Stammbaumrekonstruktion
Infobox
Diese Seite ist Teil einer Materialiensammlung zum Bildungsplan 2004: Grundlagen der Kompetenzorientierung. Bitte beachten Sie, dass der Bildungsplan fortgeschrieben wurde.
Stammbaumrekonstruktionen sind das Ergebnis naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinns
Auch die phylogenetische Systematik folgt in ihrem Erkenntnisgewinn dem Weg der Naturwissenschaften. Beobachtungen führen zu einer verallgemeinerten Aussage über einen Sachverhalt. Diese begründete Aussage kann auch als vorläufige Antworten auf Fragen an die Natur verstanden werden, sie stellt somit eine wissenschaftliche Hypothese dar, die Voraussagen zulässt und getestet werden kann.
Natürliche Verwandtschaftsverhältnisse im Sinne der phylogenetischen Systematik werden in Form von Stammbäumen rekonstruiert. Stammbäume sind als Hypothesen zu verstehen, also als vorläufige Antworten auf Fragen nach den verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Organismen. Synapomorphien sind die entscheidenden Übereinstimmungen zwischen Organismen, auf deren Basis ein Stammbaum errichtet werden kann. Damit eine Ähnlichkeit zwischen Organismen als Synapomorphie bestätigt werden kann müssen folgende beide Punkte geklärt werden:
- Handelt es sich bei der nachgewiesenen Übereinstimmung um eine Plesiomorphie oder eine Apomorphie? Hier kann der Außengruppenvergleich zur Klärung beitragen.
- Stellt sich heraus, dass die Übereinstimmung eine Apomorphie darstellt, ist noch zu klären ob es sich dabei um eine Synapomorphie (einmalige Evolution des Merkmals) oder Konvergenz (mehrfach unabhängige Evolution des Merkmals) handelt. Wenn eine Klärung dieser Frage über eine Prüfung durch die Homologiekriterien nicht gelingt, können wir mit dem Prinzip der sparsamsten Erklärung eine Entscheidung treffen.
Das Prinzip der sparsamsten Erklärung ( Sparsamkeitsprinzip, Prinzip der Denkökonomie, Principle of Parsimony ) ist ein methodologisches Hilfsmittel, das zum Vergleich von Hypothesen Verwendung findet. Dieses Prinzip soll bei der Lösung folgender Frage helfen:
Wenn sich zwei oder mehrere Hypothesen dazu eignen, einen Sachverhalt zu erklären, welcher dieser Hypothesen soll dann der Vorzug vor den anderen möglichen Hypothesen gegeben werden?
Der Theologe und Philosoph Willhelm Ockham (ca. 1280–1349) hat diese Frage folgendermaßen beantwortet:
„ Wenn sich ein Phänomen durch mehrere Hypothesen erklären lässt, so ist der „sparsamsten“ der Vorzug zu geben, sofern nicht andere Befunde dagegen sprechen. “ („pluralistas non est ponenda sine necessitate“ = „man soll also nicht ohne Notwendigkeit eine Vielheit annehmen, wenn man auch mit weniger auskommt.“)
Das Prinzip der sparsamsten Erklärung bedeutet aber nicht, dass die Bevorzugung der einfachsten Erklärung dasselbe ist wie die Annahme, dass ein einfacherer Prozess wahrscheinlicher sei als ein umständlicher. Verlangt wird eine „Minimalerklärung“: Was ist an Annahmen mindestens notwendig, damit eine beobachtete Erscheinung vollständig und widerspruchsfrei erklärt wird.
Die Gültigkeit des Prinzips der sparsamsten Erklärung kann nicht bewiesen werden. Es hat sich aber im Gebrauch bewährt.
Für unseren Sachverhalt bedeutet dies folgendes:
Die Alternativen „einmalige Evolution eines Merkmals“ (Synapomorphie) oder „mehrfach unabhängige Evolution eines Merkmals“ (Konvergenz) führen zwangsläufig zu verschiedenen Verwandtschaftshypothesen. Im Sinne des Prinzips der sparsamsten Erklärung würde man diejenige Verwandtschaftshypothese als die Wahrscheinlichste ansehen, welche die geringste Anzahl an Evolutionsereignissen benötigt um die Verteilung aller Merkmale zu erklären. Damit wird die Entscheidung, ob ein Merkmal als Synapomorphie oder Konvergenz angesehen werden soll, durch eine Plausibilitätsabwägung bestimmt.
Das Prinzip der sparsamsten Erklärung rechtfertigt auch folgende Entscheidung: Ist ein Monophylum durch mehrere Synapomorphien identifiziert und stellt man nun eine apomorphe Übereinstimmung eines Taxons mit einem Taxon außerhalb des Monophylums fest, so wird man den Synapomorphien mehr Gewicht zumessen und die apomorphe Übereinstimmung als Konvergenz betrachten.
Das Beispiel der eierlegenden und lebendgebärenden Säugetiere (Mammalia) wurde bereits in der Datei „321 Phylogenetische Systematik“ thematisiert. Hier soll es nochmal dazu dienen das Prinzip der sparsamsten Erklärung zu verdeutlichen. Wäre das Merkmal lebendgebärend ursprünglich (s. Stammbaumhypothese 1), so müsste das Merkmal eierlegend zweimal unabhängig voneinander (konvergent) entstanden sein. Nimmt man das Merkmal eierlegend als ursprüngliches Merkmal an (s. Stammbaumhypothese 2), so lässt sich der Stammbaum der Mammalia mit nur einer Apomorphie erklären. Im Sinne des Prinzips der sparsamsten Erklärung würde man diejenige Verwandtschaftshypothese als die Wahrscheinlichste ansehen, welche die geringste Anzahl an Evolutionsereignissen benötigt.
Abbildung 1: Stammbaumhypothese 1 |
Abbildung 2: Stammbaumhypothese 2 |
Stammbaumrekonstruktion:
Herunterladen
[pdf]
[476 KB]
Stammbaumrekonstruktion: Herunterladen [docx] [77 KB]