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Nationalismus und Liberalismus

Nationalismus und Liberalismus als europäische Phänomene

Die Amerikanische und Französische Revolution als Epochenwende

Beim Thema „Nationalismus und Liberalismus“ brauchen wir fast zwangsläufig einen länderübergreifenden Zugang. Die Doppelrevolution in Amerika und in Frankreich gab am Ende des 18. Jahrhunderts den Anstoß zu vier fundamentalen Entwicklungen, die miteinander in Wechselwirkung standen und für das 19. Jahrhundert bestimmend wurden:

  1. Die erste war die aus der Volkssouveränität abgeleitete Forderung nach einem Nationalstaat im politischen Sinne, also einem Staat, der nicht von einer Dynastie oder von Ständen, sondern der von einer Nation getragen wird. Daraus resultierte eine neuartige Identifikation der Bürger mit der Nation als dem politisch handelnden Volk. Der Bewohner des Landes wird sich seiner nationalen Identität bewusst und entwickelt eine starke emotionale Bindung an die Nation.
  2. Die zweite fundamentale Entwicklung war die Bewegung des Liberalismus, also die Forderung nach einer Verfassung und demokratischen Reformen, in der die Macht des Monarchen beschränkt oder gänzlich abgeschafft wird. Sie mündet in die Revolutionen von 1848 und in die Kompromisse von konstitutionellen Monarchien.
  3. Entstand ausgehend von den USA und von Frankreich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts aus der traditionellen Ständegesellschaft in vielen Ländern Europas eine neue bürgerliche Gesellschaft. An die Stelle der feudalständische Pri­vilegienordnung trat das bürgerliche Prinzip der allgemeinen Rechtsgleichheit.
  4. Gab die Französische Revolution der Herausbildung des modernen, auf Gesetze und effektive Institutionen gegründeten Staates, einen Wachstumsschub. Professionalisierung der Verwaltung, Aufbau eines Beamtenapparats, Vereinheitlichung der staatlichen Strukturen sowie der Maße und Gewichte, Kodifizierung der Gesetze, Aufbau von Infrastrukturen, Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, endgültige Durchsetzung des Gewaltmonopols des Staates – das alles sind Entwicklungen, die zwar nicht erst 1789 einsetzten, aber durch die Revolution und das französische Vorbild erheblich intensiviert wurden. Die Staaten Europas modernisierten und rationalisierten sich durch die Vereinheitlichung des Verwaltungsaufbaus und Reorganisation der Behörden.

Nationalismus als Ausstrahlung und Wechselwirkung

Die Französische Revolution konfrontierte die anderen Europäer mit einer neuen Form der Verknüpfung von Nation und Staat, die auf viele Länder und Völker ohne eigenen Staat ausstrahlte.

In Deutschland veränderte sich durch die Auseinandersetzung mit dem revolutionären Frankreich und mit Napoleon der Charakter des nationalen Bewusstseins. Seit dem 16. Jahrhundert hatte es in den deutschen Territorien Ansätze für ein gemeinsames Nationalbewusstsein gegeben, aber sie hatten nicht auf die Errichtung eines deutschen Nationalstaats gezielt.

Im 18. Jahrhundert war unter den Gebildeten das Bewusstsein für eine gemeinsame deutsche Kultur entstanden und hatte sich über die Befassung mit Sprache und Literatur eine deutsche Kulturnation formiert. Dieses Bewusstsein für kulturelle Gemeinsamkeit war aber keine Massenbewegung und sie war weitgehend unpolitisch.

Das änderte sich während der Napoleonischen Kriege. Unter dem Eindruck des französischen Hegemonialstrebens und des neuartigen französischen Nationalbewusstseins gewann auch in Deutschland das nationale Bewusstsein eine neue Qualität. Wichtig dabei ist, dass das deutsche Nationalbewusstsein in der Abwehr der französischen Aggression entstand. Die frühe deutschnationale Agitation war gegen die Franzosen gerichtet und militant: „Dämmt den Rhein mit ihren Leichen“ rief Heinrich von Kleist.

Nach 1815 waren nicht mehr die Franzosen der Hauptgegner der deutschen Nationalbewegung, sondern die Fürsten der deutschen Einzelstaaten. Die nationale Bewegung war aufs Engste mit liberalen, demokratischen und sozialistischen Strömungen verzahnt. Gemeinsam richteten sich diese Bewegungen gegen den Status quo, also gegen die Fürstenmacht und ihren territorialen Partikularismus. Ziel war die Schaffung eines deutschen Nationalstaats in Gestalt eines liberalen, mehr oder weniger demokratischen Verfassungs- und Rechtsstaates.

In der Revolution von 1848 scheiterten diese Bestrebungen. 1871 wurde der Nationalstaat verwirklicht, allerdings mit gewichtigen Abstrichen: Es war eine kleindeutsche Lösung unter Ausschluss Österreichs, und es war ein Kompromiss mit einem Teil der alten Eliten. Der deutsche Nationalstaat von 1871 war keine Demokratie, sondern ein Kaiserreich. Der preußische Obrigkeitsstaat war durch konstitutionelle Elemente nur partiell beschränkt.

Das Modell der Ausstrahlung und Wechselwirkung lässt sich auf viele Nationalismen in Europa anwenden. Insbesondere die Nationalbewegungen der slawischen Völker waren stark von den aus Frankreich und Deutschland rezipierten Ideen inspiriert, und zur Massenbewegung wurden Nationalismen häufig durch die Konfrontation mit einer als Aggressor oder Unterdrücker wahrgenommenen Macht oder mit einem fremden, als Bedrohung wahrgenommenen Nationalismus.

Freiheit als gemeinsames Anliegen

Bis 1848 stellt sich die Forderung nach Freiheit vielfach als ein gemeinsames Anliegen der Völker dar. Nationale Einigungs- oder Befreiungsbewegungen sympathisieren miteinander, regen einander gegenseitig an.

Ein Beispiel sind die revolutionären Ereignisse um 1830. Sie bilden ein umfassendes, weite Teile Europas erfassendes Geschehen, das mit der Julirevolution in Paris begann. Die Franzosen erhoben sich gegen erhöhte Brotpreise und den Versuch des Königs, die Vorherrschaft des Adels wieder herzustellen. Der Bourbonenkönig Karl X. hatte kurz davor das Wahlrecht zum Nachteil der Bürger verändert und die Zensur der Presse eingeführt. Von Frankreich aus griffen die Unruhen auf andere Länder über: die Vereinigten Niederlande, Italien, Polen und auf deutsche Territorien.

Die Ergebnisse waren unterschiedlich: In Frankreich wurde die Monarchie modifiziert, der neue französische König Louis Philippe verstand sich als Bürgerkönig, Frankreich erhielt eine neue Verfassung, die das Parlament stärkte. In den Vereinigten Niederlanden führte die Revolution von 1830 zur Abspaltung des unabhängigen Staates Belgien. In Polen scheiterte hingegen der Versuch, die russische Herrschaft abzuschütteln. Der Novemberaufstand wurde niedergeschlagen und Polen fortan mit harter Hand regiert.

→[Ölgemälde von 1948] Der Freiheitskampf der Polen stieß in West- und Mitteleuropa auf große Resonanz. In Frankreich und in Deutschland entflammte eine regelrechte Polenbegeisterung: Es fanden Solidaritätskundgebungen statt, Polenlieder wurden gesungen. Über die Begeisterung für die polnischen Freiheitskämpfer mobilisierten sich bürgerliche Gruppen und städtische Unterschichten für ihre eigenen Ziele: Verfassungsreform, Lockerung der Pressegesetze und überhaupt des repressiven politischen Systems der Restauration, Besserung der sozialen Missstände. Auf dem Hambacher Fest wurde 1832 neben der schwarz-rot-goldenen Fahne auch die weiß-rote polnische Fahne getragen. →[Originalstich von 1832]

Die Revolution von 1848 und die Konkurrenz der Nationalismen

1848 gerieten die Nationalbewegungen jedoch in Konkurrenz zueinander. Die Revolution von 1848 hatte einen noch deutlicheren europäischen Charakter. →[Karte] Die einzelnen Schauplätze der Revolution von 1848 waren zwar in jeweils spezifische Kontexte eingebettet, aber die in Paris, Wien, Prag, Budapest und in vielen anderen Städten stattfindenden Ereignisse hingen miteinander zusammen und lassen sich über gemeinsame zentrale Themen als Variationen eines europäischen Vorgangs begreifen. Drei politische Anliegen standen überall auf der Tagesordnung: nationale Vereinigung oder nationale Befreiung, Demokratisierung und soziale Gerechtigkeit.

Europäische Qualität hatte die Revolution auch durch die rasch zwischen den  Schauplätzen zirkulierenden Nachrichten, Gerüchte, Ideen und Bilder, die einen geteilten Fundus an Idealen, Medien und Handlungsmustern erzeugten. Die einzelnen Revolutionen verbanden sich zwar nicht zu einer einzigen großen europäischen Revolution, aber Europa wurde durch die revolutionäre Bewegung zu einem großen Kommunikationsraum, zu einer großräumigen Handlungseinheit. Suggestive Bilder von Barrikaden wanderten zusammen mit Berichten über revolutionäres Handeln quer durch Europa. Überlieferte Formen des Aufbegehrens gingen durch die mediale Kommunikation in neue, organisierte Handlungsformen mit einer neuartigen Qualität von Öffentlichkeit über. Versammlungen, Vereine, Zeitungen, Petitionen, Barrikadenkämpfe – das Erscheinungsbild der Revolution folgte überall den gleichen Mustern.

Abermals ging der Anstoß von Frankreich aus. Dort spielte der nationale Faktor eine geringe Rolle, denn Frankreich war schon ein Nationalstaat. Wichtiger waren die Demokratisierung in Gestalt des allgemeinen Wahlrechts und die soziale Frage in Gestalt der Forderungen städtischer Arbeiter und Handwerker nach besseren Lebensverhältnissen.

Außerhalb Frankreichs war die Bildung von Nationalstaaten ein vorrangiges Ziel der Revolutionäre. Die deutsche und italienische Nationalbewegung stand vor der Herausforderung, die Fürstenmacht in den Territorien zugunsten eines gemeinsamen Nationalstaats zu überwinden. Die Nationalbewegungen der Ungarn, Tschechen und Polen hingegen, die über keine bestehenden Staaten verfügten, kämpften für die Emanzipation innerhalb multinationaler Imperien. Der Kampf um die nationalen Anliegen war fast überall begleitet von sozialem Protest: Städtische Unterschichten und Bauern rebellierten, und die Bauern erreichten die Befreiung von den noch verbliebenen grundherrschaftlichen Lasten.

Auch die Reaktionen der Staatsmacht gegen die Revolution lassen ein gemeinsames europäisches Muster erkennen. Die Großmächte Österreich, Preußen und Russland schlugen die Aufstände unter Einsatz von Militär nieder und unterstützten einander dabei gegenseitig. Danach setzten aber überall Reformprozesse ein, die Anliegen der Revolution aufgriffen und in abgemilderter Form angingen.

Zum transnationalen Verlaufsmuster der Revolution von 1848 gehört auch die Lähmung der revolutionären Bewegungen durch innere Gegensätze: Zum einen gab es einen Gegensatz zwischen den bürgerlichen Mittelschichten, die vielerorts den Kern der liberal-nationalen Bewegung bildeten, und den gegen soziale Ungleichheit rebellierenden Unterschichten. Das Bürgertum hatte Angst vor einer jakobinischen Radikalisierung der Revolution und schreckte vor der Eskalation zurück. Umgekehrt machten die Arbeiter die Erfahrung, dass ihre Forderungen nach politischer Gleichberechtigung und sozialer Gerechtigkeit nicht im Bündnis mit dem Bürgertum zu realisieren waren.

Der zweite Gegensatz offenbarte sich dort, wo unterschiedliche nationale Bewegungen Ziele vertraten, die nicht miteinander kompatibel waren. 1848 wurde zum Ausgangspunkt einer neuen Konfrontation nationaler Antagonismen, die für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts prägend sein sollte.

Das betrifft vor allem den Gegensatz zwischen Deutschen und Polen, Deutschen und Tschechen sowie zwischen Österreich als Gesamtstaat und Ungarn. Zwar gab es 1848 noch Sympathien der deutschen, polnischen, ungarischen und tschechischen revolutionären Bewegungen. Die Nachrichten von der Märzrevolution in Budapest gaben in Wien das Signal für den Aufstand und die Nachrichten von den Barrikadenkämpfen in Wien lösten in Prag Begeisterung aus. Es gab auch Einzelpersonen, die an verschiedenen Orten an der Revolution teilnahmen. Ein regionalgeschichtlich interessantes Beispiel ist der Pole Ludwik MierosÅ‚awski, der in Posen, danach in Sizilien und am Ende als Oberbefehlshaber der badischen Revolutionsarmee kämpfte. Unterm Strich erwiesen sich aber 1848 die aufbrechenden Gegensätze zwischen den nationalen Interessen als stärker.

Die Konzeptionen für einen deutschen Nationalstaat stießen bei den Polen in Preußen und bei den Tschechen in Böhmen auf Widerstand, denn beide hatten ihr eigenes nationales Anliegen und wollten sich nicht in einen deutschen Nationalstaat eingliedern lassen. In Prag prallten die gegensätzlichen Vorstellungen der Tschechen und Deutschen direkt aufeinander, was auch hier der Staatsmacht in die Hände arbeitete. Als der Kaiser im Oktober 1848 nach dem Aufstand in Wien aus der Hauptstadt flüchtete, distanzierten sich die tschechischen Abgeordneten von den Wiener Revolutionären. Die Wiener wiederum hatten wenige Monate davor den Einsatz des Militärs gegen den Prager Aufstand begrüßt und den Sieg der kaiserlichen Truppen unter Radetzky  gegen die italienischen Revolutionäre bejubelt. Der Kaiser konnte die Gegensätze zwischen den nationalen Bewegungen ausnutzen, um seine Stellung wieder zu festigen.

Die Revolution von 1848 wurde also zum Katalysator von Europäisierung, aber auch von Nationalisierung. Begonnen hatte sie als „Völkerfrühling“ – ein zeitgenössisches Schlagwort, das damals die Hoffnung zum Ausdruck brachte, dass freie Völker künftig in Brüderlichkeit zusammenarbeiten würden. Viele Revolutionäre glaubten, an der Schwelle eines neuen Zeitalters zu stehen und glaubten an ein friedliches Europa gleichberechtigter demokratischer Nationen.

Innerhalb weniger Monate brachen jedoch erbitterte nationale Gegensätze auf, die durch die gesellschaftliche Mobilisierung schnell in die Breite gingen. Die Fronten verliefen bald nicht mehr zwischen Revolutionären und Gegenrevolutionären, sondern spalteten die revolutionären Bewegungen entlang nationaler Linien. Die nationalen Bewegungen scheiterten an der Unvereinbarkeit ihrer Ziele. Die Konfrontation der Nationalbewegungen verstärkte die Ethnisierung der Nationskonzepte und die Formierung von Feindbildern. Die Polenbegeisterung des Vormärz etwa war einem feindseligen Antagonismus gewichen. Wilhelm Jordan forderte in der Paulskirche einen „Kampf auf Leben und Tod“ zwischen Deutschen und Polen.

Die Jahrzehnte nach 1848 sind in der Habsburgermonarchie, in Preußen, aber auch im Russischen Reich von Nationalitätenkonflikten und von der Auseinandersetzung zwischen Staatsmacht und nach Emanzipation strebenden Nationalitäten gekennzeichnet. Markante Beispiele sind die gegen die Polen gerichtete Germanisierungspolitik in den preußischen Ostprovinzen, die gegen die Deutschen und andere Nationalitäten gerichtete Madjarisierungspolitik in Ungarn oder der Volkstumskampf zwischen Deutschen und Tschechen in  Böhmen.

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