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Re­zen­si­on

Hut­chens, David
The Lem­ming Di­lem­ma Li­ving with Pur­po­se, Lea­ding with Vi­sio­nil­lus­tra­ted by Booby Gam­bert, Walt­ham
MA 2000: Pe­ga­sus Com­mu­ni­ca­ti­ons


Nimmt man Hut­chens Buch zur Hand, fragt man sich zu­nächst, warum sich Füh­rungs­kräf­te mit einer ge­fäl­lig er­zähl­ten, il­lus­trier­ten Ge­schich­te vom Lem­ming­mäd­chen Emmy be­schäf­ti­gen sol­len.

Bei den Lem­min­gen gibt es die außer von Emmy nicht hin­ter­frag­te Tra­di­ti­on, sich nach einer ge­wis­sen Zeit von den Klip­pen in den Tod zu stür­zen. Im Ge­gen­satz zu den meis­ten an­de­ren Lem­min­gen stellt Emmy vor­her nie da­ge­we­se­ne Fra­gen wie z.B. Warum sprin­gen wir von den Klip­pen? Was pas­siert, nach­dem wir ge­sprun­gen sind? Emmy stößt nicht nur bei ihren Freun­den auf Un­ver­ständ­nis, denn diese neh­men die Tra­di­ti­on ohne nach­zu­den­ken hin, noch bei den Füh­rungs­kräf­ten be­zie­hungs­wei­se den Äl­tes­ten ihrer Grup­pe, die zwar bei einer Ma­nage­ment-Be­ra­tungs­fir­ma das "Lem­ming-Pur­po­se-State­ment" in Auf­trag geben, je­doch auch keine Ant­wort auf Emmys Fra­gen haben. Trotz der schein­bar völ­li­gen Ak­zep­tanz gibt es zu Emmys Er­stau­nen ei­ni­ge we­ni­ge Gleich­ge­sinn­te.

Als das große Sprung­fest statt­fin­det, zeigt sich die große Sog­wir­kung der Tra­di­ti­on, die selbst ihre Geg­ner ver­an­lasst, sich dem all­ge­mei­nen To­des­sturz an­zu­schlie­ßen. Auch Emmy, die sich eine Schleu­der ge­baut hat, um den Ab­grund zu über­win­den, lässt in Er­in­ne­rung an ihre ver­trau­te Um­ge­bung und aus Angst vor Neuem fast von ihrem Vor­ha­ben ab. Als sie es doch wagt, über­win­det sie nicht nur das Tal zwi­schen den Klip­pen, son­dern er­kennt auch, dass die an­de­ren Lem­min­ge be­züg­lich der Fol­gen ihres Tuns be­lo­gen wur­den.

An diese fünf Ka­pi­tel schließt sich ein sehr ame­ri­ka­nisch an­mu­ten­der Epi­log an, in dem ge­zeigt wird, wie sich, aus­ge­löst durch Emmy Bruch mit der Tra­di­ti­on, das Leben der Lem­min­ge grund­le­gend ge­än­dert hat.

Hut­chens zeigt mit die­ser il­lus­trier­ten Ge­schich­te ei­ner­seits, dass es keine ge­schlos­se­nen Sys­te­me gibt und an­de­rer­seits wie schwie­rig es ist, gegen tra­dier­tes Ver­hal­ten an­zu­ge­hen. Am Bei­spiel Emmy zeigt Hut­chens auch, dass es dar­auf an­kommt, für sich selbst zu klä­ren, wer man ist und was man will, wel­che Vi­si­on man ver­wirk­li­chen möch­te, und sich nicht von an­de­ren er­klä­ren zu las­sen, wer man sein soll­te. Au­ßer­dem zeigt sich, dass Neu­gier und die Be­reit­schaft, Neues aus­zu­pro­bie­ren und Altes in Frage zu stel­len, den ei­ge­nen Ho­ri­zont er­wei­tern, und ganz neue Hand­lungs- und Ge­stal­tungs­mög­lich­kei­ten er­schlie­ßen kann. Ent­schei­dend für diese Klä­run­gen ist die Kom­mu­ni­ka­ti­on. Doch die­ser Weg ist schwie­ri­ger als die nicht hin­ter­frag­te Über­nah­me von Tra­di­tio­nen, die es einem er­mög­li­chen, ein Teil der Masse zu sein, ohne über sich selbst nach­den­ken zu müs­sen. Am Bei­spiel von Emmy, die mit der Tra­di­ti­on bricht und etwas Neues wagt, zeigt Hut­chens, dass die Hand­lung eines jeden Ein­zel­nen aus­reicht, um ein So­zio­sys­tem zu ver­än­dern.

Doch der Autor be­gnügt sich nicht mit den Er­kennt­nis­sen, die sich aus der Ge­schich­te Emmys ab­lei­ten las­sen, son­dern in einem 20-sei­ti­gen An­hang wird die Ge­schich­te von der zu­grun­de lie­gen­den Theo­rie her be­leuch­tet.

Hut­chens for­dert den Leser zur Be­ant­wor­tung einer Reihe von Fra­gen auf etwa "Warum stren­gen sich man­che Leute sehr an, pro­du­zie­ren aber in ihrem Leben nur we­ni­ge er­wünsch­te Re­sul­ta­te?" (S.65)

Auf der Ebene der Or­ga­ni­sa­ti­on lenkt der Autor das Au­gen­merk des Le­sers auf lea­dership, das es er­mög­li­chen soll, dass sich die Un­ter­ge­be­nen den Sinn ihres Tuns hin­ter­fra­gen, was sie im güns­tigs­ten Fall zu per­so­nal mas­te­ry bringt.

In Bezug auf die Ge­schich­te legt der Autor dar, wie wir uns von den uns um­ge­ben­den ex­ter­nen und in­ter­nen Struk­tu­ren von er­wünsch­ten Än­de­run­gen ab­hal­ten las­sen und dass wir nur unter der Vor­aus­set­zung, dass wir diese Struk­tu­ren er­ken­nen, zu den er­wünsch­ten Än­de­run­gen kom­men kön­nen. Eine ober­fläch­li­che Kor­rek­tur - wie etwa die reine An­ti­hal­tung der Sprung­geg­ner - reicht nicht.

Unter Be­zug­nah­me auf das Werk The Path of Least Re­sis­tan­ce von Ro­bert Fritz er­läu­tert der Autor, wie nur durch den Bau neuer Struk­tu­ren, nicht durch kos­me­ti­sche Kor­rek­tu­ren an der Ober­flä­che der im po­si­ti­ven Wort­sinn Weg des ge­rings­ten Wi­der­stan­des be­schrit­ten wer­den kann. Um ihn be­schrei­ten zu kön­nen, be­nö­ti­gen wir eine struk­tu­rel­le Span­nung, die uns von der der­zei­ti­gen Rea­li­tät in den er­wünsch­ten zu­künf­ti­gen Zu­stand ka­ta­pul­tiert, ähn­lich wie Emmy in der Ge­schich­te. Al­ler­dings darf man nicht auf der rei­nen Re­ak­ti­ons­ebe­ne ste­hen blei­ben, son­dern muss krea­tiv mit un­er­wünsch­ten Si­tua­tio­nen um­ge­hen kön­nen. Dazu ist, so der Autor, die Frage nach Zie­len ("Pur­po­se") auf der einen Seite ("Why do I exist?") und nach Vi­sio­nen ("Vi­si­on") auf der an­de­ren Seite ("What do I want to crea­te?") un­er­läss­lich. Dabei ist es wich­tig, den Weg zur Er­rei­chung des Ziels nicht mit dem Ziel selbst zu ver­wech­seln.

Hut­chens geht von den Zie­len über zu den Vi­sio­nen, dem an­ge­streb­ten zu­künf­ti­gen Zu­stand ("de­si­red fu­ture state"), dem Baum auf der an­de­ren Seite des Ab­grunds n der Lem­ming-Ge­schich­te. Vi­sio­nen sind spe­zi­fisch und klar er­kenn­bar ("spe­ci­fic and cle­ar­ly re­co­gniz­able"), und sie sind etwas, das man will, nicht etwas, das man nicht will ("so­me­thing you want - not so­me­thing you don’t want). Für den Autor ist dabei die Ziel­ori­en­tie­rung be­son­ders wich­tig, und er bil­ligt dem ei­ge­nen Wil­len eine nicht wei­ter hin­ter­frag­ba­re fast spi­ri­tu­el­le Qua­li­tät zu. An­hand von Bei­spie­len aus der Lem­ming-Ge­schich­te und dem täg­li­chen Leben zeigt Hut­chens, wie Ziele und Vi­sio­nen die stärks­ten Kräf­te ent­fal­ten, wenn sie zu­sam­men auf­tre­ten. Als schwie­rig be­schreibt er die Auf­recht­er­hal­tung der Span­nung ("Ten­si­on Main­ten­an­ce"), mit deren Hilfe man sich von der mo­men­ta­nen Wirk­lich­keit zum er­wünsch­ten zu­künf­ti­gen Zu­stand ka­ta­pul­tie­ren las­sen kann. Beim Nach­las­sen der Span­nung müs­sen wir uns immer wie­der fra­gen: "Wo will ich sein? Und wo bin ich jetzt?"

Am Ende be­tont der Autor noch­mals den krea­ti­ven As­pekt bei der ei­ge­nen Le­bens­ge­stal­tung, bei der die ers­ten Fra­gen lau­ten: "Warum bin ich hier? Und was will ich schaf­fen?"

Die Prin­zi­pi­en per­sön­li­cher Meis­ter­schaft ("prin­ci­ples of per­so­nal mas­te­ry"), die der Autor in sei­nem Buch auf der Ebene des In­di­vi­du­ums un­ter­sucht, las­sen sich auch auf die Ebene von Or­ga­ni­sa­tio­nen über­tra­gen. In einer sich ver­än­dern­den Welt, in der die Schu­le immer mehr zur "ler­nen­den Or­ga­ni­sa­ti­on" wird und von Füh­rungs­kräf­ten im Schul­be­reich "päd­ago­gi­sches lea­dership" und "per­so­nal mas­te­ry" er­war­tet wird, sind Hut­chens Aus­füh­run­gen über das Zu­sam­men­spiel von Ziel und Vi­si­on si­cher­lich auch für Füh­rungs­kräf­te in­ter­es­sant und nütz­lich.

Ins­ge­samt han­delt es sich trotz einer sehr ame­ri­ka­ni­schen, weil letz­ten Endes über­op­ti­mis­ti­schen Ori­en­tie­rung, um ein Buch, das man mit Ge­winn lesen wird.

Bir­git Ja­e­ger-Goll­wit­zer, Aka­de­mie­re­fe­ren­tin