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Deut­sches Kai­ser­reich

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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

Text 1:
Hel­muth Pless­ner, Die ver­spä­te­te Na­ti­on (1934/35), Frank­furt 1974, S.46f.

„Die für Deutsch­lands Ent­wick­lung so frag­wür­di­ge Ob­rig­keits­fröm­mig­keit des ein­zel­nen und Staats­fremd­heit des Gan­zen hat in der po­li­ti­schen In­dif­fe­renz des Lu­ther­tums, in der Ver­bin­dung der lu­the­ri­schen Kir­che mit dem Lan­des­herrn (cuius regio eius re­li­gio), in der Blo­ckie­rung jedes na­tio­na­len Ge­dan­kens durch das ka­tho­li­sche und uni­ver­sal aus­ge­rich­te­te Kai­ser­tum, in­so­fern also auch sehr we­sent­lich in der Glau­bens­spal­tung, schließ­lich in der Ver­ar­mung von Stadt und Land ihren Ur­sprung.

Seit dem 17. Jahr­hun­dert be­ginnt Deutsch­land sich dem Wes­ten zu ent­frem­den. Es hat kaum An­teil an der Aus­bil­dung des neu­zeit­li­chen, auf das na­tür­li­che Recht des Men­schen ge­grün­de­ten Staats- und Völ­ker­rechts. Die Idee eines Staa­tes, der die Frei­heit der Bür­ger schützt und um des Schut­zes der Frei­heit wil­len Rechts­staat ist, hat wohl auch deut­sche Vor­kämp­fer, fin­det aber in Deutsch­land nur be­grenz­te Auf­nah­me. Preu­ßen ent­wi­ckelt eine staat­li­che Hal­tung und Ge­sin­nung, je­doch ge­bun­den an das Got­tes­gna­den­tum. Mi­li­tär und Be­am­ten­schaft geben dem Staat das Ge­prä­ge. Wo also sich in Deutsch­land zwi­schen einem im Grun­de guts­herr­schaft­li­chen Ab­hän­gig­keits­ver­hält­nis zum Lan­des­herrn und dem in die­ser Zeit schon durch diese Ab­hän­gig­keit sehr ge­lo­cker­ten Schutz­ver­hält­nis zum Kai­ser ein Ge­fühl für den Staat aus­bil­det, ver­stärkt er nur den Sinn für das For­ma­le wie Dis­zi­plin, Un­ter­ord­nung, Ge­hor­sam ohne zu fra­gen warum, für die Ap­pa­ra­tur der Ver­wal­tung, Or­ga­ni­sie­ren und Or­ga­ni­siert­wer­den. Der Ein­fluss des fran­zö­si­schen Kö­nig­tums er­streckt sich auf die Staats­spit­ze und die Struk­tur der Ver­wal­tung, Be­am­ten­tum und Heer. Das „Mo­der­ne“ Frank­reichs, seine Na­tio­na­l­idee da­ge­gen, kann nicht wir­ken. Was dort für die Na­ti­on eine kon­kre­te Be­deu­tung hat, die Be­deu­tung na­tio­na­ler Ein­heit, re­prä­sen­tiert im ab­so­lu­ten Kö­nig­tum, was dort Sinn­bild und Ge­währ für jene von Frank­reich früh­zei­tig fest­ge­hal­te­ne Ver­bin­dung von Ra­tio­na­li­tät und Hei­lig­keit war, ver­liert, auf die deut­schen Lan­des­herrn über­tra­gen, sei­nen in­halt­li­chen Sinn.

[…] Die ein­zi­ge Macht im Reich, die in den für die For­mung des mo­der­nen Be­wusst­seins ent­schei­den­den Jahr­hun­der­ten auf­steigt, Preu­ßen, bil­det sich zwar als Staat, aber nur in Form und Funk­ti­on, in den At­tri­bu­ten des po­li­ti­schen Le­bens, nicht in sei­ner Sub­stanz. Kon­fes­sio­nel­le Ge­gen­stel­lung zum Kai­ser, ter­ri­to­ria­le Be­grenzt­heit und Lan­des­her­ren­tum ver­hin­dern, dass der preu­ßi­sche Staat ei­ge­ne Staats­idee ent­wi­ckelt. Preu­ßen aber wird schließ­lich im Zuge der Na­tio­na­li­sie­rung „das Reich“, na­tio­nal ein Frag­ment, und so ent­steht im eu­ro­päi­schen Raum eine Groß­macht ohne Staats­idee.

[…] Das neue Reich ap­pel­lier­te nicht wie Frank­reich und Eng­land an die Phan­ta­sie der Völ­ker. An ihre Zu­kunfts­er­war­tung, ihren Mensch­heits­glau­ben. Es dien­te kei­nem wer­ben­den Ge­dan­ken. Es stand für nichts, von dem es über­ragt wurde. Deut­scher-Sein ent­hielt kein Be­kennt­nis wie Eng­län­der- oder Fran­zo­se-Sein; es be­sag­te kei­nen Dienst an über­na­tio­na­len Ideen, wie sie durch das christ­li­che Kö­nig­tum Frank­reichs, des­sen Hu­ma­nis­mus die große Re­vo­lu­ti­on spä­ter in ver­wan­del­ter Form über­nimmt, und seit den An­fän­gen des Pu­ri­ta­nis­mus die füh­ren­den Prin­zi­pi­en der west­li­chen Welt ge­wor­den waren.“

Text 2:
Hans-Ul­rich Weh­ler: Deut­sche Ge­sell­schafts­ge­schich­te Band 3: Von der Deut­schen Dop­pel­re­vo­lu­ti­on bis zum Be­ginn des Ers­ten Welt­kriegs 1849-1914, Mün­chen 1995, S. 482-484

„1. Die Grün­dung des Na­tio­nal­staats kam re­la­tiv spät und er­folg­te „von oben“. Wie ihre for­ma­ti­ve An­fangs­pha­se jeder In­sti­tu­ti­on ihren Stem­pel auf­drückt, wurde auch der deut­sche Neu­staat durch die vorne er­ör­ter­ten struk­tur­po­li­ti­schen Ent­schei­dun­gen im Sinne der von Bis­marck ver­foch­te­nen Po­li­tik auf lange Zeit ge­prägt.

2. Die „deut­sche“ Na­ti­on be­stand nicht als fest um­grenz­te Ein­heit, die nur auf der Suche nach ihrer staat­li­chen Hülle war. Viel­mehr setz­te erst 1871, wort­wört­lich ge­nom­men, die Na­ti­ons­bil­dung ein – und zwar im Zei­chen der zwi­schen 1866 und 1871 durch­ge­setz­ten in­ne­ren Macht­ver­tei­lung und herr­schaft­li­chen Struk­tur.

3. Tra­di­tio­nel­le Macht­fak­to­ren wur­den seit den 1860er Jah­ren enorm auf­ge­wer­tet. Das Mi­li­tär zehr­te seit­her von der Er­folgs­glo­rio­le, in kür­zes­ter Zeit hin­ter­ein­an­der die ent­schei­den­den Schlach­ten in drei Krie­gen ge­won­nen zu haben. Die­ser Tri­umph stei­ger­te sein An­se­hen in un­ge­ahn­te Höhe, und der seit­her vor­drin­gen­de so­zia­le Mi­li­ta­ris­mus war ein neu­ar­ti­ges Phä­no­men, das nicht auf die alt­preu­ßi­sche Mi­li­tär­ver­fas­sung di­rekt zu­rück­ge­führt wer­den kann. Der Adel er­leb­te im so­zia­len Macht­kampf eine zwei­te Stär­kung, nach­dem das Adels­sys­tem 1848 ge­fähr­det ge­we­sen war, aber trotz des Ver­lusts stän­di­scher Rech­te noch ein­mal über­lebt hatte. Erst diese neue Kraf­t­in­fu­si­on als Er­geb­nis der Bis­marck‘schen Po­li­tik ver­schaff­te ihm im Herr­schafts­sys­tem jene her­aus­ge­ho­be­nen und viel­fach pri­vi­le­gier­te Stel­lung, die ihm – auch und ge­ra­de im eu­ro­päi­schen Ver­gleich – eine jahr­zehn­te­lang, bis 1918, er­folg­rei­che De­fen­si­ve wei­ter er­mög­lich­te. Und die Bü­ro­kra­tie ge­wann dank der Kräf­te­fi­gu­ra­ti­on, […], eine Viel­zahl von neuen Ein­fluss- und Durch­set­zungs­chan­cen, wel­che die an­geb­lich all­mäch­ti­ge Bü­ro­kra­tie des Vor­märz als eine ein­ge­eng­te, stüm­per­haft aus­ge­bil­de­te Früh­form er­schei­nen ließ.

4. Cha­ris­ma­ti­sche Herr­schaft war eine durch und durch neue Er­fah­rung für die Preu­ßen und die Deut­schen im Nord­deut­schen Bund und Kai­ser­reich. Immer ist der Cha­ris­ma­ti­ker ein Ge­schöpf der Krise, immer ge­winnt er seine Ex­klu­si­vi­tät aus ihrer Meis­te­rung. Aber wel­cher Glanz umgab Bis­marcks cha­ris­ma­ti­sche Herr­schaft, nach­dem unter sei­ner Füh­rung in­ner­halb von nur sechs Jah­ren drei Krie­ge ge­won­nen, der Ver­fas­sungs­kon­flikt ent­schie­den und das Reich ge­grün­det wor­den waren. Zwan­zig Jahre lang ist die In­ku­ba­ti­ons­zeit der reichs­deut­schen Po­li­tik, des reichs­deut­schen po­li­ti­schen Den­kens, der reichs­deut­schen po­li­ti­schen Kul­tur durch Er­fah­run­gen mit die­ser cha­ris­ma­ti­schen Herr­schaft zu­tiefst ge­prägt wor­den. […] Ist nicht wegen die­ser Grund­er­fah­rung mit Bis­marck, […], die deut­sche po­li­ti­sche Men­ta­li­tät für eine do­mi­nie­ren­de Per­sön­lich­keit in der Po­li­tik be­son­ders an­fäl­lig ge­blie­ben, wie das die be­ju­bel­te Herr­schaft des zwei­ten Cha­ris­ma­ti­kers seit 1933 un­ter­streicht?“

Text 3:
Hein­rich Au­gust Wink­ler: Der lange Weg nach Wes­ten II. Deut­sche Ge­schich­te vom „Drit­ten Reich“ bis zur Wie­der­ver­ei­ni­gung 1933-1990, Mün­chen 2000, S. 640-648

„Gab es ihn oder gab es ihn nicht, den um­strit­te­nen „deut­schen Son­der­weg“? […] Die Frage lässt sich nicht be­ant­wor­ten, wenn wir nur auf die letz­ten bei­den Jahr­hun­der­te bli­cken. Des­halb setz­te der erste Band sehr viel frü­her ein, […] näm­lich bei den drei Grund­tat­sa­chen, die die deut­sche Ge­schich­te bis 1945 prä­gen: dem Hei­li­gen Rö­mi­schen Reich und dem Reichs­my­thos, der Glau­bens­spal­tung im 16. Jahr­hun­dert und dem Dua­lis­mus zwi­schen den bei­den deut­schen Groß­mäch­ten, Ös­ter­reich und Preu­ßen.

Im Ver­hält­nis zu West­eu­ro­pa, und nur im Hin­blick auf die­ses Ver­hält­nis ist in der wis­sen­schaft­li­chen und der all­ge­mei­nen öf­fent­li­chen Dis­kus­si­on von einem „deut­schen Son­der­weg“ die Rede, fällt eine dop­pel­te Ver­spä­tung ins Auge: Deutsch­land wurde sehr viel spä­ter als bei­spiels­wei­se Eng­land und Frank­reich ein Na­tio­nal­staat und noch viel spä­ter eine De­mo­kra­tie. Das Alte Reich, das Hei­li­ge Rö­mi­sche Reich Deut­scher Na­ti­on, war kein Staat und schon gar kein Na­tio­nal­staat, der Deut­sche Bund der Jahre 1815 bis 1866 eben­so­we­nig. Der erste Ver­such der Deut­schen, einen frei­heit­lich ver­fass­ten Na­tio­nal­staat zu schaf­fen, schei­ter­te 1848/49 an einer Über­for­de­rung des deut­schen Li­be­ra­lis­mus. Es er­wies sich als un­mög­lich, Ein­heit und Frei­heit zu­gleich zu er­rin­gen. […]

Bis­marck löste die Ein­heits­fra­ge auf seine Weise: unter preu­ßi­scher Füh­rung und gegen Ös­ter­reich. Für Eu­ro­pa war die „klein­deut­sche“ Lö­sun­gal­le­mal er­träg­li­cher als jed­we­de „groß­deut­sche“ Lö­sung, die das eu­ro­päi­sche Gleich­ge­wicht noch­sehr viel stär­ker zu­guns­ten Deutsch­lands ver­än­dert hätte. Die Ein­heits­fra­ge muss­te ge­löst wer­den: So sah es je­den­falls die öf­fent­li­che Mei­nung Deutsch­lands im Jahr­zehnt vor 1871. Die Grün­dung eines deut­schen Na­tio­nal­staats be­deu­te­te zu­nächst ein­mal ein Stück Ver­west­li­chung oder Nor­ma­li­sie­rung: Die Deut­schen un­ter­schie­den sich, […] von den Na­tio­nal­staa­ten West­eu­ro­pas we­ni­ger als zuvor.

In an­de­rer Hin­sicht aber waren die Un­ter­schie­de zum Wes­ten nach wie vor tief. Denn Bis­marcks „Re­vo­lu­ti­on von oben“ hatte nur die Ein­heits­fra­ge, nicht aber die Frei­heits­fra­ge ge­löst. Das deut­sche Kai­ser­reich war eine kon­sti­tu­tio­nel­le , keine par­la­men­ta­ri­sche Mon­ar­chie und selbst der Kon­sti­tu­tio­na­lis­mus war be­grenzt. […]

Es gab einen „deut­schen Son­der­weg“. Es war der lange Weg eines tief vom Mit­tel­al­ter ge­präg­ten Lan­des in die Mo­der­ne. Die teil­wei­sen Über­win­dun­gen des Mit­tel­al­ters, die Deutsch­land zu­we­ge brach­te, las­sen sich auch als teil­wei­se Mo­der­ni­sie­run­gen be­schrei­ben. Was vom Mit­tel­al­ter blieb, stand neben dem, was mo­dern war […]. Das galt vom Bis­marck­reich und auf an­de­re, nur noch dia­bo­lisch zu nen­nen­de Weise vom Drit­ten Reich. Hit­lers Herr­schaft war der Gip­fel­punkt der deut­schen Auf­leh­nung gegen die po­li­ti­schen Ideen des Wes­tens, mit dem Deutsch­land kul­tu­rell und ge­sell­schaft­lich doch so vie­les ver­band. Nur vor dem Hin­ter­grund die­ser Ge­mein­sam­kei­ten lässt sich über­haupt von einem „deut­schen Son­der­weg“ spre­chen.“

Ein deut­scher Son­der­weg: Her­un­ter­la­den [docx][17 KB]