Schriftfassung
Langes 19. Jahrhundert und Zwischenkriegszeit in europäischer Perspektive
Vortrag zum Bildungsplan 2016, Klassen 7/8 — Prof. Dr. Dietmar Neutatz, Freiburg
Landesakademie Bad Wildbad, 11.1.2016
Möglichkeiten des Zugriffs auf europäische Geschichte
Die Aufgabe, die mir gestellt wurde, ist nicht einfach, nämlich zu zeigen, wie sich die nationalstaatliche zugunsten einer europäischen Perspektive überwinden lässt, ohne dass daraus eine enzyklopädisch-additive Geschichte wird, mit einer Faktenflut, die nicht bewältigt werden kann. Die Forderung des Bildungsplans, die europäische Geschichte mit einzubeziehen, soll nicht in ein Mehr an additiven Fakten zu einzelnen Ländern münden, sondern in ein vernetztes Wissen.
Auf einer grundsätzlichen Ebene sehe ich vor allem zwei Möglichkeiten, dieses Problem in den Griff zu bekommen:
Erstens eine Reduktion von der Vielfalt der Länder Europas zu Großräumen. Hier bietet es sich für das 19. Jahrhundert, für das die Probleme rund um Nation, Nationalismus und Nationalstaat zentral sind, mit Großräumen zu arbeiten, die sich an die Kategorisierung anlehnen, die Theodor Schieder für die Nationalstaatsbildung entwickelte: Er unterschied zwischen dem westeuropäischen Raum, in dem sich die Nation schon im 18. Jahrhundert in einem bereits existierenden gemeinsamen Staat entwickelte, dem mittel- und südeuropäischen Raum, wo sich der Nationalstaat durch die Vereinigung kleinerer staatlicher Territorien bildete, und dem ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Raum, wo die Nationalstaatsbildung über die Sezession aus multinationalen Imperien erfolgte.
Nimmt man exemplarisch für jeden dieser Räume ein Land in den Blick, dann ist die europäische Vielfalt schon ganz gut repräsentiert. Für Westeuropa liegt es nahe, Frankreich zu beleuchten, für Mittel- und Südeuropa Deutschland, für Ostmittel- und Südosteuropa erscheint es sinnvoll, Polen und Ungarn auszuwählen, weil sie für unterschiedliche Muster stehen: Ungarn emanzipierte sich innerhalb der Habsburgermonarchie als gleichberechtigter Staat neben Österreich, steht aber wie dieses am Ende des Ersten Weltkriegs als Verlierer da. Polen existiert zwischen 1796 und 1918 nicht als selbständiger Staat, sondern ist zwischen Russland, Österreich und Preußen aufgeteilt, und erlangt erst 1918 seine Staatlichkeit wieder – auf der Seite der Siegermächte des Ersten Weltkriegs.
Die zweite Möglichkeit, den potentiellen Stoff zu reduzieren, sehe ich in der Auswahl der behandelten Inhalte. Natürlich ist es für die Schule nicht sinnvoll, die Geschichte Frankreichs, Deutschlands, Polens und Ungarns systematisch abdecken zu wollen. Es wird vielmehr nötig sein, Schlaglichter zu werfen und dabei Themen auszuwählen, die durch ihre Inhalte über die jeweiligen Länder hinausweisen. Das ist der Fall, sobald man sich mit transnationalen Phänomenen beschäftigt wie Nationalismus oder Liberalismus und nach Gemeinsamkeiten über die Länder hinweg fragt, wenn man Wechselwirkungen, Konfrontationen und Konflikte in den Blick nimmt oder auch internationale Ereignisse, die Weichen stellten, wie etwa die Pariser Friedenskonferenz 1919. Manche Probleme lassen sich auch auf einer Metaebene sinnvoll verhandeln, ohne dass man sie an Ländergeschichten rückbinden muss.
Bei der Auswahl der Themen für meinen Vortrag zum „langen 19. Jahrhundert und zur Zwischenkriegszeit“ habe ich mich an dem orientiert, was Sie auf dieser Veranstaltung beschäftigt: nämlich den Vorgaben des Bildungsplans 2016 für die Klassen 7 und 8. Herr Grießinger hatte mir vorab die Idee einer Unterrichtsplanung zum langen 19. und frühen 20. Jahrhundert erläutert. Zwei der darin behandelten Themenkomplexe habe ich für den Vortrag ausgewählt:
- Nationalismus und Liberalismus als europäische Phänomene im 19. Jahrhundert
- Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit
Nicht eingehen werde ich auf Nationalismustheorien. Diese halte ich zwar für besonders geeignet, um das Phänomen Nationalismus jenseits der Faktenfülle auf einer Metaebene zu erklären und gleichzeitig die Distanz zu vermeintlich selbstverständlichen Grundannahmen nationalen Denkens zu schaffen, aber für die Klassenstufen 7 und 8 ist das wohl zu früh, obwohl die gängigen Nationalismustheorien ja recht eingängig und plausibel sind und sich ohne größere Verrenkungen auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Dieses Thema können wir aber gerne in der Diskussion ansprechen. Grundsätzlich bin ich ein großer Anhänger von solchen Erklärungsmodellen, die sich von der konventionellen Ereignisgeschichte lösen, weil ich glaube, dass sie länger im Gedächtnis bleiben als die Namen, Daten und Fakten.
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