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Er­zäh­len: Grund­sätz­li­che Über­le­gun­gen und kon­kre­te Tipps


Er­zäh­len im RU

1. Grund­le­gen­de Fest­stel­lun­gen und Vor­über­le­gun­gen 1

  • Der Mensch an sich: das „sto­ry­tel­ling ani­mal“ (Alas­dair Mac­In­ty­re)/ homo nar­rans
  • Er­zäh­len hat seine Be­deu­tung nicht nur in vor­li­te­ra­ri­scher Zeit (s. die My­then, Mär­chen, Epen des Al­ter­tums), son­dern ist ak­tu­ell bis heute („Nar­ra­ti­on der Post­mo­der­ne“ (S. 108): s. Vi­deo­kunst, In­ter­net, die große „Un­über­sicht­lich­keit“ der Er­zäh­lun­gen, Frag­ment als cha­rak­te­ris­ti­sche Er­zähl­form)
  • Be­deu­tung von Er­zäh­lun­gen: 1. für das „Ich“ (Her­stel­len von ei­ge­ner Le­bens­ge­schich­te); 2. für die klei­ne so­zia­le Ein­heit im Na­h­um­feld (Er­zäh­len nimmt 2/3 der Re­de­zeit in Fa­mi­li­en, unter Freun­den etc. ein); 3. für den ge­sell­schaft­li­chen Rah­men (Er­zeu­gung von Er­zähl­ge­mein­schaf­ten).
  • Die grund­le­gen­de Leis­tung von Ge­schich­ten: „Deu­tung und Sinn­stif­tung“ (S. 108).
    • Ge­schich­ten kön­nen/wol­len wei­ter-, nach- und wie­der­er­zählt wer­den.
    • Ge­schich­ten we­cken und be­frie­di­gen Neu­gier.
    • Mit Ge­schich­ten ist man nicht ein­fach fer­tig.
    • Ge­schich­ten schaf­fen Struk­tu­ren.
    • Ge­schich­ten neh­men eine Per­spek­ti­ve ein.
    • Ge­schich­ten er­zeu­gen Ge­gen­ge­schich­ten.
  • Kin­der (und nicht nur sie!) brau­chen Ge­schich­ten, die ihre Wahr­neh­mung und ihr Ver­ste­hen der Welt ord­nen, ohne etwas zu ver­ord­nen (vgl. S. 110). (Dies ist eine Ab­sa­ge an alles Di­dak­ti­sie­ren­de, Mo­ra­li­sie­ren­de des Nar­ra­ti­ven!)
  • Ge­schich­ten för­dern die „nar­ra­ti­ve Kom­pe­tenz“: Ge­schich­ten er­zäh­len kön­nen (pro­duk­tiv), Ge­schich­ten hören und ver­ste­hen kön­nen (re­zep­tiv), Ge­schich­ten als Ge­schich­ten be­grei­fen kön­nen (re­fle­xiv) (vgl. S.110).

2. Fach­spe­zi­fi­sche As­pek­te 2

  • Die Bibel ist ein „En­sem­ble von Nar­ra­ti­ven“ (S.112), der christ­li­che Glau­be hat eine nar­ra­ti­ve Grund­struk­tur (s. das Kir­chen­jahr), Ju­den­tum und Chris­ten­tum sind Er­zähl­ge­mein­schaf­ten.
  • Er­zäh­len ist eine klas­si­sche Me­tho­de im RU, „ein fun­da­men­ta­les Prin­zip des RU“ (S.116).
  • In der Re­li­gi­ons­di­dak­tik gibt es un­ter­schied­li­che An­sät­ze zum Er­zäh­len. Klas­si­ker sind z.B. Diet­rich Stein­we­de (→ Text­treue), Wal­ter Neid­hart (→ Phan­ta­sie­ar­beit), Hu­ber­tus Halb­fas (→ „Ma­gis­ter nar­rans“).
  • Bi­bli­sche Ge­schich­ten sind nicht ein­fach nur Ge­schich­ten, die un­be­dacht er­zählt wer­den kön­nen:
    • Die Er­zäh­le­rIn­nen (Leh­re­rIn­nen) sol­len sich be­wusst sein, dass sie beim Er­zäh­len bi­bli­scher Ge­schich­ten stets ihr ei­ge­nes Glau­bens­ver­ständ­nis, ihre sub­jek­ti­ven Er­fah­run­gen und Deu­tun­gen mit­trans­por­tie­ren.
    • Bi­bel­ge­schich­ten sind Men­schen­ge­schich­ten. Bi­bel­ge­schich­ten sind Ge­schich­ten mit Gott. Bi­bel­ge­schich­ten kön­nen hel­fen, Gott im Leben zu ent­de­cken. Kurz: Bi­bli­sche Ge­schich­ten sind Ge­schich­ten aus dem Leben für das Leben.
    • Eine Leit­fra­ge: Wie kann es ge­lin­gen, die Zu­hö­ren­den mit nicht allzu glat­ten und allzu „fer­ti­gen“ Ge­schich­ten zum Nach- und Wei­ter­den­ken an­zu­re­gen?
    • Wenn man von Gott er­zählt, was er getan, ge­dacht, ge­sagt oder ge­fühlt hat, tut man so, als hätte man ihn selbst ge­hört, ge­se­hen oder be­ob­ach­tet. M. Stein­küh­ler schlägt vor, ehr­lich zu sein und davon zu er­zäh­len, was Men­schen von Gott dach­ten und wie sie ihm be­geg­ne­te. 3

3. Ei­ni­ge Hin­wei­se zum Er­zäh­len im RU

  • Die Lehr­kraft soll­te schon in der Ein­lei­tung zu einer bi­bli­schen Ge­schich­te deut­lich ma­chen, dass sie ihre Va­ri­an­te der Be­ge­ben­hei­ten und Er­fah­run­gen an­de­rer Men­schen er­zählt. Die re­flek­tiert sub­jek­ti­ve Dar­stel­lung kann man un­ter­strei­chen durch Be­gleit­sät­ze wie „Man sagt“, „Es heißt“, „Ich stel­le mir vor“, „Ich glau­be“.
  • Die Frage, wo Gott in der Ge­schich­te zu fin­den ist, soll­te nicht zu schnell und ein­fach be­ant­wor­tet wer­den. Ein be­wuss­tes, be­hut­sa­mes „Auf-de­cken“ för­dert ein Ent-de­cken der Zu­hö­re­rIn­nen. Sie be­geg­nen den bi­bli­schen Er­zäh­lern mit deren Er­fah­run­gen, gleich­zei­tig aber auch den Er­fah­run­gen ihrer Lehr­kraft, und kön­nen schließ­lich selbst ihre ei­ge­nen hin­zu­fü­gen.
  • Er­zäh­lun­gen von bi­bli­sche Ge­schich­ten sind nicht nur Nach­er­zäh­lun­gen mit Be­richt­cha­rak­ter, son­dern haben ein “Mehr“, das mit dem „Gott-in-der-Ge­schich­te“ zu tun hat. Es ist dort zu fin­den, wo etwas Un­er­war­te­tes, Ge­heim­nis­vol­les oder Un­vor­stell­ba­res ge­schieht. Mar­ti­na Stein­küh­ler schlägt vor, wenn der Mo­ment des „Wun­derns“ kommt (oft in der Ge­schich­te di­rekt for­mu­liert: „und die Men­schen wun­der­ten sich“), in­ne­zu­hal­ten und bei den zu­hö­ren­den Schü­le­rin­nen und Schü­lern nach­zu­fra­gen: „Die Men­schen da­mals wun­der­ten sich. - Wun­dert ihr euch auch?“ 4
  • Eine re­li­gi­ons­päd­ago­gisch re­flek­tiert ge­stal­te­te Er­zäh­lung wird Ein­blick in das äu­ße­re und in­ne­re Er­le­ben der han­deln­den Per­so­nen geben und mit Hin­blick auf den Ak­zent, den sie legen möch­te, an­schau­lich und le­ben­dig sein. Die Mög­lich­keit des Mit­füh­lens gibt den Zu­hö­re­rIn­nen die Mög­lich­keit, Iden­ti­fi­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten in der Ge­schich­te zu ent­de­cken, sich auf eine Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Ge­hör­ten ein­zu­las­sen und über ei­ge­ne Er­fah­run­gen nach­zu­den­ken. Sie regt die Ge­dan­ken- und Ge­fühls­welt der Zu­hö­re­rIn­nen an. Eine so ge­stal­te­te Er­zäh­lung braucht im An­schluss die of­fe­ne Ge­sprächs­run­de, dass die Zu­hö­re­rIn­nen ihre Ge­dan­ken, Deu­tun­gen und Fra­gen for­mu­lie­ren kön­nen.
  • Die Lehr­kraft soll­te beim Er­zäh­len nicht schon ex­pli­ziert deu­ten.
  • Sie soll­te keine ab­schlie­ßen­de Moral for­mu­lie­ren.
  • Er­zäh­len­des Vor­le­sen oder frei­es Er­zäh­len sind nicht nur für die Leh­re­rIn­nen an­spruchs­voll, son­dern auch für die Schü­le­rIn­nen. Ihnen fällt es oft schwer, al­lein einem akus­ti­schen Reiz zu fol­gen. Hilf­reich dafür, die Kon­zen­tra­ti­on und Auf­merk­sam­keit der Zu­hö­ren­den zu stei­gern, kann eine fo­kus­sie­ren­de So­zi­al­form (z.B. Stuhl­kreis), Stimm­mo­du­la­ti­on und der Ein­satz von Ma­te­ri­al oder Bil­dern sein (be­glei­te­tes Er­zäh­len).
  • Eine be­son­ders an­spruchs­vol­le Form des Er­zäh­lens ist das „er­leb­te Er­zäh­len“: Die Schü­le­rIn­nen wer­den aktiv in die Er­zäh­lung mit ein­be­zo­gen, sie neh­men selbst un­ter­schied­li­che Rol­len ein (z.B. Volk oder auch eine ein­zel­ne Per­son) und wech­seln ggf. auch den Ort des Ge­sche­hens. Die ge­sam­te Grup­pe zieht ge­mein­sam von Ort zu Ort und er­lebt so die Er­zäh­lung mit. Wer­den ein­zel­ne Sze­nen oder Dia­lo­ge von den Schü­le­rIn­nen spon­tan über­nom­men, er­for­dert das von der Lehr­kraft eine be­son­ders große Er­zähl­kom­pe­tenz, weil sie eben­so spon­tan die Ge­dan­ken der Mit­spie­le­rIn­nen auf­neh­men und in die wei­te­re Er­zäh­lung in­te­grie­ren muss.

4. Ab­schlie­ßen­de Be­mer­kung

Beim Er­zäh­len im RU geht es nicht ein­fach um die Wie­der­ga­be einer Ge­schich­te, einer Be­geg­nung oder eines Sach­ver­hal­tes, son­dern das Er­zäh­len ist ein in­ter­ak­ti­ver Pro­zess zwi­schen Lehr­kraft, Schü­le­rIn­nen und dem Er­zähl­in­halt.

Zu Un­recht wird diese Me­tho­de im Gym­na­si­um oft ver­nach­läs­sigt. Die mit ihr ver­bun­de­nen Kom­pe­ten­zen (s.o.) ma­chen das Er­zäh­len auch für Kin­der und Ju­gend­li­che nach der Grund­schul­zeit wert­voll. Die Schü­le­rIn­nen in die Sprach­fä­hig­keit ein­zu­üben, wel­cher sie mit fort­schrei­ten­der Dauer des RU immer mehr be­dür­fen (s. z.B. die An­for­de­run­gen des Fa­ches in der Ober­stu­fe) und die sie weit über die Schul­zeit hin­aus in der Be­schäf­ti­gung, Aus­ein­an­der­set­zung, Aus­übung mit/von Re­li­gi­on brau­chen, dazu kann das Er­zäh­len vor allem in der Un­ter­stu­fe einen lust­vol­len, grund­le­gen­den Bei­trag leis­ten.                               


Ent­wick­lungs­stand der SuS

Er­zäh­len: Grund­sätz­li­che Über­le­gun­gen und kon­kre­te Tipps:
Her­un­ter­la­den [docx] [21 KB]

Er­zäh­len: Grund­sätz­li­che Über­le­gun­gen und kon­kre­te Tipps:
Her­un­ter­la­den [pdf] [375 KB]


1   Vgl. G. Bütt­ner, V. Die­te­rich, H. Roose, Ein­füh­rung in die Re­li­gi­ons­päd­ago­gik. Eine kom­pe­tenz­ori­en­tier­te Di­dak­tik, Stutt­gart (Cal­wer) 2015, S. 106-111. up
2   Vgl. a.a.O., S.111-116. up
3   Vgl. M. Stein­küh­ler, Bi­bel­ge­schich­ten sind Le­bens­ge­schich­ten. Er­zäh­len in Fa­mi­lie, Ge­mein­de und Schu­le, Göt­tin­gen (Van­den­hoeck & Ru­precht) 2011. up
4   Vgl. a.a.O. S. 29ff. up