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De­mo­kra­tie in der Zwi­schen­kriegs­zeit

Die Krise der De­mo­kra­tie in der Zwi­schen­kriegs­zeit

Das 19. Jahr­hun­dert hin­durch schien es so zu sein, als ob der po­li­ti­sche Fort­schritt durch die li­be­ra­len und de­mo­kra­ti­schen Be­we­gun­gen ver­kör­pert würde. Die Idee des de­mo­kra­ti­schen Rechts­staa­tes mit Ver­fas­sung und Ge­wal­ten­tei­lung war auf dem Vor­marsch und ge­wann immer mehr an Raum. Durch den Sieg der de­mo­kra­ti­schen West­mäch­te im Ers­ten Welt­krieg schien das de­mo­kra­ti­sche Prin­zip voll­ends ge­siegt zu haben. Die mon­ar­chi­schen Re­gime in Deutsch­land, Ös­ter­reich und Russ­land wur­den ge­stürzt und durch de­mo­kra­ti­sche Re­gie­run­gen er­setzt. Auch die neuen Staa­ten, die in Ost­mit­tel­eu­ro­pa ent­stan­den, kon­sti­tu­ier­ten sich als Re­pu­bli­ken oder als par­la­men­ta­ri­sche Mon­ar­chi­en.

→[Karte: „Po­li­ti­sche Sys­te­me in Eu­ro­pa nach dem Ende des Ers­ten Welt­kriegs 1919“]

gelb: De­mo­kra­ti­en, grau: Dik­ta­tu­ren und au­to­ri­tä­re Sys­te­me

Bis zum Be­ginn des Zwei­ten Welt­kriegs ge­riet die De­mo­kra­tie in Eu­ro­pa zu­neh­mend in eine Krise. Ein Land nach dem an­de­ren schaff­te die De­mo­kra­tie wie­der ab und er­setz­te sie durch ein dik­ta­to­ri­sches oder zu­min­dest au­to­ri­tä­res Sys­tem.

→[Karte: „Po­li­ti­sche Sys­te­me in Eu­ro­pa am Vor­abend des Zwei­ten Welt­kriegs 1939“]

Ein Blick auf die Land­kar­te Eu­ro­pas 1939 zeigt, dass nur noch we­ni­ge Län­der de­mo­kra­tisch ver­fasst sind. In Mit­tel- und Ost­eu­ro­pa sind nur noch die Tsche­cho­slo­wa­kei und Un­garn als De­mo­kra­ti­en ein­ge­zeich­net – und ei­gent­lich stimmt das gar nicht: Un­garn ist zwar for­mal eine De­mo­kra­tie, hat de facto aber seit 1919 ein au­to­ri­tä­res Re­gime, und die Tsche­cho­slo­wa­kei exis­tiert am Vor­abend des Zwei­ten Welt­kriegs nicht mehr. Schon vor der Be­set­zung durch Hit­ler im März 1939 hat sich der tsche­chi­sche Lan­des­teil als Re­ak­ti­on auf den Ver­lust der su­de­ten­deut­schen Ge­bie­te im Münch­ner Ab­kom­men in au­to­ri­tä­re Rich­tung um­ge­wan­delt. In der Slo­wa­kei, die sich als ei­ge­ner Staat ab­spal­tet, wird eben­falls ein au­to­ri­tä­res Re­gime er­rich­tet. – Damit ist 1939 der ge­sam­te mit­tel- und ost­eu­ro­päi­sche Raum dik­ta­to­risch oder au­to­ri­tär ge­prägt.

Die­ser Be­fund wirft die Frage nach dem Warum auf. Warum setz­te sich in gro­ßen Tei­len Eu­ro­pas die Dik­ta­tur gegen die De­mo­kra­tie durch, ob­wohl an­fangs über­all die Wei­chen in Rich­tung auf De­mo­kra­tie ge­stellt wor­den waren? Hier gibt es of­fen­sicht­lich einen län­der­über­grei­fen­den Trend in Eu­ro­pa, der ganz un­ter­schied­li­che Län­der er­fasst – eine um­fas­sen­de Krise der De­mo­kra­tie.

Dik­ta­tur als Ant­wort auf Kri­sen­er­schei­nun­gen

Die Ur­sa­chen für die Krise der De­mo­kra­tie und den Auf­stieg der Dik­ta­tu­ren las­sen sich auf ver­schie­de­nen Deu­tungs­ebe­nen su­chen.

Wir müs­sen hier erst ein­mal un­se­re ei­ge­nen Wer­tun­gen außen vor las­sen: Heute hal­ten wir die De­mo­kra­tie hoch und äch­ten dik­ta­to­ri­sche Re­gime. Für die Zeit­ge­nos­sen der zwan­zi­ger und drei­ßi­ger Jahre war diese Wer­tung nicht so klar. Vie­len er­schien die De­mo­kra­tie als etwas Kri­sen­an­fäl­li­ges, ein über­hol­tes Kon­zept, das nicht ge­eig­net war, die Pro­ble­me der Ge­gen­wart ad­äquat zu lösen. Die Dik­ta­tur hin­ge­gen ver­kör­per­te etwas Zeit­ge­mä­ßes, von dem man sich die Lö­sung der an­ste­hen­den Pro­ble­me er­hoff­te.

Eines der Pro­ble­me, die in vie­len Län­dern an­stan­den, war die Kluft zwi­schen der Rea­li­tät und der Ide­al­vor­stel­lung des Na­tio­nal­staats als eines durch ge­mein­sa­me Spra­che, Her­kunft, Kul­tur und Wert­ord­nung so­li­da­risch ver­bun­de­nen Gan­zen. Die nach dem Ers­ten Welt­krieg neu ge­schaf­fe­nen Staa­ten Ost­mit­tel­eu­ro­pas er­ho­ben zwar den An­spruch, Na­tio­nal­staa­ten zu sein, aber wie waren ent­we­der mit ihren Gren­zen un­zu­frie­den, weil ein Teil der ei­ge­nen Na­ti­on au­ßer­halb der­sel­ben lebte – ein Bei­spiel wäre Un­garn –, oder sie be­stan­den um­ge­kehrt aus sehr he­te­ro­ge­nen Tei­len, unter Ein­schluss gro­ßer an­ders­na­tio­na­ler Be­völ­ke­rungs­grup­pen – Bei­spie­le wären Polen oder die Tsche­cho­slo­wa­kei.

Ex­kurs: Die Neu­ord­nung Ost­mit­tel­eu­ro­pas nach dem Ers­ten Welt­krieg

→[Land­kar­te Spra­chen in Mit­tel­eu­ro­pa 1910]

Zieht man eine halb­wegs neu­tra­le eth­no­gra­phi­sche Karte zu Rate, dann wird schnell klar, dass eine Neu­ord­nung Ost­mit­tel­eu­ro­pas auf der Grund­la­ge des Na­tio­na­li­tä­ten­prin­zips eine ex­trem schwie­ri­ge Auf­ga­be dar­stell­te, weil es im öst­li­chen Eu­ro­pa gar nicht mög­lich war, zwi­schen den Sied­lungs­ge­bie­ten der ver­schie­de­nen Na­tio­na­li­tä­ten klare Gren­zen zu zie­hen.

Die krieg­füh­ren­den Mäch­te hat­ten aus guten Grün­den bis 1917 nicht mit der For­mel vom Selbst­be­stim­mungs­recht der Völ­ker ope­riert, denn damit hät­ten sie ihre ei­ge­nen Kriegs­zie­le und Ter­ri­to­ri­al­be­stän­de ge­fähr­det. Im Herbst 1917 ge­rie­ten sie aber unter Zug­zwang, weil sich die Bol­sche­wi­ki das Selbst­be­stim­mungs­recht auf die Fah­nen schrie­ben und ver­such­ten, damit die Welt­re­vo­lu­ti­on an­zu­fa­chen. Lenin ver­kün­de­te nach der Ok­to­ber­re­vo­lu­ti­on das Selbst­be­stim­mungs­recht für alle Völ­ker Russ­lands, ein­schließ­lich der Her­aus­lö­sung aus dem rus­si­schen Staats­ver­band. In einem zwei­ten De­kret for­der­te die So­wjet­re­gie­rung einen „Frie­den ohne An­ne­xio­nen und Kont­ri­bu­tio­nen“.

Der ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent Wil­son griff im De­zem­ber 1917 die rus­si­schen Vor­schlä­ge für einen Frie­den ohne An­ne­xio­nen auf, hielt sich aber be­züg­lich des Selbst­be­stim­mungs­rechts be­deckt, weil ihm die Ge­fah­ren für die ei­ge­nen Ver­bün­de­ten be­wusst waren. Wil­sons be­rühm­te „Vier­zehn Punk­te“ vom 8. Ja­nu­ar 1918 kön­nen als Ant­wort auf die Pro­kla­ma­tio­nen der Bol­sche­wi­ki ver­stan­den wer­den. Wil­son wen­de­te darin das Na­tio­na­li­tä­ten­prin­zip auf kon­kre­te Bei­spie­le an – näm­lich zu­guns­ten der Polen und der Na­tio­na­li­tä­ten der Habs­bur­ger­mon­ar­chie, ver­mied aber die uni­ver­sa­le Fest­le­gung auf das Selbst­be­stim­mungs­recht der Völ­ker. Ent­ge­gen weit­läu­fi­ger An­nah­men ist das Selbst­be­stim­mungs­recht in den 14 Punk­ten ganz be­wusst nicht ent­hal­ten.

Eine Neu­ord­nung Eu­ro­pas unter kon­se­quen­ter An­wen­dung des Na­tio­na­li­tä­ten­prin­zips ver­bot sich aus drei Grün­den: Sie war an­ge­sichts der eth­ni­schen Ge­men­ge­la­ge im öst­li­chen Eu­ro­pa ohne Um­sied­lun­gen gar nicht durch­führ­bar. Sie hätte den Kriegs­ver­lie­rer Deutsch­land un­term Strich ge­stärkt, und sie hätte die Ko­lo­ni­al­rei­che Frank­reichs und Eng­lands in Frage ge­stellt. Also wen­de­te man das Prin­zip se­lek­tiv, aber durch­aus nicht völ­lig will­kür­lich an. Es wurde kom­bi­niert mit dem Prin­zip der his­to­ri­schen Gren­zen und mit öko­no­mi­schen und mi­li­tär­stra­te­gi­schen Über­le­gun­gen.

→[Karte Eu­ro­pa nach den Frie­dens­ver­trä­gen] Für das Ge­samt­kon­zept einer Ein­däm­mung Deutsch­lands und So­wjet­russ­lands war es wich­tig, ein star­kes Polen und eine star­ke Tsche­cho­slo­wa­kei als Ver­bün­de­te Frank­reichs zu schaf­fen. Daher kamen die Sie­ger­mäch­te die­sen bei­den Län­dern grund­sätz­lich deren ter­ri­to­ria­len Wün­schen ent­ge­gen – mit dem Er­geb­nis, dass sie große an­ders­na­tio­na­le Be­völ­ke­rungs­tei­le um­fass­ten. Un­garn wie­der­um wurde als Ver­lie­rer­staat be­han­delt und auf Kos­ten der Nach­bar­län­der am­pu­tiert – zum Teil durch­aus unter Miss­ach­tung der eth­no­gra­phi­schen Ver­hält­nis­se.

Dik­ta­tur als Ant­wort auf Kri­sen­er­schei­nun­gen – Fort­set­zung

Das Aus­ein­an­der­fal­len von na­tio­nal­staat­li­chem An­spruch und mul­ti­eth­ni­scher Rea­li­tät war keine gute Vor­aus­set­zung für die Ent­wick­lung de­mo­kra­ti­scher Ord­nun­gen, denn eine sol­che be­nö­tigt den ge­mein­sa­men Nen­ner einer So­li­dar- und Wer­te­ge­mein­schaft. We­sent­li­che Pro­gramm­punk­te der in wei­te­rer Folge eta­blier­ten au­to­ri­tä­ren Re­gime waren fol­ge­rich­tig die Über­brü­ckung der hef­ti­gen in­nen­po­li­ti­schen Kon­flik­te und so­zia­len Ver­tei­lungs­kämp­fe, aber eben auch die Schaf­fung einer eth­nisch, kul­tu­rell, so­zi­al und po­li­tisch ho­mo­ge­nen Ge­sell­schaft im Sinne der Na­ti­ons­bil­dung.

Ein wei­te­res Pro­blem der neuen De­mo­kra­ti­en war so­zi­al­psy­cho­lo­gi­scher Natur: Die eu­ro­päi­schen Ge­sell­schaf­ten hat­ten den Ers­ten Welt­krieg hin­ter sich. In allen Län­dern gab es Hun­dert­tau­sen­de bis Mil­lio­nen ehe­ma­li­ger Sol­da­ten, die ihre Kriegs­t­rau­ma­ta ver­ar­bei­te­ten und Schwie­rig­kei­ten hat­ten, wie­der in einen zi­vi­len All­tag zu­rück­zu­fin­den. Der Zu­sam­men­bruch der alten Ord­nung, ver­bun­den mit wirt­schaft­li­chen und so­zia­len Pro­ble­men, führ­te bei vie­len Men­schen zu einem Be­dürf­nis nach kla­ren Ori­en­tie­run­gen, nach einer Füh­rer­per­sön­lich­keit oder nach einer Ideo­lo­gie, die ihnen sagte, wo oben und unten ist, was rich­tig und was falsch ist, die ihnen ein bes­se­res Leben in der Zu­kunft ver­sprach und die das ge­sam­te Volk als Ge­mein­schaft hin­ter sich ver­sam­mel­te. Die De­mo­kra­tie konn­te das nicht leis­ten, sie er­schien in der Wahr­neh­mung die­ser Men­schen viel­mehr als ein Ort des end­lo­sen Streits, der Un­ei­nig­keit, der Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit, der Hilf­lo­sig­keit ge­gen­über gra­vie­ren­den Pro­ble­men.

Das Be­dürf­nis nach Ori­en­tie­rung und nach einem fes­ten Ord­nungs­sys­tem kann man auf die Er­fah­run­gen des Ers­ten Welt­kriegs und sei­ner un­mit­tel­ba­ren Fol­gen be­zie­hen – das führt zur In­ter­pre­ta­ti­ons­fi­gur vom Ers­ten Welt­krieg als der „Ur­ka­ta­stro­phe“ des 20. Jahr­hun­derts. Das Be­dürf­nis nach Ori­en­tie­rung und nach einem fes­ten Ord­nungs­sys­tem lässt sich aber auch auf die Um­wäl­zun­gen der eu­ro­päi­schen Ge­sell­schaf­ten durch die mo­der­ne In­dus­trie­ge­sell­schaft seit dem aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­dert be­zie­hen. Das führt uns zu einem an­de­ren In­ter­pre­ta­ti­ons­mus­ter: dem der Hoch­mo­der­ne.

Vor dem Hin­ter­grund die­ser von vie­len Zeit­ge­nos­sen als Krise der über­kom­me­nen Kul­tur be­grif­fe­nen Ver­än­de­run­gen for­mier­ten sich Al­ter­na­tiv­ent­wür­fe, näm­lich die Vi­si­on von der kom­mu­nis­ti­schen Ge­sell­schaft und die Vi­si­on von einer na­tio­na­len Volks­ge­mein­schaft, an deren Spit­ze die In­te­gra­ti­ons­fi­gur eines Füh­rers steht.

Die Dik­ta­tu­ren des 20. Jahr­hun­derts wer­den in die­sem Kon­text als Ver­such ver­stan­den, die durch die Mo­der­ne ent­ste­hen­den Pro­ble­me und Wi­der­sprü­che zu be­wäl­ti­gen. Öko­no­mi­sche und so­zia­le Pro­ble­me der zwan­zi­ger Jahre, wie In­fla­ti­on, Armut, Ar­beits­lo­sig­keit und schließ­lich vor allem die Welt­wirt­schafts­kri­se be­stär­ken so­wohl die Lin­ken wie die Rech­ten in ihrer Kri­sen­wahr­neh­mung. Man hat zwar völ­lig un­ter­schied­li­che Ant­wor­ten auf die Pro­ble­me, aber man trifft sich in der Ein­schät­zung, dass die ka­pi­ta­lis­tisch-de­mo­kra­ti­sche Ord­nung im Nie­der­gang be­grif­fen sei.

Fall­bei­spiel Polen

Das In­ter­pre­ta­ment der Hoch­mo­der­ne lässt sich gut auf Deutsch­land an­wen­den, wo sich die mo­der­ne In­dus­trie­ge­sell­schaft schon um die Jahr­hun­dert­wen­de eta­bliert hatte. In Bezug auf die ost­mit­tel­eu­ro­päi­schen Län­der, die über­wie­gend agra­risch ge­prägt waren, wird man für die Krise der De­mo­kra­tie eher die an­de­ren Fak­to­ren stär­ker ge­wich­ten. Am Bei­spiel von Polen möch­te ich das er­läu­tern.

Polen hatte das Pro­blem, dass die drei Tei­lungs­ge­bie­te, aus denen es sich zu­sam­men­setz­te, auf­grund der mehr als hun­dert­jäh­ri­gen Zu­ge­hö­rig­keit zu Russ­land, Preu­ßen und Ös­ter­reich ex­trem un­ter­schied­lich struk­tu­riert waren, un­ter­schied­li­che Rechts­sys­te­me hat­ten und sich auf un­ter­schied­li­chen Ent­wick­lungs­sta­di­en be­fan­den.

→[Karte Polen im 20. Jahr­hun­dert]

→[Karte Ei­sen­bah­nen 1914]

In den Ost­ge­bie­ten be­stand die Hälf­te der Be­völ­ke­rung aus An­alpha­be­ten, in Ober­schle­si­en waren es nur 1,5 Pro­zent. Die Er­trä­ge der Land­wirt­schaft waren im Wes­ten dop­pelt so hoch wie im Osten. Nur im vor­mals ös­ter­rei­chi­schen Ga­li­zi­en hatte es vor 1918 pol­ni­sche Be­am­te und Leh­rer ge­ge­ben. Dar­aus re­sul­tier­te nach 1918 ein Trans­fer die­ses Fach­per­so­nals in die an­de­ren Lan­des­tei­le, wo sie als Fremd­lin­ge an­ge­fein­det wur­den. In Posen und West­preu­ßen wie­der­um, wo man vor 1918 zwar na­tio­nal un­ter­drückt ge­we­sen war, aber im Ver­gleich zu den an­de­ren Tei­lungs­ge­bie­ten einen deut­lich hö­he­ren Le­bens­stan­dard ge­nos­sen hatte, emp­fan­den viele Polen die Ver­hält­nis­se im neuen ge­mein­sa­men Staat als Ab­stieg auf das nied­ri­ge­re Ni­veau der „Rus­sen“, wie man die Leute aus dem ehe­ma­li­gen rus­si­schen Tei­lungs­ge­biet häu­fig be­zeich­ne­te.

→[Karte Po­land lin­gu­is­tic 1937]

In de­mo­gra­phi­scher Hin­sicht waren die Ver­hält­nis­se eben­falls schwie­rig: Die Polen be­an­spruch­ten zwar, Staats­na­ti­on zu sein, aber jeder drit­te Staats­bür­ger war kein Pole: Es gab 3,7 Mio. Ukrai­ner, 2,7 Mio. Juden, 2 Mio. Weiß­rus­sen und 2 Mio. Deut­sche. Die Hälf­te der Deut­schen wan­der­te bis 1923 auf­grund der Dis­kri­mi­nie­run­gen nach Deutsch­land aus. Die ver­blie­be­ne Mil­li­on be­trach­te­te den pol­ni­schen Staat als Pro­vi­so­ri­um und iden­ti­fi­zier­te sich nicht mit ihm.

Um­ge­kehrt fühl­te sich der pol­ni­sche Staat be­droht von den „ver­rä­te­ri­schen“ Deut­schen und den „il­loya­len“ Ukrai­nern, aber auch von den Juden, die mit dem Bol­sche­wis­mus in Ver­bin­dung ge­bracht wur­den. Der pol­ni­sche Staat un­ter­nahm in den ers­ten Jah­ren wenig, um die nicht­pol­ni­sche Be­völ­ke­rung in eine ge­mein­sa­me Staats­na­ti­on zu in­te­grie­ren, son­dern prak­ti­zier­te viel­mehr das, was die Polen sei­tens der preu­ßi­schen Ger­ma­ni­sie­rungs­po­li­tik er­fah­ren hat­ten, nur eben jetzt in um­ge­kehr­ter Rich­tung.  Nicht nur von den Deut­schen, son­dern auch von den Ukrai­nern, Weiß­rus­sen und Juden wurde der pol­ni­sche Staat als re­pres­siv wahr­ge­nom­men. Ins­be­son­de­re das Ver­hält­nis zwi­schen Ukrai­nern und Polen war in hohem Maße von Ge­walt ge­kenn­zeich­net.

Für die Krise der De­mo­kra­tie waren aber gar nicht so sehr die Na­tio­na­li­tä­ten­pro­ble­me, son­dern die öko­no­mi­schen, so­zia­len und in­nen­po­li­ti­schen Pro­ble­me ent­schei­dend. Polen war ins­ge­samt noch über­wie­gend agra­risch ge­prägt. Nur vier Pro­zent der Be­völ­ke­rung ar­bei­te­ten in der In­dus­trie. Die Land­wirt­schaft wie­der­um wurde von un­ren­ta­blen Kleinst­be­trie­ben do­mi­niert. Eine Bo­den­re­form war aber in­nen­po­li­tisch heiß um­strit­ten, wie über­haupt zwi­schen der Lin­ken und der Rech­ten ein tie­fer Gra­ben be­stand. Die Linke ver­kör­per­te der Staats­grün­der Piłsud­ski, die Rech­te sein na­tio­nal­de­mo­kra­ti­scher Ge­gen­spie­ler Dmow­ski. 1923 wurde Piłsud­ski, bis dahin Chef des Ge­ne­ral­stabs und Vor­sit­zen­der des Kriegs­ra­tes, von einer Mitte-Rechts-Re­gie­rung ent­mach­tet. Als Pri­vat­mann nutz­te er seine große Au­to­ri­tät in der Be­völ­ke­rung, um gegen die Na­tio­nal­de­mo­kra­ten und über­haupt gegen das ge­sam­te „se­j­mo­kra­ti­sche Sys­tem“, wie er es nann­te, zu wet­tern, das er als Ver­kör­pe­rung von Kor­rup­ti­on, Un­fä­hig­keit, Zer­strit­ten­heit und In­ef­fi­zi­enz brand­mark­te.

Die po­li­ti­sche Zer­ris­sen­heit des Lan­des spie­gel­te sich in 18 Par­tei­en, die bei den Wah­len kon­kur­rier­ten, und 31 Ka­bi­net­ten, die zwi­schen 1918 und 1939 im Amt waren. 1923 wurde das Land von einer Hy­per­in­fla­ti­on ge­trof­fen, die Staats­fi­nan­zen waren de­so­lat und die Ge­werk­schaf­ten kün­dig­ten einen Ge­ne­ral­streik an. Die Re­gie­rung ver­häng­te den Aus­nah­me­zu­stand, es kam zu blu­ti­gen Zu­sam­men­stö­ßen zwi­schen strei­ken­den Ar­bei­tern, Po­li­zei und Mi­li­tär.

Eine neue Re­gie­rung unter Grab­ski muss­te als ers­tes die Fi­nan­zen sa­nie­ren. Damit die dazu nö­ti­gen ein­schnei­den­den Maß­nah­men rea­li­siert wer­den konn­ten, ver­zich­te­te das Par­la­ment für ein hal­bes Jahr auf seine fi­nanz­po­li­ti­schen Kom­pe­ten­zen. Die Spar­po­li­tik wurde von den Ar­bei­tern mit wei­te­ren Streiks quit­tiert. Im Er­geb­nis konn­te Grab­ski zwar die Wäh­rung sta­bi­li­sie­ren und sogar eine Bo­den­re­form in Kraft set­zen, aber er ern­te­te dafür kei­nen Dank, son­dern wurde Opfer einer bei­spiel­lo­sen Hass­kam­pa­gne: Die Lin­ken be­schimpf­ten ihn als Blut­sau­ger und Aus­beu­ter der Ar­bei­ter, die Rech­ten dif­fa­mier­ten ihn als ver­kapp­ten So­zia­lis­ten und war­fen ihm dar­über hin­aus eine zu wei­che Po­li­tik ge­gen­über den nicht­pol­ni­schen Be­völ­ke­rungs­tei­len vor.

Hin­ter die­sem feind­li­chen Um­gang mit der Re­gie­rung steck­te ein grund­sätz­li­ches Pro­blem: Die Polen hat­ten im 19. Jahr­hun­dert, als sie kei­nen ei­ge­nen Staat hat­ten, in Aus­ein­an­der­set­zung mit den als Fremd­herr­schaft emp­fun­de­nen Tei­lungs­mäch­ten eine ne­ga­ti­ve Grund­ein­stel­lung zum Staat an­ge­nom­men. Ein staats­bür­ger­li­ches Pflicht­be­wusst­sein ge­gen­über einem ei­ge­nen Staat muss­te erst wie­der ge­lernt wer­den. 

Nach dem Rück­tritt der Re­gie­rung Grab­ski im No­vem­ber 1925 ver­schärf­ten sich aber­mals die wirt­schaft­li­chen Pro­ble­me, unter an­de­rem, weil Deutsch­land, das die Grenz­zie­hung von Ver­sailles nicht ak­zep­tier­te, einen Han­dels- und Zoll­krieg gegen Polen führ­te. Die Ar­beits­lo­sen­zah­len stie­gen, Re­gie­run­gen wech­sel­ten schnell nach­ein­an­der. Über­haupt bot Polen in­nen­po­li­tisch 1925 ein de­so­la­tes Bild: In den öst­li­chen Re­gio­nen des Lan­des herrsch­ten an­ar­chi­sche Zu­stän­de, in War­schau lie­fer­ten sich Kom­mu­nis­ten Feu­er­ge­fech­te mit der Po­li­zei. Zei­tung­le­ser muss­ten den Ein­druck ge­win­nen, der Staats­ap­pa­rat sei durch­drun­gen von Kor­rup­ti­on und das Par­la­ment un­fä­hig zu kon­struk­ti­ver Hand­lung und bloß ein Ort von In­tri­gen und Faul­heit. Über­all konn­te man lesen, dass eine „ei­ser­ne Hand“ nötig sei, die Polen aus dem Ab­grund her­aus­füh­re. „Ge­sun­dung“ des Staa­tes ( sa­na­c­ja ) war ein ver­brei­te­tes Schlag­wort. Das be­ste­hen­de Sys­tem wurde als „krank“ emp­fun­den.

In die­ser Si­tua­ti­on un­ter­nahm Piłsud­ski im Mai 1926 einen Staats­streich. Er mar­schier­te mit ei­ni­gen Re­gi­men­tern in War­schau ein. In blu­ti­gen Kämp­fen, die 400 Tote und 900 Ver­letz­te for­der­ten, zwang er die Re­gie­rung und den Staats­prä­si­den­ten zum Rück­tritt und eta­blier­te ein Sys­tem der ge­lenk­ten De­mo­kra­tie zum Zwe­cke der „Ge­sun­dung“ des Staa­tes.

Eu­ro­päi­sche Per­spek­ti­ve Fach­wis­sen­schaft:: Her­un­ter­la­den [docx][45 KB]

Wei­ter zu Schluss