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Vor­schlag zur Leis­tungs­mes­sung

In­fo­box

Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

Auf­ga­ben:

  1. Ar­bei­ten Sie aus M1 her­aus, wel­ches Jahr Seibt als ent­schei­den­den Wen­de­punkt des 20. Jahr­hun­derts an­sieht und womit er das be­grün­det.
  2. Er­ör­tern Sie, ob und aus wel­chen Grün­den man zu al­ter­na­ti­ven Pe­ri­odi­sie­rungs­vor­schlä­gen kom­men könn­te.

M1 Das 20. Jahr­hun­dert

Das zwan­zigs­te Jahr­hun­dert endet in Eu­ro­pa in einem Furor des Ge­den­kens. Es dürf­te kaum ein Jahr­hun­dert ge­ge­ben haben, das an sei­nem Ende so wenig in die Zu­kunft ge­blickt und so viel zu­rück­ge­schaut hat. Viel­leicht liegt dies nicht so sehr daran, daß man nichts mehr er­war­tet, son­dern an der Emp­fin­dung, daß die vie­len ge­walt­sa­men Grenz­über­schrei­tun­gen, die das zwan­zigs­te Jahr­hun­dert ge­bracht hat, wis­sen­schaft­lich-tech­ni­sche, ethi­sche, po­li­ti­sche, öko­no­mi­sche Über­schrei­tun­gen des bis­her Ge­wohn­ten noch kaum be­grif­fen und ver­daut wor­den sind. Der Fort­schritt wird auch nach dem Jahr 2000 wei­ter­ge­hen; aber vor­her soll einen Mo­ment lang Luft ge­holt wer­den.

Im Jahre 1999 blickt man in Deutsch­land ins­be­son­de­re zu­rück auf die dop­pel­te Staats­grün­dung im Jahre 1949 und auf den Fall der Ber­li­ner Mauer vier­zig Jahre spä­ter. Beide Daten be­stim­men in un­ter­schied­li­cher Weise un­se­ren Blick auch auf den Rest des Jahr­hun­derts […]. Setzt man die ver­schie­de­nen Ge­denk­ter­mi­ne un­ter­ein­an­der in Be­zie­hung, dann ver­steht man wo­mög­lich bes­ser, wor­auf am Ende des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts über­haupt zu­rück­ge­blickt wird.

Die Grün­dungs­wel­le von 1949 ist eine Folge des Zwei­ten Welt­kriegs, des­sen Ende das Jahr­hun­dert in zwei Teile zer­legt. 1949 wur­den nicht nur zwei Staa­ten ge­bil­det, son­dern auch die bei­den gro­ßen Bünd­nis­se des Kal­ten Krie­ges ge­schmie­det, die Nato und der War­schau­er Pakt. Nach einer In­ku­ba­ti­ons­zeit von nur vier Jah­ren hatte sich die Mäch­te­kon­stel­la­ti­on von 1945, die von den bei­den Welt­mäch­ten USA und UdSSR be­herrscht wurde, zu einem die nörd­li­che He­mi­sphä­re um­span­nen­den Sys­tem ver­fes­tigt, das vier­zig Jahre dau­ern soll­te.

Seit 1989 spricht man vom "kur­zen zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert" (im Ge­gen­satz zum "lan­gen neun­zehn­ten Jahr­hun­dert", das von 1789 bis 1914 dau­er­te) und meint damit die Epo­che vom Ers­ten Welt­krieg be­zie­hungs­wei­se von der Rus­si­schen Re­vo­lu­ti­on bis zum Mau­er­fall. [… Doch] vor 1989 war je­den­falls im Wes­ten das ent­schei­den­de Epo­chen­da­tum nach 1914 das Ende des Zwei­ten Welt­kriegs. Mit Hit­lers Selbst­mord en­de­te die Ver­gan­gen­heit, die Ge­gen­wart be­gann mit der Atom­bom­be über Hi­ro­shi­ma.

Die Atom­bom­be war die grund­le­gen­de Be­din­gung für den jahr­zehn­te­lan­gen welt­po­li­ti­schen Still­stand seit den vier­zi­ger Jah­ren. Ein di­rek­ter He­ge­mo­ni­al­krieg zwi­schen den bei­den be­stim­men­den Welt­mäch­ten war nicht mehr führ­bar. So wurde Er­eig­nis­ge­schich­te ein­ge­fro­ren. Krie­ge und Re­vo­lu­tio­nen fan­den wei­ter­hin statt, doch vor­nehm­lich in der Drit­ten Welt, im Pro­zeß der Ent­ko­lo­nia­li­sie­rung und als Stell­ver­tre­ter­ak­tio­nen für die ver­mie­de­ne große Aus­ein­an­der­set­zung im Nor­den. 1945 be­ginnt in die­ser Sicht ein neue, nicht mehr eu­ro­päi­sche Ge­schich­te: Alles, was auf der Welt ge­schah, de­fi­nier­te sich in Re­la­ti­on zur ame­ri­ka­nisch-so­wje­ti­schen Kon­kur­renz. Schon der Be­griff der drit­ten Welt zeigt es an: Sie kam nach ers­ter und zwei­ter Welt, nach West­block und Ost­block.

Doch noch in an­de­rer Hin­sicht be­deu­tet das Jahr 1945 eine tief­grei­fen­de, heute viel­leicht un­ter­schätz­te Zäsur. Am Ende des Zwei­ten Welt­kriegs fie­len nicht nur die ers­ten Atom­bom­ben, son­dern es kam auch der Ho­lo­caust mit all sei­ner Schreck­lich­keit ans Licht der Welt­öf­fent­lich­keit. Die Schock­wel­len, die von die­ser äu­ßers­ten Grenz­über­schrei­tung aus­ge­hen, er­rei­chen uns un­ge­mil­dert bis heute. Dabei hat auch das Selbst­ver­ständ­nis der Mensch­heit, ihr Be­griff von sich selbst, ir­re­pa­ra­bel ge­lit­ten. Mit dem ta­ten­fro­hen Op­ti­mis­mus der ers­ten Jahr­hun­dert­hälf­te, vor allem aber mit jeg­li­chem zi­vi­li­sa­to­ri­schen Fort­schritts­glau­ben war es erst ein­mal vor­bei. Zu tief war die zeit­ge­nös­si­sche Zi­vi­li­sa­ti­on mit ihren hoch­aus­ge­bil­de­ten Men­schen und ihren ver­wi­ckel­ten Ap­pa­ra­tu­ren in die­ses größ­te aller Mensch­heits­ver­bre­chen ver­wi­ckelt.

Die drei Jahr­zehn­te nach dem Aus­bruch des Ers­ten Welt­kriegs waren dra­ma­tisch, re­vo­lu­tio­när, krie­ge­risch, er­eig­nis­ge­schicht­lich ge­we­sen. Die vier Jahr­zehn­te, die 1949 be­gan­nen, tru­gen in Eu­ro­pa einen ganz an­de­ren Cha­rak­ter: Sie er­schei­nen po­li­tisch im­mo­bil, dafür aber so­zi­al­ge­schicht­lich über­aus be­wegt. Unter der Angst­glo­cke der Atom­dro­hung im Kal­ten Krieg ent­wi­ckel­te sich ein neuer Mensch­heits­zu­stand, der sich in we­ni­gen Wor­ten kaum ra­di­kal genug cha­rak­te­ri­sie­ren läßt.

Die ver­schwen­de­risch kon­su­mie­ren­de Mas­sen­kul­tur hat auf allen Ge­bie­ten unser Leben um­ge­krem­pelt: die Um­gangs­for­men und Sit­ten, das Ver­hält­nis der Ge­schlech­ter, das Ver­hält­nis zur Um­welt, das Zeit- und Raum­ge­fühl. Heute ist, um nur einen Ge­sichts­punkt her­aus­zu­grei­fen, die Zeit alles und der Raum fast nichts. Stra­ßen, Autos und Flug­zeu­ge las­sen ihn eben­so ver­schwin­den wie Te­le­fon, Fern­se­hen und Com­pu­ter. Vie­les davon gab es schon in der ers­ten Jahr­hun­dert­hälf­te, aber die Re­vo­lu­tio­nie­rung der gan­zen Ge­sell­schaft durch Ver­kehr und Kom­mu­ni­ka­ti­on, durch Ver­brauch und Genuß fand erst seit 1950 statt.

Die Me­ta­mor­pho­se ist so ra­di­kal, daß man sie am ehes­ten noch mit öko­lo­gi­schen Be­grif­fen fas­sen kann, im völ­lig ver­än­der­ten Stoff­wech­sel des Le­be­we­sens Mensch mit der Natur. Der mo­der­ne Mensch ist das erste Le­be­we­sen, das dank über­le­ge­ner Tech­nik rück­halt­los ver­schwen­de­risch wirt­schaf­ten und hem­mungs­los ver­brau­chen kann. Alle un­se­re heu­ti­gen Frei­hei­ten, die re­du­zier­te Ar­beit, der enor­me Raum- und Flä­chen­ver­brauch, der Genuß von Frei­zeit und Kon­sum­gü­tern, das Rei­sen, die lange Ju­gend, das hohe Alter, auch die ge­wal­ti­ge Ver­meh­rung der Be­völ­ke­rung set­zen die­sen bei­spiel­los ge­stei­ger­ten Ver­brauch von Natur vor­aus. […]

Unter mehr als einem Ge­sichts­punkt bleibt also das Jahr 1945 die ent­schei­den­de Zäsur des Jahr­hun­derts. Ihr ge­gen­über ver­blaßt das Kon­zept eines "kur­zen zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts" zu einem ideo­lo­gi­schen Ober­flä­chen­trug, ge­bo­ren aus einer eher sym­bo­li­schen als ma­te­ri­el­len Evi­denz. 1989 be­deu­tet nicht nur den Ab­schluß der Ge­schich­te des Kom­mu­nis­mus, son­dern auch den Sieg jener Mas­sen­kon­sum­ge­sell­schaft, die sich im Wes­ten am stärks­ten ent­wi­ckelt hatte und nun an­schickt, den gan­zen Erd­ball zu er­obern, mit kaum ab­schätz­ba­ren Fol­ge­las­ten. […]

Gus­tav Seibt, in Ber­li­ner Zei­tung vom 27.1.1999

  Bi­lanz deut­scher Ge­schich­te bis 1945

 

Wen­de­punk­te des 20. Jahr­hun­derts: Her­un­ter­la­den [doc] [105 KB]