei­gent­lich Sache der na­tio­na­len Par­la­men­te (bzw. der Ta­rif­par­tei­en) wären. In den Emp­feh­lun­gen spie­gelt sich ein Po­li­tik­mus­ter, das die deut­sche Hand­schrift trägt. Von der wirt­schafts­po­li­ti­schen Weis­heit der ver­ord­ne­ten Aus­te­ri­tät, die auf eine kon­tra­pro­duk­ti­ve Dau­er­de­fla­ti­on in der Pe­ri­phe­rie hin­aus­zu­lau­fen droht, will ich gar nicht reden. Ich kon­zen­trie­re mich auf das Ver­fah­ren: Die Re­gie­rungs­chefs wol­len sich jedes Jahr ge­gen­sei­tig über die Schul­ter sehen, um fest­zu­stel­len, ob denn die Kol­le­gen den Schul­den­stand, das Ren­ten­ein­tritts­al­ter und die De­re­gu­lie­rung des Arbeits­marktes, das So­zi­al­leis­tungs- und das Ge­sund­heits­sys­tem, die Löhne im öffentli­chen Sek­tor, die Lohn­quo­te, die Kör­per­schafts­steu­er und vie­les mehr an die „Vor­ga­ben“ des Eu­ro­päi­schen Rates an­ge­passt haben.

Die recht­li­che Un­ver­bind­lich­keit der in­ter­gou­ver­ne­men­ta­len Vor­ver­stän­di­gung über Po­li­ti­ken, die in Kern­kom­pe­ten­zen der Mit­glieds­staa­ten und ihrer Par­la­men­te eingrei­fen, führt in ein Di­lem­ma. Wenn die Emp­feh­lun­gen zur wirt­schafts­po­li­ti­schen Steue­rung wir­kungs­los blei­ben, ver­ste­ti­gen sich die Pro­ble­me, die damit ge­löst wer­den sol­len. Wenn je­doch die Re­gie­run­gen ihre Maß­nah­men tat­säch­lich in der beabsichtig­ten Weise ko­or­di­nie­ren, müs­sen sie sich dafür zu Hause die nö­ti­ge Legitima­tion „be­schaf­fen“. Das muss aber ein clai­re-ob­scu­re der sanf­ten Pres­si­on von oben und der un­frei­wil­lig-frei­wil­li­gen Ak­ko­mo­da­ti­on von unten er­zeu­gen. Was be­deu­tet denn das Recht der Kom­mis­si­on, die Haus­hal­te der Mit­glied­staa­ten „rechtzei­tig“, also vor der Ent­schei­dung der Par­la­men­te zu prü­fen, an­de­res als die An­ma­ßung, ein wirk­sa­mes Prä­ju­diz zu schaf­fen?

Unter die­sem Grau­schlei­er kön­nen sich die na­tio­na­len Par­la­men­te (und gegebenen­falls die Ge­werk­schaf­ten) dem Ver­dacht nicht ent­zie­hen, an­dern­orts ge­fass­te Vorent­scheidungen nur noch ab­zu­ni­cken, d.h. kon­kre­ti­sie­rend nach­zu­voll­zie­hen. Die­ser Ver­dacht muss jede de­mo­kra­ti­sche Glaub­wür­dig­keit zer­fres­sen. Das Wi­schi­wa­schi einer Ko­or­di­nie­rung, deren recht­li­cher Sta­tus ab­sichts­voll im Un­ge­fäh­ren bleibt, ge­nügt nicht für Re­ge­lun­gen, die ein ge­mein­sa­mes Han­deln der Union er­for­dern. Sol­che Be­schlüs­se müs­sen auf bei­den für Uni­ons­ent­schei­dun­gen vor­ge­se­he­nen We­gen le­gi­ti­miert wer­den – nicht nur auf dem in­di­rek­ten Wege über die im Rat vertrete­nen Re­gie­run­gen, son­dern auch über das eu­ro­päi­sche Par­la­ment unmittel­bar. An­dern­falls wird die be­kann­te zen­tri­fu­ga­le Dy­na­mik des Fin­ger­zei­gens auf „Brüs­sel“ nur noch be­schleu­nigt – die fal­sche Me­tho­de wirkt als Spalt­pilz.

So­lan­ge die eu­ro­päi­schen Bür­ger al­lein ihre na­tio­na­len Re­gie­run­gen als Han­deln­de auf der eu­ro­päi­schen Bühne im Blick haben, neh­men sie die Ent­schei­dungs­pro­zes­se als Null­sum­men­spie­le wahr, in denen sich die ei­ge­nen Ak­teu­re gegen die an­de­ren durch­set­zen müs­sen.

Die na­tio­na­len Hel­den tre­ten gegen „die an­de­ren“ an, die an allem schuld sind, was „uns“ das Mons­ter Brüs­sel auf­er­legt und ab­ver­langt. Nur im Blick auf das von ihnen ge­wähl­te, nach Par­tei­en und nicht nach Na­tio­nen zu­sam­men­ge­setz­te Par­la­ment in Strass­burg könn­ten die eu­ro­päi­schen Bür­ger Auf­ga­ben der wirt­schafts­po­li­ti­schen Steue­rung als ge­mein­sam zu be­wäl­ti­gen­de Auf­ga­ben wahr­neh­men.

Eine an­spruchs­vol­le­re Al­ter­na­ti­ve be­stün­de darin, dass die Kom­mis­si­on diese Aufga­ben auf dem de­mo­kra­ti­schen Wege des „or­dent­li­chen Ge­setz­ge­bungs­ver­fah­rens“, also mit Zu­stim­mung von Rat und Par­la­ment aus­übt. Das würde al­ler­dings eine Kompe­tenzverlagerung von den Mit­glied­staa­ten auf die Union ver­lan­gen, und eine der­art ein­schnei­den­de Ver­trags­än­de­rung er­scheint einst­wei­len als un­rea­lis­tisch. (...)

(C) J. Ha­ber­mas; Ein Pakt für oder gegen Eu­ro­pa; (2011: 2 ff.). Mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung des Ver­lags.

Al­ter­na­ti­ve Quel­le: http://​www.​blaet­ter.​de/​ak­tu­ell/​do­ku­men­te/​ju­er­gen-​ha­ber­mas-​ein-​pakt-​fuer-​oder-​gegen-​eu­ro­pa

M 12 Das Pro­blem der de­mo­kra­ti­schen Le­gi­ti­ma­ti­on trans­na­tio­na­ler Entschei­dungsprozesse

12a Be­fä­hi­gung zur Teil­ha­be an po­li­ti­schen Ent­schei­dungs­pro­zes­sen in der EU.

Quel­le: Rap­pen­glück (2005: 459, 462)

M 12 b Timm Bei­chelt: Ana­ly­ti­sche Kern­be­grif­fe der De­mo­kra­ti­e­theo­rie

Quel­le: Bei­chelt (2009: 306 f.).

M 12 c Eu­ro­päi­sie­rung: die Trans­for­ma­ti­on der re­prä­sen­ta­ti­ven zur responsi­ven De­mo­kra­tie?

Quel­le: Bei­chelt (2009: 326 – 330).

 

Wei­ter: M 13 - M 15 Eu­ro­päi­sches Se­mes­ter?

 

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